Es ist noch nicht so
sehr lange her, da war Sulzbach eine kleine, wenn auch etwas verschmutzte
Bergmannsstadt. Weit über hundert Jahren hatte man hier etwa 300 Meter tief
unter der Erde das sogenannte „schwarze Gold“ abgebaut.
Sulzbach liegt
ungefähr zehn Kilometer nordöstlich von Saarbrücken, zirka 36 Kilometer
nordwestlich von Zweibrücken und etwa 15 Kilometer von der
deutsch-französischen Grenze entfernt.
Das kleine, heute
etwa knapp 15. 000 Seelen zählende Sulzbach ist ein kleines Industriestädtchen.
Noch heute – etliche Jahre nach Schließung der Kohlengrube – kann man den Abbau
der Kohle erkennen. Denn vielen Häuser sind fast ausschließlich von der Kohle geschwärzt
und durch deren unterirdischen Abbau stehen sie schief und krumm in den ohnehin
buckligen Straßen der Stadt. Aber dennoch anmutet Sulzbach verträumt und ist
auf seine Art sehr hübsch.
Die sanften Hügeln,
in deren waldreichem Schoss die kleine mittelalterliche Siedlung
eingebettet liegt, lassen die Straßen mehr oder weniger steil auf- und
absteigen. Manche Straßen sind so steil, dass man beim Hinaufgehen nach Luft
ringend alle Augenblicke stehen bleiben muss, um sich ein wenig von den
Strapazen zu erholen, bevor man sie weiter hinauf gehen kann.
Viel Interessantes
gibt es in dem kleinen Städtchen allerdings nicht zu sehen. Im Stadtviertel
Kamerun kann man ein paar schiefe Häuser und im Ortsteil Altenwald den schiefen
Kirchturm der evangelischen Kirche bewundern. In der Stadtmitte, am Unteren
Mark, kann man zudem noch das ehemalige alte Salzhaus und jenes Stück Erde bewundern,
an dem einst der erste mit Koks betriebene Hochofen Europas gestanden hatte. In
der anschließende Mühlenstraße stehen heute noch die alten Häuser, unter denen
sich in früheren Zeiten einmal die Salzbrunnen befanden.
Heute will ich Sie,
liebe Internetbesucherinnen und -besucher, einmal bei der Hand nehmen und in
meine geliebte Stadt Sulzbach entführen. Ich will Sie in den Ort entführen - in
dem ich vor etwas mehr als 70 Jahren das Licht der Welt erblickt hatte - um
Ihnen ein klein wenig von den wenigen Sehenswürdigkeiten zu zeigen, die
Sulzbach dennoch zu bieten hat. Es sind nicht besonders viele, aber immerhin
einige. Lassen Sie uns an dem Ort beginnen, an dem bis zum Jahr 1965 mein
Elternhaus gestanden hatte, in dem ich geboren wurde; in dem ich den gesamten
„Zweiten Weltkrieg“ schadfrei erlebt hatte; in dem ich viele glückliche
Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre erleben durfte; in dem ich gelacht
hatte und traurig war; und in dem ich so manche Träne vergossen hatte.
Es war kein besonders
schönes Haus, mein Elternhaus. Es war ein klobiger eineinhalb Stockwerke hoher,
klobiger Kasten, der vor undenklich langer Zeit einmal weiß gestrichen worden
war. Aber der Ruß der unendlich vielen Schornsteine und Schlote der Stadt, aus
denen meist schwarzer Rauch herausquoll, hatte es mit der Zeit grau, an manchen
Stellen sogar mehr schwarz als weiß aussehen lassen.
Folgen Sie ruhig
meinen Fiktionen, die Sie von dem Ort, an dem einst mein Elternhaus stand, den
Fischbacherweg hoch zur Grülingstraße, zu dem höchstgelegenen Punkt der Stadt Sulzbach
führen.
Die Grülingstraße ist
ein letztes Überbleibsel aus längst vergangener Zeit des römischen Imperiums.
