Nina Lochmann

Soraya tanzt nicht mehr

 

"Soraya tanzt nicht mehr." Diesen Satz hörte ich öfter, als ich noch klein war,auch wenn ich ihn damals noch nicht verstand. Meine Großtante Soraya lag im Koma. Das tat sie schon immer. Zumindest, solang ich denken kann. meine Mutter und ich besuchten sie oft im Heim, brachten ihr frische Blumen mit und redeten mit ihr. Meine Mutter las ihr oft aus der Tageszeitung vor, während ich auf dem Boden saß und Bilder malte. An den weissen Wänden des Zimmers hingen viele Bilder, die ich im Laufe der Zeit gemalt hatte. Wenn es in der Schule Zeugnisse gab, hatte ich es meist sehr eilig, ins Heim zu gehen, um meiner Großtante stolz von meinen guten Noten zu berichten. Und wenn ich im Flöten- Unterricht Fortschritte machte, so wollte ich ihr baldmöglichst die neu erlernten Melodien vorspielen.

Später, als ich älter wurde, Besuchte ich sie oft allein. Ich redete mit ihr und laß ihr vor. Mal aus Büchern, mal eigens verfasste Kurzgeschichten, auf die ich immer sehr stolz war.

Eines Tages, ich war gerade 14 Jahre alt geworden, war es beunruhigend still, als ich nach Hause kam. Ich fand meine Mutter mit tränenüberströmten Gesicht am Eßtisch sitzend vor und mein Vater lief mit dem Telefon in der Hand durchs Wohnzimmer. Ich konnte seine Worte nicht verstehen, sie waren fast ein Flüstern. Gerade wollte ich in mein Zimmer laufen, als meine Mutter mich entdeckte und mich zu sich rief. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und versuchte, zu lächeln. Es gelang ihr nicht. Ich fragt sie, was los sei und wagte einen Seitenblick auf meinen Vater, der nun mit dem Hörer in der Hand am Fenster stehen geblieben war und mit nervöser Stimme sprach. " Ich verstehe es ja auch noch nicht so ganz," hörte ich ihn sagen. " Mein Gott, dass dieser Brief 14 Jahre lang verschwunden war! Und niemand kannte ihren Wunsch..."Ich sah wieder zu meiner Mutter hinüber. Sie wischte sich erneut mit dem Taschentuch über die Wange und schniefte kaum hörbar. Mein Vater verabschiedete sich nun von seinem Gesprächspartner und legte auf. " Sie werden die Geräte morgen abstellen," hörte ich ihn leise sagen und wusste im ersten Moment nicht, wovon er sprach. Er sah mich nun direkt an und fuhr fort:" Es ist ein Brief aufgetaucht, den Tante Soraya vor vielen Jahren geschrieben hat. Darin steht, dass im Falle eines Hirntotes auf lebenserhaltende Maßnahmen verzichtet werden soll. Sie ist schon so lang in diesem Zustand..." Die letzten Worte kamen flüsternd. Eine Woge der Übelkeit überkam mich, als ich begriff, worum es ging. Meine Mutter muß die Angst und die Unsicherheit in meinem Blick gespürt haben,denn sogleich fasste sie sich ein wenig, nahm mich in den Arm und sagte in liebevollem Ton: "Maya, Schatz..." Weiter kam sie nicht. Eine erneute Welle der Übelkeit überfirl mich. Ich hatte das Gefühl, nicht atmen zu können. Das konnte nicht sein. Es durfte nicht sein, dass Tante Soraya jetzt sterben sollte! Sie war ein Teil meines Lebens, auch wenn ich sie nur stumm und schlafend kannte. Ich war wütend und traurig und wollte nur noch weg. Ich entriß mich der Umarmung meiner Mutter und rannte los. Wollte nur noch allein sein mit meinem Schmerz und begreifen, was eben geschehen war. Mit einem lauten Knall flog die Zimmertür hinter mir zu.

