Roman Scherer

Fingierter Rundgang durch Sulzbach Saar

Es ist noch nicht so sehr lange her, da war Sulzbach eine kleine, wenn auch etwas verschmutzte Bergmannsstadt. Weit über hundert Jahren hatte man hier etwa 300 Meter tief unter der Erde das sogenannte „schwarze Gold“ abgebaut.

 

Sulzbach liegt ungefähr zehn Kilometer nordöstlich von Saarbrücken, zirka 36 Kilometer nordwestlich von Zweibrücken und etwa 15 Kilometer von der deutsch-französischen Grenze entfernt.

 

Das kleine, heute etwa knapp 15. 000 Seelen zählende Sulzbach ist ein kleines Industriestädtchen. Noch heute – etliche Jahre nach Schließung der Kohlengrube – kann man den Abbau der Kohle erkennen. Denn vielen Häuser sind fast ausschließlich von der Kohle geschwärzt und durch deren unterirdischen Abbau stehen sie schief und krumm in den ohnehin buckligen Straßen der Stadt. Aber dennoch anmutet Sulzbach verträumt und ist auf seine Art sehr hübsch.

 

Die sanften Hügeln, in  deren waldreichem Schoss die kleine mittelalterliche Siedlung eingebettet liegt, lassen die Straßen mehr oder weniger steil auf- und absteigen. Manche Straßen sind so steil, dass man beim Hinaufgehen nach Luft ringend alle Augenblicke stehen bleiben muss, um sich ein wenig von den Strapazen zu erholen, bevor man sie weiter hinauf gehen kann.

*

Viel Interessantes gibt es in dem kleinen Städtchen allerdings nicht zu sehen. Im Stadtviertel Kamerun kann man ein paar schiefe Häuser und im Ortsteil Altenwald den schiefen Kirchturm der evangelischen Kirche bewundern. In der Stadtmitte, am Unteren Mark, kann man zudem noch das ehemalige alte Salzhaus und jenes Stück Erde bewundern, an dem einst der erste mit Koks betriebene Hochofen Europas gestanden hatte. In der anschließende Mühlenstraße stehen heute noch die alten Häuser, unter denen sich in früheren Zeiten einmal die Salzbrunnen befanden.

 

Heute will ich Sie, liebe Internetbesucherinnen und -besucher, einmal bei der Hand nehmen und in meine geliebte Stadt Sulzbach entführen. Ich will Sie in den Ort entführen - in dem ich vor etwas mehr als 70 Jahren das Licht der Welt erblickt hatte - um Ihnen ein klein wenig von den wenigen Sehenswürdigkeiten zu zeigen, die Sulzbach dennoch zu bieten hat. Es sind nicht besonders viele, aber immerhin einige. Lassen Sie uns an dem Ort beginnen, an dem bis zum Jahr 1965 mein Elternhaus gestanden hatte, in dem ich geboren wurde; in dem ich den gesamten „Zweiten Weltkrieg“ schadfrei erlebt hatte; in dem ich viele glückliche Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre erleben durfte; in dem ich gelacht hatte und traurig war; und in dem ich so manche Träne vergossen hatte.

 

Es war kein besonders schönes Haus, mein Elternhaus. Es war ein klobiger eineinhalb Stockwerke hoher, klobiger Kasten, der vor undenklich langer Zeit einmal weiß gestrichen worden war. Aber der Ruß der unendlich vielen Schornsteine und Schlote der Stadt, aus denen meist schwarzer Rauch herausquoll, hatte es mit der Zeit grau, an manchen Stellen sogar mehr schwarz als weiß aussehen lassen.

 

Folgen Sie ruhig meinen Fiktionen, die Sie von dem Ort, an dem einst mein Elternhaus stand, den Fischbacherweg hoch zur Grülingstraße, zu dem höchstgelegenen Punkt der Stadt Sulzbach führen.