Und somit sind wir am ersten historischen Punkt unseres gemeinsamen fiktiven
Rundganges angelangt. Von hier oben aus hat man einen wunderbaren Überblick
über fast den gesamten Stadtteil Sulzbach. Die kleine Stadt liegt eingebettet
zwischen sanften Hügeln, den Ausläufer des sogenannten „Schwarzwälder
Hochwaldes“ die sich über Sulzbach, St. Ingbert, Blieskastel, in südöstlicher
Richtung, bis hinüber zum Westrich dahinziehen und schließlich sanft in die
Nordvogesen übergehen.
Jetzt führe ich Sie
in meinem fiktiven Stadtrundgang den Quierschiederweg ein kurzes Stück hinunter
und biege vor Ihnen linker Hand in den Mellinweg ein.
Rechts führt uns der
Weg an einer etwa zwei Meter hohen Mauer vorbei, die bald schon von einem
ebenso hohen Zaun aus fingerdicken Eisenstäben abgelöst wird. Links stehen ein
paar Dutzend alte, knorrige Bäume am Straßenrand. Sie sind der letzte Überrest
einer ehemaligen Parkanlage, die bis Mitte des 20. Jahrhunderts die glanzvolle,
hochherrschaftliche Villa der Familie Vopelius in sich verborgen hielt. Die
Familie Vopelius war einmal eine der reichsten Familien des Saarlandes. Die
Verästelung ihres Stammbaumes reicht sicherlich bis in die kaiserliche Familie
Wilhelm II., der Hohenzollern.
Nach ungefähr
einhundertfünfzig Meter, beginnen sich ungepflegten, von Ruß geschwärzten, mit
gepflegten, sauber angestrichenen Häuser einander abzuwechseln. Dazwischen gibt
es ein paar verwahrlosten Gärten, andere wiederum wirken dagegen ordentlich,
sauber angelegt und gepflegt.
Zwischen dem dritten
und vierten Haus, die beide einen ungepflegten Eindruck hinterlassen, führt
eine breite Treppe hinauf zu dem Schulzentrum, das in der Parkstraße, ungefähr
achtzig bis hundert Meter oberhalb des Mellinweges vor gebaut wurde.
Ich führe Sie in
meinen Gedanken den holprig gepflasterten Mellinweg entlang. Schließlich halte
ich vor einer Einfahrt, die rechts aus dem noch immer eingezäunten Gelände
herausführt, inne. Ich mache Sie, liebe Internetbesucherinnen und
Internetbesucher auf das zum Teil von Ruß geschwärzten, aber dennoch gepflegt
aussehende Gebäude hinter dem Eisenzaun aufmerksam. Das war einmal die Grube
Mellin. Bis weit in die 1960er Jahren fuhren hier Bergleute ein und aus. Sie
arbeiteten bis zu 300 Meter tief unter der Erde. In drei Schichten förderten
sie das schwarze Gold mühsam zu Tage. Als man später feststellte, dass die
Kohlen zur Neige gingen, hatte man die Grube kurzerhand geschlossen. Die
Kohlen, die sich noch unter der Erde befinden, lohnen nicht mehr, dass sie
abgebaut und gefördert werden. Die paar Kohlen, die es in Deutschland,
vielleicht sogar in Europa noch gibt, werden über kurz oder lang auch noch
ihren Geist aufgeben müssen.
Als die Grube Mellin
einige Jahre geschlossen war, hat man die Förder- und Kühltürme, sowie den
hundert Meter hohen Schlot kurzerhand eingerissen, beziehungsweise gesprengt.
Verschiedene private Firmen der saarländischen Industrie haben sich im Laufe
der letzten Jahre hier angesiedelt.
Sie fragen sich
sicherlich, ob es nicht gefährlich war, so tief unter der Erde zu arbeiten! ?
Dabei erinnere ich Sie – werte Internetbesucherinnen und –Besucher – an das
schreckliche Grubenunglück in Luisenthal. Denn am 7. Februar 1962 war hier ganz
in der Nähe, in der Grube Luisenthal, eine schlimme Explosion Untertage. Diese
Explosion forderte 298 Todesopfer.
„Eine Explosion? –
Unten in einem Bergwerg, eine Explosion?“ höre ich Sie laut fragten, „was kann
in einer Kohlengrube denn schon explodieren?“
Es war Gas, das
explodierte - ein Sauerstoff-Gas-Gemisch. Aber auch durch ein Gemisch aus
Stein- und Kohlenstaub kann es zu einer gewaltigen Explosion Untertage kommen.
