Uwe Kuhlmann

Die Frau

Ich stand in keinerlei Beziehung zu dem erwachenden Morgen, doch als ich die Augen öffnete, einen Spalt nur, denn viel mehr vertrage ich nicht nach dem Schlaf, fiel das Licht über mich her, wie eine Invasionsarmee.
Ich lasse mich nicht blenden, im Normalen; hier und jetzt vergaß ich dieses Prinzip. Die Augenlieder fielen herab wie abstürzende Bomber, nur ein Aufprall war nicht zu hören. Ruhe. Stille. Dunkelheit. Darin ich, eingebettet.
Ich kann es nur schwer erklären, aber Zustände kann ich nicht aushalten. Aufstehen, die Augen weit geöffnet, sinnlos zum Fenster gehen, wieder zurück; ich nehme meinen Kreislauf ernst. Ringsherum der neue Morgen.
Wenn ich mich selbst anspiegel und ein überflüssiges Bild von mir mich dupliziert, vergesse ich Minuten, Stunden gar. Kaltes Wasser in meinem Gesicht, der Bart kratzt, die Zahnbürste läuft hochtourig, alles Relikte eines angemessenen Daseins, das überall ist, nur nicht dort, wo ich bin.
Der erste Kaffee! Heiß, in kleinen Schlucken (vorsichtig zu genießen wie eine sich zierenden Geliebte) läuft er vorschriftsmäßig meine Kehle hinab, entfaltet sich und treibt sein Unwesen. Einen Tag lang nicht denken, sage ich mir immer wieder. Immer und immer wieder...
Die Außenwelt macht sich bemerkbar, läßt einen Strom durch meterlanges Kabel fließen, einen tückischen Mechanismus zu seiner schändlichen Existenz erwachen und durch eine als angenehm summend getarnte akustische Aggression wird mir bewußt, daß ich öffnen muß, um nicht aufzufallen.
Ein seltsamer kleiner Mann steht dort, ganz aufrichtig und ohne eine Spur von Verlegenheit beginnt er zu sprechen. Er wisse, so spricht er, um die frühe Zeit und den Umstand, den er wohl bereite. Dennoch, dies betont er als besondere Wichtigkeit, habe er mit mir zu reden und in der Kürze mein Interesse zu wecken.
Ich könnte ihn küssen! Mein Interesse wecken. Ich lächle ihn als kleine Entschädigung an, drücke die Tür sanft wieder zu. Ein weiterer Kaffee, ungeliebter, routinierter, immer noch heiß. Schon der erste Schluck läßt wissen, man bräuchte keine weiteren mehr, es ist nur eine Art Anstand, die zu Ende bringen will, was man angefangen hat.
Ich setze mich an den Schreibtisch. Dann beginne ich zu schreiben, rasch, ziellos, frei fließend...


Kapitel 1

Die böse Frau hatte ihn hintergangen, das wußte er, fing es auf mit Antennen, die kleinste Regungen wahrnahmen, immer wieder nur eingetrübt durch fehlerhafte Voreinstellungen. Schwer lag diese Vermutung auf ihm, so sehr er nach Gewißheit gierte, immer wieder sah er rasch weg, verlegte das letzte Puzzleteil oder setzte es absichtlich an einem falschen Platz ein, damit es kein Gesamtbild ergab. Tatenlosigkeit war die schwerste Form der Hilflosigkeit, die er sich vorstellen konnte. Wie ein Laut, der niemals Wort, schon gar nicht Sprache wird.

Das Klacken der Tastatur, ständige Korrektur, weil die Finger nicht mitkommen mit dem Tempo, zum Ausgleich in fieberhafter Panik doppelt so schnell arbeiten. Eine weitere Zigarette. Ich schrieb mein Inneres und mußte mich darauf verlassen, daß es einen Sinn hatte, ohne den meine gesamte Äußerlichkeit keinen hätte.

Sie würden reden und er würde fragen, immer wieder. Dann würde er nicht mehr fragen, denn er sieht sie an. Eine Erscheinung! Vor ihren Augen machen seine Blicke halt, umkreisen und belauern ihren Ausdruck, der beherrscht, gezähmt und kontrolliert ist. Wie magische Brunnen versprechen sie eine wundervolle Tiefe und schreckliche Gefahr gleichzeitig. Sich in ihnen zu verlieren kann durchaus seinen Tod bedeuten.
Er kann sie fühlen. Ihre Waden liegen auf seinen Beinen, ganz leicht. Sie ist leicht, sie ist Leichtigkeit, sie schwebt und hat trotzdem eine körperliche Fülle. Ein perfektes Desaster, ein Arrangement par excellence, eine Wirklichkeit, die durch die Versprechung ins Unermeßliche wachsen kann. Er kann seine Liebe fühlen, sie hört auf, Beschreibung zu sein, Ausdruck für unbeschreibliche Innerlichkeit, sie ist da, eine wahrhafte Existenz, unleugbar und ohne jeden Zweifel.
Alles ist an seinem Platz. In ihrer Nähe klärt sich alles.

Ich halte an. Mitten im Fortschritt des Tages ein weiteres Mal erwachen, eigenständig, der Natur zum Trotz und ausschließlich zu meiner Befriedigung. Für einen Moment lasse ich mich gehen, die Gedanken träge, wie rücklaufende Wellen, sich an dem Strand der Ausgebranntheit erschöpfend.
Gibt es einen Zufall? Eine einzige Begegnung ist das Resultat von einer Million Zufälligkeiten, die allesamt ihren Part brav gespielt haben. Komparsen meines Dramas, eine Standarte der Unausweichlichkeit, so führen sie mich, der in seiner Vermessenheit immer noch denken will, er würde alleine gehen.
Wie ein hauchdünnes Licht durchscheint sie die knotige Finsternis, mit der ich mich umgebe. Während ich so versuche, meine Oberfläche zu versiegeln, spüre ich, wie etwas aus mir hinaus drängen möchte, wie ihr Licht in mich einfällt und auf Dinge scheint, die nie wieder gesehen werden sollten. Alle zweisamkeitsvermeidenden Strategien erglühen in den trüben Farben der Zwecklosigkeit, aus denen sie gewoben sind. Mein Herzschlag fühlt sich wie das Pochen eines Eingesperrten an, der resigniert ein letztes Lebenszeichen von sich gibt, wohl wissend, daß es ihm an Mut fehlt, den Schlüssel seines Gefängnisses aus eigener Kraft zu drehen.
Meine Gedanken haben ihr gewohntes Muster verloren.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.12.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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