 

Die Grülingstraße ist ein letztes Überbleibsel aus längst vergangener Zeit des römischen Imperiums. Und somit sind wir am ersten historischen Punkt unseres gemeinsamen fiktiven Rundganges angelangt. Von hier oben aus hat man einen wunderbaren Überblick über fast den gesamten Stadtteil Sulzbach. Die kleine Stadt liegt eingebettet zwischen sanften Hügeln, den Ausläufer des sogenannten „Schwarzwälder Hochwaldes“ die sich über Sulzbach, St. Ingbert, Blieskastel, in südöstlicher Richtung, bis hinüber zum Westrich dahinziehen und schließlich sanft in die Nordvogesen übergehen.

*

Jetzt führe ich Sie in meinem fiktiven Stadtrundgang den Quierschiederweg ein kurzes Stück hinunter und biege vor Ihnen linker Hand in den Mellinweg ein.

 

Rechts führt uns der Weg an einer etwa zwei Meter hohen Mauer vorbei, die bald schon von einem ebenso hohen Zaun aus fingerdicken Eisenstäben abgelöst wird. Links stehen ein paar Dutzend alte, knorrige Bäume am Straßenrand. Sie sind der letzte Überrest einer ehemaligen Parkanlage, die bis Mitte des 20. Jahrhunderts die glanzvolle, hochherrschaftliche Villa der Familie Vopelius in sich verborgen hielt. Die Familie Vopelius war einmal eine der reichsten Familien des Saarlandes. Die Verästelung ihres Stammbaumes reicht sicherlich bis in die kaiserliche Familie Wilhelm II., der Hohenzollern.

 

Nach ungefähr einhundertfünfzig Meter, beginnen sich ungepflegten, von Ruß geschwärzten, mit gepflegten, sauber angestrichenen Häuser einander abzuwechseln. Dazwischen gibt es ein paar verwahrlosten Gärten, andere wiederum wirken dagegen ordentlich, sauber angelegt und gepflegt.

 

Zwischen dem dritten und vierten Haus, die beide einen ungepflegten Eindruck hinterlassen, führt eine breite Treppe hinauf zu dem Schulzentrum, das in der Parkstraße, ungefähr achtzig bis hundert Meter oberhalb des Mellinweges vor gebaut wurde.

 

Ich führe Sie in meinen Gedanken den holprig gepflasterten Mellinweg entlang. Schließlich halte ich vor einer Einfahrt, die rechts aus dem noch immer eingezäunten Gelände herausführt, inne. Ich mache Sie, liebe Internetbesucherinnen und Internetbesucher auf das zum Teil von Ruß geschwärzten, aber dennoch gepflegt aussehende Gebäude hinter dem Eisenzaun aufmerksam. Das war einmal die Grube Mellin. Bis weit in die 1960er Jahren fuhren hier Bergleute ein und aus. Sie arbeiteten bis zu 300 Meter tief unter der Erde. In drei Schichten förderten sie das schwarze Gold mühsam zu Tage. Als man später feststellte, dass die Kohlen zur Neige gingen, hatte man die Grube kurzerhand geschlossen. Die Kohlen, die sich noch unter der Erde befinden, lohnen nicht mehr, dass sie abgebaut und gefördert werden. Die paar Kohlen, die es in Deutschland, vielleicht sogar in Europa noch gibt, werden über kurz oder lang auch noch ihren Geist aufgeben müssen.

*

Als die Grube Mellin einige Jahre geschlossen war, hat man die Förder- und Kühltürme, sowie den hundert Meter hohen Schlot kurzerhand eingerissen, beziehungsweise gesprengt. Verschiedene private Firmen der saarländischen Industrie haben sich im Laufe der letzten Jahre hier angesiedelt.

 

Sie fragen sich sicherlich, ob es nicht gefährlich war, so tief unter der Erde zu arbeiten! ? Dabei erinnere ich Sie – werte Internetbesucherinnen und –Besucher – an das schreckliche Grubenunglück in Luisenthal. Denn am 7. Februar 1962 war hier ganz in der Nähe, in der Grube Luisenthal, eine schlimme Explosion Untertage. Diese Explosion forderte 298 Todesopfer.