In Luisenthal war es Sumpfgas, das sich Untertage aus Methan und Kohlendioxid
gebildet hatte und durch irgendeinen Funken entzündet wurde.
Nun führe ich Sie
gedanklich den Mellin Weg wieder zurück. An dessen Anfang biege ich – vor Ihnen
hergehend – links wieder in den Quierschiederweg ein.
In meiner Fiktion
führe ich Sie zum unteren Ende des Quierschieder Weges, dort wo er in den
Fischbacher Wege einmündet, dann gehe ich vor Ihnen her unter der
Eisenbahnunterführung hindurch.
Die Unterführung
wurde vor weit mehr als 50 Jahren von einer amerikanischen Fliegerbombe
getroffen und teilweise schwer beschädigt. Diese amerikanische Fliegerbombe
hatte ein junger deutscher Landser völlig zerfetzt und eine etwas ältere Frau –
eine Hebamme, die beruflich unterwegs war – lebensgefährlich verletzt und auf
Lebzeiten körperlich entstellt.
Nur
wenig später schweife ich mit Ihnen im Schlepp am Bahnhof vorbei, bis zu jener
Stelle, wo einst das alte Knappschaftskrankenhaus stand, das Doktor Langguth 1862
seiner Bestimmung übergeben hatte. Nur ein paar kurze Schritte von hier
entfernt wurde in dreieinhalbjähriger Rekordzeit ein neues, moderneres
Krankenhaus regelrecht aus dem Boden gestampft, 1987 eingeweiht und seiner Bestimmung
übergeben. An der Stelle, wo sich früher das alte Lazarett – das einst der
Saarknappschaft gehörte, stand, befindet sich heute ein Parkplatz mit viel
Grünzeug, einigen Bäume, viel Rasen mit bunten Blumen und Rosensträucher.
Meine fiktive Führung
bringt Sie immer weiter, ein kurzes Stück durch die Salmstraße, dann geht es
durch die neue Straße „An der Klinik“ an dem Hochhaus, dem neu erbauten
Krankenhaus vorbei, und schließlich linker Hand die ehemalige Hauptstraße hoch,
die neuerdings in Sulzbachtalstraße umgetauft wurde, ein Stück stadteinwärts.
Dieser Straße folgen wir ungefähr 40 oder 50 Metern, biegen gleich, nach den Stadtwerken, rechter Hand
von dieser ab und gelangen nach 60 oder 70 Metern in den 1958 und 1959
angelegten Stadtpark. Zur Einweihung dieses Parks bekam die Stadt Sulzbach vom
Rosengarten Zweibrücken zwei wunderschöne Schwäne – ein Paar – geschenkt. Diese
hatte man auf den kleinen Teich inmitten der Parkanlage gesetzt. Während den
ersten Wochen wurde gut auf die beiden Schwäne aufgepasst, aber nichts geschah,
sie schienen sich in ihre neue Umgebung gut eingewöhnt zu haben. So? – Haben Sie gedacht? – In der dritten oder vierten
Woche konnte man die beiden Vögel nirgendwo mehr finden. Tagelang suchte man
sie überall, vergebens. Bis irgendjemand aus Zweibrücken bei der städtischen
Gärtnerei in Sulzbach anrief, dass das Paar der Schwäne nach Zweibrücken zurückgekommen
sei, und dass man sie wieder im Rosengarten abholen könne. Drei volle
Monatelang flogen Frau und Herr Schwan von diesem Zeitpunkt an täglich nach
Zweibrücken in ihre alte Heimat zurück, um anderntags wieder nach Sulzbach zurückgeholt
zu werden. Erst nach dem nächsten Winter hatte das Paar sich an das neue Zuhause
gewöhnt, nachdem man es den Winter über in einem dafür geeigneten offenen Käfig
eingesperrte hatte.
