Klaus-D. Heid

Wollen Sie etwa schon gehen?




„Sie wollen doch nicht schon aufbrechen? Möchten Sie nicht noch von unserem herrlichen Apfelkuchen probieren, den meine Frau extra für Sie gebacken hat...?“

Herr Wanninger sah verunsichert zu seiner Frau, die ihrerseits verunsichert zu ihrer siebenjährigen Tochter blickte. Wenn mich nicht alles täuschte, erkannte ich in den Augen des unruhig wirkenden Mädchens einen leichten Anflug von Ekel vor Apfelkuchen. Bitte, kleines Mädchen – hasse Apfelkuchen, ja? Gib deiner Mama und Deinem Papa zu verstehen, dass Du jetzt UNBEDINGT nach Hause willst. Und Sie, liebste Frau Wanninger, die Sie bereits unseren Erdbeerkuchen fast alleine verspeist haben, können doch unmöglich noch Appetit verspüren? Finden Sie nicht, dass es Ihrer Figur überaus schadet, wenn sie noch länger unser Gast sind?

„...aber nur noch ein Stückchen, lieber Herr Heid. Nur noch ein winziges Stückchen für jeden!“

Mist! Verdammt!

Du blödes dummes Mädchen! Hättest du nicht jammern und nörgeln können, weil du zuhause unbedingt irgendeinen Trickfilm sehen wolltest? Konntest du nicht ein bisschen an deine Gastgeber denken, die endlich ihre Ruhe haben wollen? Dir ist wohl jedes Mittel recht, um uns zu quälen, oder? Oder haben Dich Mama und Papa vor dem Besuch geimpft, dass Du auch ja keinen Mucks von Dir gibst?

„Wie schön, liebe Frau Wanninger! Es wäre doch zu schade, wenn unser kleiner Plausch bereits so früh am Abend beendet ist, nicht wahr?“

Jetzt konnte ich mir nicht verkneifen, das kleine ekelhafte Wanninger-Kind ein bisschen zu foppen:

„Warum singst Du uns denn nicht ein hübsches Liedchen vor, Kristina-Margareta? Deine Mama hat mir schon erzählt, dass Du im Singen die Beste Deiner Klasse bist...!“

Wenn das nun nicht für miese Stimmung sorgte, wusste ich mir auch nicht mehr zu helfen. Alle Kinder hasse es, vor wildfremden Leuten zu singen. Alle Kinder! Nun mach schon, Du Göre – und fang an zu heulen. Wenn Du erst mal mäkelig bist, wollen Deine Mama und Dein Papa garantiert nach Hause.

Zu meiner allergrößten Überraschung erhob sich das kleine Biest vom Sofa, um eine korrekte Vorsing-Haltung einzunehmen. Der Stolz in Mama Wanningers und Papa Wanningers Augen war leider nicht zu übersehen, als Göre Wanninger das krächzende Stimmchen erhob. Ich hasse singende Mädchen von endlos sitzen bleibenden Gästen, denen die Ruhe ihrer Gastgeber kein bisschen heilig ist. Ich hasse tortenfressende Wanningers, die offenbar zu bleiben gedenken, bis der Morgen graut.

Zugegeben – das Mädchen hatte eine ganz nette Stimme. Allerdings begann ich nach dem siebten vorgetragenen Liedchen, weniger an die Qualität als an die Quantität zu denken. Papa Wanninger erhob sich plötzlich. Ein drohender Herzinfarkt? Weit gefehlt! Er hatte sich entschlossen, sein Töchterchen mit tiefem Bariton zu begleiten. Frau Wanninger (mir mit dem rechten Auge zuzwinkernd) erhob sich ebenfalls. Alle Wanningers sangen. Himmel, erlöse mich von diesem Leid...

‚Gastfreundschaft ist die Kunst, Besucher zum Bleiben zu veranlassen, ohne sie am Aufbrechen zu hindern’, habe ich irgendwo gelesen. Und? Wann bot sich mir diese Chance, meine Begabung zu zeigen? Jetzt vielleicht? Denn nun endete der herzzerreißende, sentimentale und nervenzerfetzende Gesang der Familie Wanninger. Herr Wanninger setzte meine Chance in Gang:

„So, lieber Herr Heid! Es war wirklich ein bezaubernder Nachmittag und Abend bei Ihnen. Trotzdem wird es nun langsam (er hatte ‚langsam’ gesagt...) Zeit, aufzubrechen. Was meinst Du, Mäuschen?“

Mäuschen, Wanningers Ehefrau, nickte zustimmend. Hoffnung keimte auf. Nun musste mein Einsatz folgen, der allen Regeln der Etikette entsprach.

„Wie außerordentlich bedauerlich, liebe Familie Wanninger! Eben gerade dachte ich mir, wie schön es wäre, Ihre Gesellschaft noch länger genießen zu dürfen...!“

Hierauf muss nun der guterzogene Gast antworten, dass es wirklich an der Zeit ist, zu gehen.

„Tatsächlich, Herr Heid? Zu freundlich. Meinst du nicht auch, Kristina-Margareta...?“

Ein falsches Wort, Kind – und ich bringe Dich vor den Augen Deiner Eltern um!

„Darf ich noch ein Stück Kuchen essen, Onkel Heid?“

Ich brachte das Mädchen natürlich nicht um. Ich brachte auch Herrn und Frau Wanninger nicht um, die zwei Stunden später mein Haus verließen und ihre längst schlafende Tochter ins Auto bugsierten. Nonchalant winkte ich ihnen von der Haustür aus zu, während sich Wanningers immer weiter entfernten.

Zwei Wochen später luden Wanningers mich zu einem Gegenbesuch ein. Selbstverständlich sagte ich zu. Vor meinem Besuch werde ich zwei Tage aufs Essen verzichten. Ich werde mir mindestens zehn Dosen Red-Bull genehmigen, um kein bisschen müde zu werden. Ich werde so lange bleiben, bis ich die tiefen Augenränder der Erschöpfung meiner Gastgeber erkennen kann. Und ich werde singen. Jawohl! Ich werde singen! Ich, der eine Stimme wie ein verrostetes Reibeisen hat, werde singen, bis Wanningers um Gnade flehen...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.12.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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