Unser Urlaub tretete in seine zweite Hälfte über. Wir bekamen
langsam Heimweh und meine Schwiegereltern waren schon sichtbar müde von dem
ungewohnten Tagesverlauf. Andererseits … wer weiß, wann wir uns wiedersehen.
Das machte uns alle ein wenig traurig. Also machten wir aus den letzten Tagen
einfach etwas Schönes.
Das Wetter änderte sich schlagartig. Bis Mitte der Woche war
es noch kalt, dann aber brach der Frühling aus. Die Kinder versuchten noch das
Beste daraus zu machen, allerdings taute es sehr schnell. Die Schneemänner
waren über Nacht verschwunden, der inzwischen lieb gewonnener Tübing wurde
unmöglich. Und noch schlimmer: Mit der Wärme wurden die Straßen praktisch
unpassierbar. Wahre Reißströmungen sausten über alle Wege, der Hof verwandelte
sich in einen riesigen Teich mit einer dünnen Schicht Eis darauf und alle
bekannten Pfade waren binnen zwei Tagen versunken. Wir saßen zu Hause wie in
der Falle und hatten nur den Fernseher, DVD-Player und Gesellschaftsspiele zur
Unterhaltung.
Was mich noch bestürzte, waren die Berge von Müll, die
plötzlich unter dem Schnee hervortraten. Die früher makellos weiße Straße
verwandelte sich in ein hässliches Bild voll von Chaos und Abfall. „Blüten“
nennt man das hier. Im Zentrum der Stadt arbeitete rege der Straßendienst,
weiter zum Stadtrand aber beachtete keiner den Müll unter den Füßen.
In dieser etwas bedrückten Stimmung warteten wir den
Freitagabend ab. Da sollten nämlich unsere Freunde kommen, um sich von uns zu
verabschieden. Am Sonntagmorgen ging es dann für uns Richtung nach Hause.
Den ganzen Freitag haben wir mit den Vorbereitungen für den
Besuch verbracht. Die berühmte russische Gastfreundschaft hat ihren Preis. Den
ganzen Tag wurde aufgeräumt und gekocht. Auf dem Tisch sollte auch an nichts
fehlen. Dann kam der Abend. Es wurde dunkel und wir schauten besorgt ab und zu
aus dem Fenster. Ob unseren Freunden etwas zugestoßen war? Bei dem
Straßenzustand wäre das gar nicht wunderlich. Zum Glück passierte das „Etwas“
direkt unter unseren Fenstern. Da war diese heikle Stelle auf dem Hofweg, die
sogar im Sommer für Spannung unter den Autofahrern sorgte. Jetzt im Winter war
es geradezu gefährlich da durchzufahren. Die Fahrer hatten aber keinen anderer
Wahl. Das war eine scharfe Kurve, wobei die Straße steil runter, dann rechts
und dann geradeaus ging. Auf diese Weise
entstand quasi ein Knick. In seinem tiefsten Punkt lag der Abflussgitter für
Regenwasser. Da der Abflusskanal aber dauernd verstopft war, stand da permanent
Wasser hoch. Im Sommer lag die größte Schwierigkeit daran, dass man beim Durchfahren
möglichst keine Autoteile auf der Fahrbahn liegen lassen würde. Im Winter wurde
die ganze Sache mit einer Schicht Schnee und Eis verdeckt, sodass die Fahrbahn
einigermaßen „geglättet“ war. Im Frühling aber erlebt man bei der Durchfahrt
jedes Mal eine Überraschung. Wasser? Eis? Wie tief? Wer weiß … Da unsere
Freunde ein Allradfahrzeug haben, haben wir uns deswegen keine Sorgen gemacht.
Dies sollte aber das erste Mal sein, wo ich erleben dürfte, dass auch
grenzenlose technische Möglichkeiten ihre Grenzen hatten. Das Auto blieb genau
an dieser Stelle stecken. Nach ein paar Minuten wurde uns klar, die kommen da
nicht allein raus. Mein Mann und mein Schwiegervater zogen sich schnell an und
eilten zur Hilfe. Meine Freundin mit ihrer Tochter kam zu Fuß zu uns und wurden
prompt fast bis zu den Knien nass. Zum Glück waren wir schon darauf
vorbereitet. Das Auto wurde aus dem Matsch herausbefördert und alle waren
schnell umgezogen, warm eingepackt und an den buchstäblich zusammenbrechenden
Tisch gesetzt. Das Essen stellte sich als ein mehrstündiger Job dar. Auf jeden
Fall haben die Kinder bis zum Kuchen nicht geschafft. Sie schliefen kurz vor
der Mitternacht ein. Die Eltern haben sich diskret zurückgezogen und wir
blieben unter uns.