Meine Gedankengänge
führen Sie weiter, durch die Parkanlage und finden uns bald bei der
evangelische Kirche in der Straße „Auf der Schmelz“ wieder. Nach einem kurzen
Aufenthalt in dem altehrwürdigen Gotteshaus mache ich mit Ihnen einem kleinen
gedanklichen Abstecher zu dem neu angelegten „Unteren Marktplatz“. Nun befinden
wir uns genau dort, wo im Jahr 1766 erstmals auf europäischem Festland
Eisenerz, in der hierzu neu entwickelten und fünf Jahre zuvor erbauten
Eisenschmelze, wo anstatt wie bisher mit Holzkohle, mit Kohlekoks Eisen
geschmolzen wurde. Von hier aus folgen wir zusammen den fünf, sechs Dutzend
Schritte zur evangelischen Kirsche zurück. In der Höhe dieser Kirche biegen wir
links ab und finden uns letztlich in der Mühlenstraße wieder.
Ich glaube, diese
Straße ist die älteste Straße von Sulzbach. Denn hier in der Mühlenstraße waren
einst, um das Jahr 1549 herum, die Salinen und Salzbrunnen. Unter manchen
Häuser dieser Straße müssen sich heute noch einige dieser Salzbrunnen befinden.
In den späten 1940er
Jahren stürzte eines dieser Uralthäuser eines nachts ein. Die Bewohner wurden
mitten in der Nacht wie durch ein Wunder – von wem auch immer – gewarnt und
konnten so gerettet werden. Unter den Trümmern konnte man damals Wasser
rauschen hören. Irgendwer sagte, es sei einer der alten Salzbrunnen.
Seit neuster Zeit
feiert man in Sulzbach zur Erinnerung an die Salzgewinnung das „Salzbrunnenfest“,
mit jahrmarktähnlichem Treiben und historischem Umzug.
Nun führe ich Sie gedanklich
durch die Straße „Im Hessenland“ weiter und folgen gleich danach der
Sulzbachtalstraße zurück in die City. Schließlich biegen wir am „Oberen
Marktplatz“ rechts ab, gehen die Marktstraße hinauf und gelangen schließlich in
die Wilhelmstraße. Diese wandern wir in Gedanken langsam hoch, bis fast zum oberen
Ende. Rechter Hand, dort wo einst das alte Wilhelmschulhaus gestanden hatte,
halte ich eine kurze Zeitlang inne. In diesem Schulhaus, das es seit einigen
Jahren nicht mehr gibt, sehe ich mich als ungefähr zehn- bis vierzehnjähriger
Schüler wieder. Denn diese Schule besuchte ich fast fünf Jahre lang. Noch heute
sehe ich mich neben meinem besten Freund in der fünften Bankreihe sitzen und
aufmerksam dem Schulunterricht folgen. Es waren Zeiten der Not, die Zeit nach
dem schrecklichen „Zweiten Weltkrieg“. Er war aber dennoch eine schöne Zeit.
Wir hatte zwar keinen Luxus, aber wir waren glücklich. Die ältere Generation
unter Ihnen wird sich sicher noch gut daran erinnern können.
Nun muss auch einmal
gesagt werden, dass über der Stadt Sulzbach nicht sehr viele Fliegerbomben von
den US-Amerikanern (Amis) oder von den
Briten (Thomys) abgeworfen wurden. Nur etwa zehn oder zwölf Häuser und die
schon erwähnte Eisenbahnbrücke wurden getroffen, die Häuser in Schutt und Asche
gelegt. Gott sei es gedankt, hierbei waren nur drei oder vier Menschen
zuschanden- oder umgekommen. Noch heute, über 60 Jahre nach Kriegsende, kann
man an manchen Häuser und Gebäuden die Einschlaglöcher der Bomben- und Granatsplitter
sehen.
Meine fiktiven
Gedankengänge führen Sie noch ein kleines Stück die Wilhelmstraße hinauf, bis
zur Einmündung in den Grubenpfad. Diesem schmalen Weg folgen wir bis zum
hinteren Ende, dort weisen meine Sinne auf drei durch Grubenschäden seltsame
schrägstehende Häuser hin. Langsam wandern meine Gedanken mit Ihnen im Schlepp
weiter, bis zur oberen Giebelseite des ersten Gebäudes, die sich auf scheinbar
geheimnisvolle Weise tief zur Erde hin herunterneigte. Es scheint, der Zahn der
Zeit habe daran Schuld. Gewiss, das auch, aber in erster Linie hat die Grubensenkung
an dieser Schräglage gewissermaßen Schuld. Schiefe oder weniger schiefe Häuser
gibt es im gesamten Sulzbacher Grubenbereich, aber so etwas von Schief wie
diese drei Häuser gibt es nur noch im Stadtteil Altenwald: Nämlich der Glockenturm
der evangelische Kirche. Dieser hat sich so sehr zur Seite geneigt, dass man
unwillkürlich glauben muss, er würde jeden Moment in sich zusammenstürzen und
etliche Menschen unter sich begraben.