 

„Eine Explosion? – Unten in einem Bergwerg, eine Explosion?“ höre ich Sie laut fragten, „was kann in einer Kohlengrube denn schon explodieren?“

 

Es war Gas, das explodierte - ein Sauerstoff-Gas-Gemisch. Aber auch durch ein Gemisch aus Stein- und Kohlenstaub kann es zu einer gewaltigen Explosion Untertage kommen. In Luisenthal war es Sumpfgas, das sich Untertage aus Methan und Kohlendioxid gebildet hatte und durch irgendeinen Funken entzündet wurde.

 

Nun führe ich Sie gedanklich den Mellin Weg wieder zurück. An dessen Anfang biege ich – vor Ihnen hergehend – links wieder in den Quierschiederweg ein.

 

In meiner Fiktion führe ich Sie zum unteren Ende des Quierschieder Weges, dort wo er in den Fischbacher Wege einmündet, dann gehe ich vor Ihnen her unter der Eisenbahnunterführung hindurch.

 

Die Unterführung wurde vor weit mehr als 50 Jahren von einer amerikanischen Fliegerbombe getroffen und teilweise schwer beschädigt. Diese amerikanische Fliegerbombe hatte ein junger deutscher Landser völlig zerfetzt und eine etwas ältere Frau – eine Hebamme, die beruflich unterwegs war – lebensgefährlich verletzt und auf Lebzeiten körperlich entstellt.

 

Nur wenig später schweife ich mit Ihnen im Schlepp am Bahnhof vorbei, bis zu jener Stelle, wo einst das alte Knappschaftskrankenhaus stand, das Doktor Langguth 1862 seiner Bestimmung übergeben hatte. Nur ein paar kurze Schritte von hier entfernt wurde in dreieinhalbjähriger Rekordzeit ein neues, moderneres Krankenhaus regelrecht aus dem Boden gestampft, 1987 eingeweiht und seiner Bestimmung übergeben. An der Stelle, wo sich früher das alte Lazarett – das einst der Saarknappschaft gehörte, stand, befindet sich heute ein Parkplatz mit viel Grünzeug, einigen Bäume, viel Rasen mit bunten Blumen und Rosensträucher.

*

Meine fiktive Führung bringt Sie immer weiter, ein kurzes Stück durch die Salmstraße, dann geht es durch die neue Straße „An der Klinik“ an dem Hochhaus, dem neu erbauten Krankenhaus vorbei, und schließlich linker Hand die ehemalige Hauptstraße hoch, die neuerdings in Sulzbachtalstraße umgetauft wurde, ein Stück stadteinwärts. Dieser Straße folgen wir ungefähr 40 oder 50 Metern, biegen  gleich, nach den Stadtwerken, rechter Hand von dieser ab und gelangen nach 60 oder 70 Metern in den 1958 und 1959 angelegten Stadtpark. Zur Einweihung dieses Parks bekam die Stadt Sulzbach vom Rosengarten Zweibrücken zwei wunderschöne Schwäne – ein Paar – geschenkt. Diese hatte man auf den kleinen Teich inmitten der Parkanlage gesetzt. Während den ersten Wochen wurde gut auf die beiden Schwäne aufgepasst, aber nichts geschah, sie schienen sich in ihre neue Umgebung gut eingewöhnt zu haben. So? – Haben  Sie gedacht? – In der dritten oder vierten Woche konnte man die beiden Vögel nirgendwo mehr finden. Tagelang suchte man sie überall, vergebens. Bis irgendjemand aus Zweibrücken bei der städtischen Gärtnerei in Sulzbach anrief, dass das Paar der Schwäne nach Zweibrücken zurückgekommen sei, und dass man sie wieder im Rosengarten abholen könne. Drei volle Monatelang flogen Frau und Herr Schwan von diesem Zeitpunkt an täglich nach Zweibrücken in ihre alte Heimat zurück, um anderntags wieder nach Sulzbach zurückgeholt zu werden. Erst nach dem nächsten Winter hatte das Paar sich an das neue Zuhause gewöhnt, nachdem man es den Winter über in einem dafür geeigneten offenen Käfig eingesperrte hatte.