Es wurde gesprochen, gesungen und gelacht. Es war ein schöner
Abend, oder besser gesagt, eine schöne Nacht. Die Uhr zeigte kurz nach drei als
wir endlich ins Bett gegangen sind. Unsere Männer haben sich etwas bei dem
Alkoholkonsum vertan und ließen sich nur schwer beruhigen. Wahrscheinlich haben
sie sich so über das Wiedersehen gefreut, dass sie während dieser zwei Wochen
die entgangene vierzehn Jahre nachholen wollten. Verständlich, aber
folgenschwer. Das hatten sie am nächsten Morgen am eigenen Leib erfahren. Der
sonnige Vormittag, der uns alle so freute, würden sie am liebsten unter einer
Decke in einem dunklen Zimmer verbringen. Das Gefallen haben wir ihnen aber
nicht getan: frische Luft kuriert jeden Kopfschmerzen, auch bei dem Kater.
Da wir auch in zwei Autos nicht gepasst hätten - die Cousine
meines Mannes mit ihrer Tochter hat sich uns angeschlossen - haben wir uns für
einen Busfahrt entschieden. Die plötzlich eingebrochene Wärme hat die Straßen
zuerst in reißende Ströme, dann in matschige Sümpfe verwandelt. Die "Einheimische"
schenkten dieser Tatsache keine besondere Achtung und wateten oder hüpften über
die Pfützen und Matsch. Wir erinnerten uns langsam und schmerzlich an diesen
ungewohten (oder abgewöhnten) Übungen und hüpften hinterher. Die Kinder waren
über dieser Strassenzustand gleichermaßen entsetzt wie fasziniert. An der
Haltestelle haben sie versucht,einem kleinen Bächlein zu folgen, waren aber
prompt bis zu den Knöcheln im Matsch versunken und haben ihre Absichten
aufgegeben.
Nach einem viertelstündigen Busfahrt sind wir im Stadtzentrum
angekommen. Wir wollten einen Besichtigungsturm besuchen. Es wurde vor zwei
Jahren als ein Museum der Stadt gebaut. Der Turm ist schmal gebaut, mit einer
Wendetreppe und zwei Besichtigungsplattformen in zwei verschidenen Höhen. So wollte
es der Zufall, dass der Turm 184m hoch ist, und genau 184 Stufen hat. Und er
wurde in genau 184 Tagen errichtet. Die Besucher werden von einer netter
Führerin begleitet, die die Geschichte der Stadt und des Turms erzählt. Auf der
ersten Plattform befindet sich ein Fotostand, wo jeder Tag der Turmbau
festgehalten wurde. Auf der kleinenen
Zwischenplattform ist ein winziger Souveniersladen eingebaut. Da haben wir für
die Kinder wunderschöne bunte Stifte in Form einer Matrjoschka gekauft und ein
Paar Schlüsselanhänger aus hiesigen Halbedelsteinen als ein Mitbringsel. Und
ich habe mir ein wunderbares Buch mit alten Sagen gekauft. Aber am meisten
haben mir die silbernen Glöckchen gefallen. Die hatten je nach der Größe alle
anderen Ton und klangen so fein und zart. Ihre Oberfläche war mit der feinsten
Gravour bedeckt. Leider waren sie auch teuer, sodass ich keinen kaufen konnte.
Auf der nächsten Plattform war ein kleines Museum: ein altes
Esszimmer. Wir haben grade eine Schülerführung (die Schulen in Russland haben
um diese Zeit keine Ferien) erwischt und dürften mithören. Es wurde über den
Tischordnung und alte Traditionen erzählt.
Ganz oben befindet sich ein Plattform mit einer großen Glocke.
Um da zu gelangen, mussten wir eine ziemlich steile Treppe erklimmen und in
eine schmale Lücke oben im Dach steigen. Ich bin nicht schwindelfrei und habe
mich immer weit von dem Gelände gehalten, was auf der kleinen Terasse kaum
möglich war. Aber die Aussicht war atemberaubend. Die Stadt unten lag wie auf
dem Teller. Um die Stadt herum standen die uralte Berge, wie grauhaarige alte
Krieger. Leichter Dunst über den Bergen war mit Sonnenstrahlen durchgezogen und
der restliche Schnee auf den Bergenspitzen glitzerte im Sonnenschein. Der
Frühling war hoch oben noch nicht angekommen.