Langsam führen meine
Gedanken Sie weiter, die Wilhelmstraße zurück, biegen nach ungefähr dreihundert
Meter nach rechts in die Gärtnerstraße und folgen dieser, wir kommen bald links
an der „Städtischen Festhalle“ vorbei, biegen anschließend vor der Eisenbahnbrücke
abermals rechts ab und gelangen letzten Endes wieder zum Fischbacherweg. Bald
biegen wir in meinen Fiktionen rechts in die Ludwigstraße ein. Hier bei der
vorerst vorletzten Station meiner kleinen gedanklichen Führung, halte ich
wiederum einige Augenblicke lang inne. Denn hier vor dem niederen Haus auf der
rechten Seite, war mir 1945, kurz vor Kriegsende, etwas schrecklich sonderbares
passiert:
Ich kam an diesem
warmen Sommertag aus der Schule und lief den Fischbacherweg hoch, um so schnell
wie möglich nach Hause zu gelangen. Als ich ungefähr zwanzig oder dreißig Meter
vor der Einmündung der Ludwigstraße in den Fischbacherweg lief, hörte ich
plötzlich in weiter Ferne ein tieffliegendes Flugzeug brummen, das sehr schnell
näher kam. Ich wusste sofort, dass dieses Flugzeug kein gewöhnliches
feindliches Flugzeug war, sondern ein amerikanischer Jagdbomber (im Volksmund
„Jabo“ genannt), der bekanntlich auf alles, was sich irgendwie bewegte, schoss.
Auch auf Frauen, Kinder und ältere Menschen. Sie nahmen sogar Tiere unter
tödlichen Beschuss. Ängstlich schaute ich hoch gegen den leicht bewölkten
Himmel, den meine argwöhnische Blicke sehr aufmerksam nach diesem Jabo
absuchten. Dann, plötzlich sah ich dieses scheußliche, in der Sonne
silbernglänzende Flugobjekt. Es flog in einer Höhe von ungefähr fünfzig bis
achtzig Meter ganz dicht hinter mir. Ich begann, so schnell ich irgendwie
konnte, zu laufen. Und weil ich dachte, ich könnte diesem blöden Ochsen, der
den Jabo flog, irgendwie entkommen, indem ich einfach in eine andere Richtung
lief, rannte ich rechts in die Ludwigstraße hinein. Denn eine andere
Möglichkeit sah ich im Moment nicht. Ich lief ein ziemliches Stück diese Straße
entlang, als ich plötzlich ganz dicht hinter mir ein Maschinengewehr aufbellen
hörte. Meine Hose war gestrichen voll, ich lief deshalb etwas schneller,
während die Schüsse hinter mir, neben mir und über mir niederprasselten. Ich
hörte einige Querschläger zischen und pfeifen. Einige andere dieser
verteufelten Dinger spürte ich sogar ganz dicht am Kopf vorbeisurren. Ich lief
eben kurz vor dem letzten Haus in der Straße, da spürte ich plötzlich, dass ich
an meinem linken Oberschenkel von etwas sehr heißem getroffen wurde. Es brannte
wie die Hölle, so dass mir plötzlich mulmig wurde. Im Unterbewusstsein hörte
ich noch, eine Frau meinen Namen rufen, merkte, dass jemand mich bei den
Schultern packte und irgendwohin zog. Dann war alles schwarz vor meinen Augen.