 

Meine Gedankengänge führen Sie weiter, durch die Parkanlage und finden uns bald bei der evangelische Kirche in der Straße „Auf der Schmelz“ wieder. Nach einem kurzen Aufenthalt in dem altehrwürdigen Gotteshaus mache ich mit Ihnen einem kleinen gedanklichen Abstecher zu dem neu angelegten „Unteren Marktplatz“. Nun befinden wir uns genau dort, wo im Jahr 1766 erstmals auf europäischem Festland Eisenerz, in der hierzu neu entwickelten und fünf Jahre zuvor erbauten Eisenschmelze, wo anstatt wie bisher mit Holzkohle, mit Kohlekoks Eisen geschmolzen wurde. Von hier aus folgen wir zusammen den fünf, sechs Dutzend Schritte zur evangelischen Kirsche zurück. In der Höhe dieser Kirche biegen wir links ab und finden uns letztlich in der Mühlenstraße wieder.

 

Ich glaube, diese Straße ist die älteste Straße von Sulzbach. Denn hier in der Mühlenstraße waren einst, um das Jahr 1549 herum, die Salinen und Salzbrunnen. Unter manchen Häuser dieser Straße müssen sich heute noch einige dieser Salzbrunnen befinden.

 

In den späten 1940er Jahren stürzte eines dieser Uralthäuser eines nachts ein. Die Bewohner wurden mitten in der Nacht wie durch ein Wunder – von wem auch immer – gewarnt und konnten so gerettet werden. Unter den Trümmern konnte man damals Wasser rauschen hören. Irgendwer sagte, es sei einer der alten Salzbrunnen.

 

Seit neuster Zeit feiert man in Sulzbach zur Erinnerung an die Salzgewinnung das „Salzbrunnenfest“, mit jahrmarktähnlichem Treiben und historischem Umzug.

*

Nun führe ich Sie gedanklich durch die Straße „Im Hessenland“ weiter und folgen gleich danach der Sulzbachtalstraße zurück in die City. Schließlich biegen wir am „Oberen Marktplatz“ rechts ab, gehen die Marktstraße hinauf und gelangen schließlich in die Wilhelmstraße. Diese wandern wir in Gedanken langsam hoch, bis fast zum oberen Ende. Rechter Hand, dort wo einst das alte Wilhelmschulhaus gestanden hatte, halte ich eine kurze Zeitlang inne. In diesem Schulhaus, das es seit einigen Jahren nicht mehr gibt, sehe ich mich als ungefähr zehn- bis vierzehnjähriger Schüler wieder. Denn diese Schule besuchte ich fast fünf Jahre lang. Noch heute sehe ich mich neben meinem besten Freund in der fünften Bankreihe sitzen und aufmerksam dem Schulunterricht folgen. Es waren Zeiten der Not, die Zeit nach dem schrecklichen „Zweiten Weltkrieg“. Er war aber dennoch eine schöne Zeit. Wir hatte zwar keinen Luxus, aber wir waren glücklich. Die ältere Generation unter Ihnen wird sich sicher noch gut daran erinnern können.

 

Nun muss auch einmal gesagt werden, dass über der Stadt Sulzbach nicht sehr viele Fliegerbomben von den  US-Amerikanern (Amis) oder von den Briten (Thomys) abgeworfen wurden. Nur etwa zehn oder zwölf Häuser und die schon erwähnte Eisenbahnbrücke wurden getroffen, die Häuser in Schutt und Asche gelegt. Gott sei es gedankt, hierbei waren nur drei oder vier Menschen zuschanden- oder umgekommen. Noch heute, über 60 Jahre nach Kriegsende, kann man an manchen Häuser und Gebäuden die Einschlaglöcher der Bomben- und Granatsplitter sehen.