Man muss noch die Glocke extra erwähnen. Der Turm wurde gänzlich
dank der Spenden der Stadteinwohner und der Baufirma, die diesen Auftrag
ausgeführt hat, gebaut. Die Glocke wurde als ein Extraauftrag gefertigt. Ihre
Oberfläche ist mit kunstvoller Gravur bedeckt, die meistens verschiedene
orthodoxe Heiligen darstellt. Aber am Rande der Glocke sind alle Namen der
Spender eingraviert. So wollte die Stadt sich an den Menschen bedanken. Man
sagt, dass, wenn man die Glocke läutet und sich etwas wünscht, geht der Wunsch
in Erfüllung. Es mag stimmen, aber keiner von uns wollte das testen. Eins kann
ich sagen: wenn wir das gemacht hätten, bekämen wir von dem lauten Klang
garantiert Kopfschmerzen, und das wünschte sich keiner.
An den Turm ist noch eine kleine Kirche angebaut. Eine
orthodoxe Kirche darf eine Frau nur mit bedecktem Kopf betreten. Zum Glück
hatte ich ein Halstuch dabei. Still betraten wir die Kirche. Sie war neu, in
hellen Gold- und Holzfarben gehalten und mit schönen Ikonen ausgestattet. Die
orthodoxen Kirchen haben mich schon immer fasziniert. In dem kleinen Raum
mischte sich Sonnenschein mit Kerzenlicht und Wachsgeruch, was eine
unverwechselbare ruhige und friedliche Atmosphäre schaffte. Man fühlte sich wunderbar ruhig. Wenn ich die Macht dazu hätte, würde ich eine
alte Tradition aufleben lassen. Wenn man sich in einer Krise befand, ging man
in eine Kirche - oder in ein Kloster für kurze Zeit - und man hat nachgedacht
und gebetet. Das beruhigt die aufgewühlte Seele und bring die Fähigkeit zurück,
vernünftige Entscheidungen zu treffen.
Als wir aus der Kirche traten, wartete auf uns schon die
nächste Überraschung. Auf dem Kirchenplatz stand ein Mann mit einem Pferd. Für
ein kleines Entgelt konnte man eine Runde reiten. Das Pferd sah ziemlich betagt
aus, aber unsere Kinder waren sofort hin und weg. Da existierte nichts mehr
außer diesem wunderbaren Ross. Natürlich haben wir uns überreden lassen,
natürlich dürften die Kinder reiten. Vor allem hat sich unsere Kleine riesig
gefreut: Das war ihr Traum, ein Pferd zu reiten. Leider ist ein Reitunterricht
für uns unerschwinglich. Dann eben jetzt ein kleiner Ritt. Als unsere Jüngste
sich in den Sattel hievte und dann ihre Runde glücklich abgeschlossen hatte,
hat der Pferdebesitzer erstaunt gefragt, ob sie schon geritten hatte. Nein,
haben wir erwidert, aber sie hat Genetationen von Vorfahren im Blut, die
Jahrhunderte lang im Sattel verbracht haben (mein Mann ist ein Tatare, dieses Volk war bis vor 200 Jahren noch ständig unterwegs) . Da unsere ältere Tochter keine
animalische Neigungen hat, hat wohl die Jüngste die ganze Wucht des wilden Lebens
ihrer Vergangenheit abbekommen.
Und so kehrten wir nach Hause glücklich und traurig zugleich.
Traurig, weil nun unser Abschied bevorstand. Wer weiß für wie lange.
Abschied
Alles kommt früher oder später zu seinem Ende. Auch diese
wunderbaren zwei Wochen sind zu Ende gegangen. Also stand der Abschied bevor.
Die Gäste waren am Nachmittag abgereist. Unsere Freunde haben
uns fest versprochen, uns nächstes Jahr zu besuchen. Ich freue mich schon
darauf.
Unser Flug startete am frühen Sonntagmorgen. Da wir noch ca.
vier Stunden bis zum Flughafen brauchten, haben wir uns entschieden, schon am
Samstag gegen Mitternacht zu fahren. Die Sachen waren gepackt und im Auto
verstaut. Wir – betrübt und irgendwie müde. Meine Schwiegereltern verbrachten
die letzten Stunden mit den Mädchen. Wenn sie sie wiedersehen, werden die
beiden bestimmt schon jungen Damen sein. In diesen Momenten spürt man die
Entfernung besonders heftig.