Mir schien, als fiel ich Kopf über, Kopf unter, Purzelbäume schlagend in ein
unendlich tiefes und schwarzes Loch. Nach einer gewissen Zeit hörte ich ein
ohrenbetäubendes zischendes Rauschen, mir kam das Rauschen beinahe wie das
Geläute unendlich vieler Glocken vor. Dann fand ich mich auf einer herrlichen,
mit menschlichen Worte nicht zu beschreibenden Wiese mit tausenderlei bunter
Blumen wieder. Hier waren sehr viele Menschen versammelt, die nur damit
beschäftigt waren, über irgendetwas miteinander zu reden. Das Unwahrscheinliche
daran war, ich hörte diese Menschen zwar miteinander sprechen, aber ich sah
nicht, dass sie dabei die Lippen bewegten. Als ich nach scheinbar unendlich
langer Zeit wieder zu mir kam, lag ich im Sulzbacher Krankenhaus und meine
Mutter saß tränenüberströmt neben mir. Sie sagte mir später, ein Querschläger
habe mein Oberschenkel gestreift und ungefähr fünf bis sechs Zentimeter
aufgerissen. Man habe es mit drei, vier Stiche nähen müssen, aber übermorgen
könne ich bereits wieder nachhause gehen.
Langsam führe ich Sie in meine Fiktionen das kurze Stück die Ludwigstraße
wieder zurück, biege mit Ihnen erneut rechts in den Fischbacherweg ein,
schreite vor Ihnen ungefähr dreißig, vierzig Meter die Straße hoch, bis wir
letztendlich kurz vor meinem Elternhaus anhalten. Ich weise auch hier auf zwei
Begebenheiten des schrecklichen Krieges hin: Hier, auf der rechten Seite, kann
man in der Mauer noch ganz genau die Umrisse erkennen, dort wo sich damals der
Eingang zu einem unterirdischen, provisorisch eingerichteten Stollen, der dem
Schutz der Zivilbevölkerung diente, befand. Einen nur provisorisch unterirdisch
eingerichteter Raum in dem wir während den zahlreichen Luftangriffen zu tiefst
deprimiert saßen. Wäre nur eine sehr kleine Fliegerbombe in der Näher
heruntergefallen und explodiert, wäre keine auch noch so winzige Maus mehr
lebend aus diesem Stollen herausgekommen.
Dann gehen wir nur vierzehn oder fünfzehn Meter weiter den Fischbacherweg
hoch und stehen jetzt genau im Durchgang zu meinem Elternhaus. Links neben uns
ist das Haus der Familie Engler, rechtst das der Familie Reinke. Am Tag vor der
Kapitulation, kurz vor der Mittagszeit, wurde das Haus der Englers von einer
französischen Granate getroffen und stark beschädigt. Auch mein Elternhaus wurde
dadurch leicht beschädigt. Leicht? – Was man halt so „leicht“ nennen kann.
Aber, Gott sei es gedankt, bei diesem letzten Akt unserer damaligen Feinde,
wurde kein Mensch getötet oder gar schlimm verletzt.
Hier vor meinem
Elternhaus begann und endet nun meine kurze fiktive Führung durch meine
Vaterstadt Sulzbach. Ich hoffe, dass ich Ihnen, liebe Internetbesucherinnen und
-besucher damit ein kleines Stück der Stadt Sulzbach vor Augen habe bringen
können.
In stillem Gedenken
an all diejenigen, die in den beiden letzten Kriege, die von 1914 bis 1918 und
von 1939 bis 1945 stattfanden, für ihr Vaterland – für Russland, für Polen, für
Frankreich, für England, für Kanada, für Amerika, für Deutschland und... und...
und... ihr Leben verloren haben. Insbesondere aber an all die vielen, die ihr
Leben durch Nazigewalt verloren haben. Gott hab’ sie alle selig.
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Roman Scherer).
Der Beitrag wurde von Roman Scherer auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.09.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
Roman Scherer als Lieblingsautor markieren
Anfang – Ein leiser Traum
von Thorsteiin Spicker
Eine Expedition in dass Auf- und Ab des Lebens, der Sehnsucht und kleine leise Träume, Gefühle aus einer Welt die tief das innere selbst bewohnen, beschreibt der Autor in einer Auswahl von Gedichten die von Hoffnung genährt die Tinte auf das Papier zwischen den Jahren 2002 und 2003 fließen ließen. "Unentdecktes Niemandsland ist immer eine
Herausforderung die Gänsehaut zaubert. Auf den Blickwinkel kommt es an, den man sich dabei selbst zurechtrückt..."
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