 

Meine fiktiven Gedankengänge führen Sie noch ein kleines Stück die Wilhelmstraße hinauf, bis zur Einmündung in den Grubenpfad. Diesem schmalen Weg folgen wir bis zum hinteren Ende, dort weisen meine Sinne auf drei durch Grubenschäden seltsame schrägstehende Häuser hin. Langsam wandern meine Gedanken mit Ihnen im Schlepp weiter, bis zur oberen Giebelseite des ersten Gebäudes, die sich auf scheinbar geheimnisvolle Weise tief zur Erde hin herunterneigte. Es scheint, der Zahn der Zeit habe daran Schuld. Gewiss, das auch, aber in erster Linie hat die Grubensenkung an dieser Schräglage gewissermaßen Schuld. Schiefe oder weniger schiefe Häuser gibt es im gesamten Sulzbacher Grubenbereich, aber so etwas von Schief wie diese drei Häuser gibt es nur noch im Stadtteil Altenwald: Nämlich der Glockenturm der evangelische Kirche. Dieser hat sich so sehr zur Seite geneigt, dass man unwillkürlich glauben muss, er würde jeden Moment in sich zusammenstürzen und etliche Menschen unter sich begraben.

 

Langsam führen meine Gedanken Sie weiter, die Wilhelmstraße zurück, biegen nach ungefähr dreihundert Meter nach rechts in die Gärtnerstraße und folgen dieser, wir kommen bald links an der „Städtischen Festhalle“ vorbei, biegen anschließend vor der Eisenbahnbrücke abermals rechts ab und gelangen letzten Endes wieder zum Fischbacherweg. Bald biegen wir in meinen Fiktionen rechts in die Ludwigstraße ein. Hier bei der vorerst vorletzten Station meiner kleinen gedanklichen Führung, halte ich wiederum einige Augenblicke lang inne. Denn hier vor dem niederen Haus auf der rechten Seite, war mir 1945, kurz vor Kriegsende, etwas schrecklich sonderbares passiert:

*

Ich kam an diesem warmen Sommertag aus der Schule und lief den Fischbacherweg hoch, um so schnell wie möglich nach Hause zu gelangen. Als ich ungefähr zwanzig oder dreißig Meter vor der Einmündung der Ludwigstraße in den Fischbacherweg lief, hörte ich plötzlich in weiter Ferne ein tieffliegendes Flugzeug brummen, das sehr schnell näher kam. Ich wusste sofort, dass dieses Flugzeug kein gewöhnliches feindliches Flugzeug war, sondern ein amerikanischer Jagdbomber (im Volksmund „Jabo“ genannt), der bekanntlich auf alles, was sich irgendwie bewegte, schoss. Auch auf Frauen, Kinder und ältere Menschen. Sie nahmen sogar Tiere unter tödlichen Beschuss. Ängstlich schaute ich hoch gegen den leicht bewölkten Himmel, den meine argwöhnische Blicke sehr aufmerksam nach diesem Jabo absuchten. Dann, plötzlich sah ich dieses scheußliche, in der Sonne silbernglänzende Flugobjekt. Es flog in einer Höhe von ungefähr fünfzig bis achtzig Meter ganz dicht hinter mir. Ich begann, so schnell ich irgendwie konnte, zu laufen. Und weil ich dachte, ich könnte diesem blöden Ochsen, der den Jabo flog, irgendwie entkommen, indem ich einfach in eine andere Richtung lief, rannte ich rechts in die Ludwigstraße hinein. Denn eine andere Möglichkeit sah ich im Moment nicht. Ich lief ein ziemliches Stück diese Straße entlang, als ich plötzlich ganz dicht hinter mir ein Maschinengewehr aufbellen hörte. Meine Hose war gestrichen voll, ich lief deshalb etwas schneller, während die Schüsse hinter mir, neben mir und über mir niederprasselten. Ich hörte einige Querschläger zischen und pfeifen. Einige andere dieser verteufelten Dinger spürte ich sogar ganz dicht am Kopf vorbeisurren. Ich lief eben kurz vor dem letzten Haus in der Straße, da spürte ich plötzlich, dass ich an meinem linken Oberschenkel von etwas sehr heißem getroffen wurde. Es brannte wie die Hölle, so dass mir plötzlich mulmig wurde. Im Unterbewusstsein hörte ich noch, eine Frau meinen Namen rufen, merkte, dass jemand mich bei den Schultern packte und irgendwohin zog. Dann war alles schwarz vor meinen Augen. Mir schien, als fiel ich Kopf über, Kopf unter, Purzelbäume schlagend in ein unendlich tiefes und schwarzes Loch. Nach einer gewissen Zeit hörte ich ein ohrenbetäubendes zischendes Rauschen, mir kam das Rauschen beinahe wie das Geläute unendlich vieler Glocken vor. Dann fand ich mich auf einer herrlichen, mit menschlichen Worte nicht zu beschreibenden Wiese mit tausenderlei bunter Blumen wieder. Hier waren sehr viele Menschen versammelt, die nur damit beschäftigt waren, über irgendetwas miteinander zu reden. Das Unwahrscheinliche daran war, ich hörte diese Menschen zwar miteinander sprechen, aber ich sah nicht, dass sie dabei die Lippen bewegten. Als ich nach scheinbar unendlich langer Zeit wieder zu mir kam, lag ich im Sulzbacher Krankenhaus und meine Mutter saß tränenüberströmt neben mir. Sie sagte mir später, ein Querschläger habe mein Oberschenkel gestreift und ungefähr fünf bis sechs Zentimeter aufgerissen. Man habe es mit drei, vier Stiche nähen müssen, aber übermorgen könne ich bereits wieder nachhause gehen.

