Nina Lochmann

7.20

 

Der Mann war ihr schon vor geraumer Zeit aufgefallen, doch sie hatte sich nie getraut, mehr als einen kurzen Blick in seine Richtung zu werfen. Wie er da so stand, mit dem Pappbecher in der Hand, den er kurz zuvor dem Kaffeeautomaten entnommen hatte, faszinierte sie. Er faszinierte sie. Doch nach einem scheuen Blick wandte sie die Augen von ihm ab und begann, nervös in ihrem Kaffeebecher zu rühren.

Die Nervosität stieg mit jedem Tag. Wenn sie morgens ihre Wohnung verließ, fragte sie sich, ob er wohl wieder da sein würde. Sie fragte sich, ob er wohl wieder seine orangefarbene Hose tragen würde und sehnte sich nach dem Augenblick, in dem er sie entdecken und sie für einen winzigen Augenblick in seinen tiefblauen Augen versinken würde. Es war kaum ein Morgen vergangen, an dem sie sich nicht am Kaffeeautomaten begegneten. Sie freute sich auf den kurzen Moment zwischen 7.20 und 7.23. Irgendwann hatte sie begonnen, ein paar Minuten früher ihre Wohnung zu verlassen, um ihn so abzufangen. Es war ein Ritual, wie ein kleiner Zauber.

Sie stand am Kaffeeautomaten, ließ das Geld in die Ritzen fallen und drückte die Knöpfe. Kaffee, mit wenig Zucker, ohne Milch. Dann stellte sie sich an die Tür der Bahnhofshalle und wartete. 7.20 Uhr. Die S- Bahn fuhr ein und kurz darauf eilte die Menschenmenge an ihr vorbei. Jeder auf dem Weg zu seiner Arbeit, jeder mit seiner eigenen Geschichte. Doch für einen kurzen Augenblick kreuzten sich ihre Wege und all die einzelnen Geschichten vereinten sich zu einem großen Ganzen. Sie entdeckte ihn zwischen der Afro- Amerikanerin im bunten Kleid und dem älteren Herrn mit dem Akten- Koffer. Zielstrebig lief er auf den Automaten zu und fütterte diesen mit seinem abgezählten Kleingeld. Dann betätigte er die Knöpfe. Kaffee, mit wenig Zucker, ohne Milch. Er entnahm den Becher und blieb kurz stehen. Jetzt trafen sich ihre Blicke,7.22, die Zeit blieb stehen.Scheu senkten sich auch diesmal ihre Lider, sie ergriff den Plastiklöffel und rührte in ihrem Kaffee. Als sie wieder aufblickte, sah sie ihn gerade noch um die Ecke biegen. Viel zu kurz erschien ihr dieser Moment, wie jeden Morgen. Doch wie sonst auch schüttelte sie diesen Gedanken ab und widmete sich wieder ihrem Leben. Tagsüber dachte sie nicht oft an den Mann, auch die Abende gehörten ihr allein. Doch sobald sie morgens das Haus verließ, war es da. Das leichte Kribbeln, die Vorfreude auf ihre gemeinsamen zwei Minuten.

An diesem Morgen war sie spät dran und dachte schon, sie würde ihn verpassen. Doch als sie durch die Bahnhofshalle lief, sah sie schon von Weitem seine orangefarbene Hose zwischen den eilig umherlaufenden Menschen aufblitzen. Er steuerte auf den Automaten zu, das Kleingeld klapperte in seiner Hand. Sie wartete an der Ecke, tat so, als suche sie etwas in ihrer Tasche. Da drehte er sich um - 7.21, nippte an seinem Kaffee und ließ den Blick durch die Halle schweifen bis er den ihren gefunden hatte. Eine Sekunde und noch eine- dann sah sie weg. Als sie wieder aufblickte, war er immernoch da. Das war ungewöhnlich für ihn, sie wusste, dass er es immer sehr eilig hatte. Da entdeckte sie ihre Freundin Zoe neben ihm auftauchen. Die beiden begrüßten sich. Das verwirrte sie, wollte dieses Bild doch so garnicht in das alltägliche Geschehen passen. Doch noch ehe sie sich aus ihrer Lethargie befreien konnte kam Zoe lächelnd auf sie zu. Der Mann folgte ihr. "Hallo Lisa," sagte Zoe." Ich möchte dir jemanden vorstellen. Das ist Phillip." Sie blickte in seine tiefblauen Augen und der Mann lächelte sie an. Der Zauber war verflogen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.09.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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