Einige Zeit später stieg ich die Leiter zum Dachboden hinauf. Ich wusste, das hier ein Teil von Sorayas Besitz verwahrt wurde. Als ich klein war hatte meine Mutter manchmal in ihnen gestöbert, hatte mir Bilder und Briefe von meiner Großtante gezeigt und ein paar vergilbte Programmhefte. Tante Soraya war einmal eine berühmte Tänzerin am Hamburger Staatstheater gewesen. Das war vor ihrem Unfall. Ich arbeitete mich durch Kisten mit Büchern, Kinderkleidung und meinen alten Spielsachen, bis ich auf einige braune Kartons stieß, auf denen Sorayas Name stand. Vorsichtig öffnete ich den ersten und sog den vertrauten Duft ein, der aus ihm entströmte. Die Kiste enthielt Fotos und einige Gegenstände, die ihr wohl einmal wichig gewesen waren. Jeden kleinen Zettel hatte meine Mutter verwahrt, wohl in dem Glauben, dass die Besitzerin ihn eines Tages wieder haben möchte. Soraya war eine bildhübsche Frau, ging es mir durch den Kopf, als ich die Fotos eines nach dem anderen aus der Kiste nahm. Auf manchen war sie mit Schauspiel- Kollegen vom Theater zu sehen, auf anderen allein. Und immer lächelte sie. " Sie lächelt wie ich," schoß es mir durch den Kopf und ich staunte mal wieder über die Ähnlichkeit, die uns verband. Als ich die erste Kiste fast geleert hatte und die teiweise vergilbten Fotos mich wie ein Meer aus Erinnerungen umschlossen, fiel mir ein kleines rotes Buch in die Hände. Es war in Leder gegunden und mit einem kleinen goldenen Schloss versehen. In verschnörkelten goldenen Buchstaben stand das Wort DIARY vorne auf dem Umschlag. Mein Herz begann, wie wild zu schlagen, als ich das Tagebuch behutsam in meinen Händen drehte.Der Schlüssel steckte im winzigen Schloss und ließ sich leicht drehen. Ich klappte das Buch auf und begann, zu lesen. "7. März. Heute habe ich erfahren, dass Eva ein Kind erwartet. Meine kleine Nichte, wer hätte das gedacht? Ich bin sicher, dass es ein Mädchen wird. Ob sie wohl auch eine Prima Ballarina wird?" Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich den Namen meiner Mutter auf dem gelblichen Papier las. Ich blätterte ein paar Seiten weiter. " 24. April. Eva war heute beim Ultraschall. Habe ich es nicht gesagt? Ein Mädchen! Ich werde ihr vorschlagen, es Maya zu nennen- wie die Göttin. Sie wird eine Göttin sein. Meine kleine Göttin." Tränen liefen mir übers Gesicht und ich legte das Buch kurz zur Seite. "Kleine Göttin," hatte Großtante Soraya mich genannt. Ich war gerührt. Ich blätterte weiter und begann zu lesen. "18. Januar. Ich war gerade bei Eva und Klaus. Es schneit heftig und ist kalt wie schon lang nicht mehr. Die kleine Maya entwickelt sich prächtig. Schade, dass meine biologische Uhr fast abgelaufen ist. Ich habe mir immer ein kleines Mädchen wie Maya gewünscht. Wenn sie mich anstrahlt ist das schöner, als jeder Applaus auf der Bühne. Sie ist ein kleiner Sonnenschein. Ich freue mich auf den nächsten Besuch bei Eva und Klaus." Das war der letzte Eintrag. Es folgten etliche leere Seiten und eine böse Vorahnung.

Mit dem Buch in der Hand stieg ich wenig später die Treppe hinunter und ging ins Wohnzimmer. Mama und Papa saßen am Eßtisch, jeder hatte ein Glas Wein vor sich stehen. Als Mama mich erblickte, lächelte sie mir zu und deutete auf den leeren Stuhl zwischen ihr und Papa. " Setz dich, Liebling," sagte sie mit ihrer sanften Stimme. Ich setzte mich auf den Stuhl und umklammerte das kleine rote Buch. " Was ist mit ihr passiert?" fragte ich nun und Mama stand sogleich nickend auf und lief zum Wohnzimmerschrank. Mit einem kleinen Fotoalbum kam sie zurück zum Tisch. Als sie das Album an einer bestimmten Stelle öffnete, erblickte ich den Zeitungsartikel mit der Überschrift" Theaterschauspielerin bei Verkehrsunfall tödlich verunglückt." Ich sah das Bild an auf dem ein blauer Golf zu sehen war, der zerbeult in einem Straßengraben lag. Ich begriff sofort.

Lange saß ich an diesem Abend mit meinen Eltern beisammen, sie berichteten mir von Sorayas Leben und von ihrem Tod. Noch viele Jahre später fragte ich mich immer wieder, warum das Auto, in dem Soraya mit drei Schauspiel- Kollegen gesessen hatte, in einer schneereichen Nacht, als ich gerade 5 Monate alt war, verunglückte. Und noch lange nach ihrem entgültigen Tod hörte ich sie mich " kleine Göttin" rufen, wenngleich ich ihre Stimme nie gehört hatte. Spät an diesem Abend, als schon lange ein tiefes Schweigen am Tisch geherrscht hatte, fiel ich in die Stille ein. "Mama," sagte ich mit fester Stimme, " ich möchte Balett- Stunden nehmen!" Meine Mutter lächelte mich an und ich konnte ihrem Blick entnehmen, das sie unsagbar stolz auf mich war.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.09.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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