*

Langsam führe ich Sie in meine Fiktionen das kurze Stück die Ludwigstraße wieder zurück, biege mit Ihnen erneut rechts in den Fischbacherweg ein, schreite vor Ihnen ungefähr dreißig, vierzig Meter die Straße hoch, bis wir letztendlich kurz vor meinem Elternhaus anhalten. Ich weise auch hier auf zwei Begebenheiten des schrecklichen Krieges hin: Hier, auf der rechten Seite, kann man in der Mauer noch ganz genau die Umrisse erkennen, dort wo sich damals der Eingang zu einem unterirdischen, provisorisch eingerichteten Stollen, der dem Schutz der Zivilbevölkerung diente, befand. Einen nur provisorisch unterirdisch eingerichteter Raum in dem wir während den zahlreichen Luftangriffen zu tiefst deprimiert saßen. Wäre nur eine sehr kleine Fliegerbombe in der Näher heruntergefallen und explodiert, wäre keine auch noch so winzige Maus mehr lebend aus diesem Stollen herausgekommen.

 

Dann gehen wir nur vierzehn oder fünfzehn Meter weiter den Fischbacherweg hoch und stehen jetzt genau im Durchgang zu meinem Elternhaus. Links neben uns ist das Haus der Familie Engler, rechtst das der Familie Reinke. Am Tag vor der Kapitulation, kurz vor der Mittagszeit, wurde das Haus der Englers von einer französischen Granate getroffen und stark beschädigt. Auch mein Elternhaus wurde dadurch leicht beschädigt. Leicht? – Was man halt so „leicht“ nennen kann. Aber, Gott sei es gedankt, bei diesem letzten Akt unserer damaligen Feinde, wurde kein Mensch getötet oder gar schlimm verletzt.

 

Hier vor meinem Elternhaus begann und endet nun meine kurze fiktive Führung durch meine Vaterstadt Sulzbach. Ich hoffe, dass ich Ihnen, liebe Internetbesucherinnen und -besucher damit ein kleines Stück der Stadt Sulzbach vor Augen habe bringen können.

*

In stillem Gedenken an all diejenigen, die in den beiden letzten Kriege, die von 1914 bis 1918 und von 1939 bis 1945 stattfanden, für ihr Vaterland – für Russland, für Polen, für Frankreich, für England, für Kanada, für Amerika, für Deutschland und... und... und... ihr Leben verloren haben. Insbesondere aber an all die vielen, die ihr Leben durch Nazigewalt verloren haben. Gott hab’ sie alle selig.

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.09.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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