Gegen Mitternacht ging es los. Mein Schwiegervater, der uns
zum Flughafen bringen musste, machte letzten Autochek. Letzte Umarmung, letzter
Kuss, letzte Worte. Die Reste von Schnee knirschten unter unseren Füssen. Das
Auto wendete und meine Schwiegermutter blieb in der Dunkelheit hinter uns.
Die Kinder waren bald eingeschlafen. Ich schaute traurig aus
dem Fenster. Die Landschaft, die ihre weiße Zauber verloren hatte, sah beinah
bedrohend aus. Die Straße barg Dutzende Gefahren. Der Schnee verschwand, der
Winter hinterließ tiefe Gruben und ungeahnte Wellen auf dem abgenutzten
Asphalt. Mein Schwiegervater kann auch in der Dunkelheit schlecht sehen,
deshalb blieb mein Mann auf der Hut. Er durfte leider nicht selbst ans Steuer,
weil er die Straße nicht kannte und, falls wir der Miliz den Weg kreuzten, es
Schwierigkeiten wegen seinen europäischen Führerschein gäbe. Irgendwann
schlummerte ich ein, aber die Hüpfübungen von unserem Auto, die die Kinder
überhaupt nicht zu spüren schienen, weckten mich immer wieder auf.
Mit kleinem Umweg und in aller Frühe sind wir am Flughafen
angekommen. Es war menschenleer und erstaunlich sauber. Mein Schwiegervater hat
mit uns noch ein paar Minuten verbracht und machte sich auf den Heimweg. Nun
ging es nach Hause.
Der Rückflug ist fast ohne besondere Ereignisse verlaufen. Nur
beim Zwischenstopp wurde unser Flug wieder mal verschoben. Diesmal aber nur um
vierzig Minuten. Und bei der Landung in Deutschland wurden wir gründlich
durchgeschüttet. Die Ursache dafür war ein starker Seitenwind. Die Kinder waren
von den Empfindungen glatt begeistert. Mich quälten ganz andere Gefühle: Mein
Magen ging auf die Reise und das machte mir echt zu schaffen. Und dann …
Die Flugzeuglücke ging auf und wir fanden uns mitten im
Sommer. Sonne, Wärme und fast heimisch wirkender Flughafen. Himmlisch!
Auf unseren Abholdienst mussten wir leider eine halbe Stunde
warten. Es gab da einige Missverständnisse. Das verdirb uns aber nicht die
„Zuhause“-Laune. Wir wurden zu unserem Wagen gebracht und sind Richtung Heim
aufgebrochen.
Zu Hause standen wir mitten in unserem Wohnzimmer und wurden plötzlich
von einem seltsamen Gefühl gefasst: Uns allen war so, als ob wir eine Reise
zwischen zwei Dimensionen gemacht haben. Unsere Reise ähnelte auf einmal einem
Traum. Alles schien so unwirklich zu sein.
Ja, das waren zwei Wochen, die ruhig vier sein könnten. Sie
durchbrachen unser Alltag und waren alles andere als ein gewöhnlicher Urlaub.
Sie waren alles andere als beruhigend oder gar entspannend und doch sind wir
sehr entspannt und zufrieden zurückgekommen. Also … Vielleicht wage ich doch
noch eine Reise Richtung Heimatland …
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Olga Walter).
Der Beitrag wurde von Olga Walter auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.08.2009.
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Rapunzel in Puppengesprächen, Adoptivkinder auf Zeitreisen, Fragebögen, Bekundungen am Bauch der Sonne. Rätsel und Anspielungen, die uns, an Hand scheinbar vertrauter Muster, in die Irre führen. Florian Seidel hält seine Gedichte in der Balance zwischen Verschweigen und Benennen, zwischen Bekanntem und Unbekanntem. Jeden Augenblick könnte alles aus dem Gleichgewicht geraten, uns mitreißen, uns enden lassen in einem Augenblick der Verwirrung. Die in dem Gedichtband „Ein Tiger schleicht durchs Puppenhaus“ versammelten Texte schildern Suchbewegungen. Glückspiraten, Tiger, Jäger und andere Unbehauste in jenen Momenten, da die Realität Schlupflöcher bekommt und wir uns selbst im Spiegel sehen. Ein ungewöhnlich großes Sprachgefühl und vor allem die Bildhaftigkeit machen die Qualität dieser Lyrik aus.
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