Leonie Trawitzki

Arme Ich






                                 ARME
ICH




 
 
Es ist zehn
Uhr fünf. Ich renne hektisch den langen Schulgang entlang und hoffe,
dass ich gleich nicht von meiner Lehrerin gefressen werde. Ich bin
schon zwei ganze Stunden zu spät, meine Jacke ist kaputt und ich
habe den letzten Bus, der morgens noch zur Schule fährt, auch
verpasst. Das kann ja heiter werden ...
Ich habe jetzt die Tür
erreicht und wenn mein Herz, das wie verrückt rast, ein Auto wäre,
dann wäre ich meinen Führerschein jetzt los. Oh mann, was mach' ich
denn jetzt? PAAANIK!!!
Na gut, es muss sein. Ich gehe jetzt in
genau dieses Zimmer rein und vielleicht überlebe ich diesen Tag ja
doch noch, höre ich mich sagen. Also schön, wie man immer so nett
sagt: Augen zu und durch!
,,Na, kommt das Fräulein Becker auch
noch?", fragt meine Lehrerin, die schon auf 180 ist.
Ich weiß
ganz ehrlich nicht, was ich jetzt machen soll und sage deshalb
erstmal: ,,Ja."
,,Also, Leonie, hast du uns vielleicht
irgendetwas zu sagen?" Scheisse, denke ich, Entschuldigung - ich
meine natürlich: So ein Mist aber auch! Ich steuere schon mal die
Richtung Sitzplatz an, aber meine Lehrerin stellt sich vor mich, wie
ein drei Meter großes Hindernis vor ein Pferd. Und da muss ich
leider feststellen, dass es für mich doch kein Entkommen und somit
auch kein Happy End zum Thema ,,den Tag überleben" mehr
gibt.
,,Ich höre ..." Wie so eine Schlange, die den
Weltrekord zum meistgiftigsten Tier aufgestellt hat, schaut sie mich
an und ich wundere mich, dass ich noch stehe und nicht tot umgefallen
bin, wie schon so oft. ,,Ich, ähm ...", stottere ich, ,,Ich
habe den Bus verpasst." ,,Soso, den Bus verpasst ...",
wiederholt mich meine Lehrerin in einem derart nachdenklichen Ton,
sodass man sofort merken kann, dass sie jeden Moment Gefallen daran
finden wird, wie ein irrer Wecker hochzugehen. Ich halte mir in
Gedanken schon mal die Ohren zu. ,,Und sowas wie Züge gibt es hier
in der Gegend wohl nicht ...", fügt meine Lehrerin ironisch
hinzu. ,,Aber um die Zeit fährt bei mir keiner", meine ich,
,,Erst wieder drei Stunden später." ,,Und dein Bus?",
seufzt sie. ,,Der auch." Hoffentlich lässt die mich bald gegen
...
Aber stattdessen lehnt sie sich an das Pult und will sich
wahrscheinlich wieder eine meiner bekannten Stories anhören. Ich bin
nämlich ganz gut im Geschichten erzählen, vor allem, wenn es darum
geht, dass ich wieder zu spät bin. ,,Und warum hast du den Bus
verpasst?"
Sieht man doch, denke ich mir. Ich bin heute nur
in einem dicken Pulli zur Schule gekommen.
,,Meine Jacke ist
kaputt", antworte ich stattdessen. ,,Aha, die jacke ist Schuld",
macht mich meine Lehrerin runter. Ich nicke mit dem Kopf. ,,Und warum
ist die Jacke kaputt?", fragt sie weiter. Is' ja
Waaaaaahnsinn!!! Eigentlich hätten in so einer Situation sogar die
tauben Leute ihr Gehör zurückbekommen, spätestens jetzt. Jetzt
wäre eigentlich so die Zeit gewesen, wo meine Lehrerin rumgeschrien
hätte wie eine Irre. Naja, eigentlich geht es sie ja wirklich nichts
an, aber um mir nicht noch mehr Ärger einzuhandeln, sage ich:,,Ich
wollte ja zum Bus gehen, aber da war so ein bekloppter Hund, der ist
auf mich zugerannt, als wäre ich jemand, auf dem ,Hundefutter'
draufsteht. Weil ich es eh' schon eilig genug hatte, hatte ich
Zuhause keine Zeit mehr, mir meine Jacke anzuziehen. Tja - und weil
ich sie mir über den Arm gehängt habe, hat sie sich der Hund
geschnappt und erstmal wie einen Knochen bekämpft!" Und während
ich da so erzähle, was mir heute Morgen passiert ist, machen meine
Lehrerin und der Rest der Klasse Augen, wie solche Aquariumfische.
,,Zum Glück hat das der Besitzer noch gesehen", erzähle ich
weiter, ,,Der hat seinen Hund wieder zurückgepfiffen, sonst hätte
ich vielleicht auch noch dran glauben müssen ... Tja, ich hab' meine
Jacke genommen, bin wieder rein in die gute Stube und hab's meiner
Mutter gezeigt. Mein Bus war dann natürlich über alle Berge und der
Zug, der um die Zeit noch gefahren ist, natürlich auch." ,,Und
die Jacke?", fragt meine Lehrerin jetzt in einem ganz anderem,
einem normalerem Ton, der nicht so schädlich für meine Ohren ist.
,,Die Jacke ist im Eimer", antworte ich, ,,Wer zur Trauerfeier
kommen will, ist herzlich willkommen." Die anderen lachen zwar,
aber meiner guten Frau Lehrerin ist wohl noch nicht danach, aber dann
kann sie es sich doch nicht mehr verkneifen, einmal zu grinsen. Dann
wird sie aber wieder ernst, ganz zu meinem Leiden. ,,Aber deine
Mutter hätte dich doch fahren können", meint meine Lehrerin.
,,Hat sie auch, aber zum Arzt", antworte ich und alle starren
wie so versteinerte Ausstellfiguren auf meinen Verband, den mein
rechter Arm jetzt auch noch ertragen muss. Auch schon gemerkt, ihr
Blitzmerker?, denke ich ich mir und bin deprimiert, weil ich daran
denken muss, dass der Arzt gesagt hatte, dass ich meine Reitstunden
erst mal vergessen kann. ,,Der Hund war's", sage ich dann
anschließend zu meiner Lehrerin, de gerade damit angefangen hat,
Mitleid für mich zu empfinden - die Premiere!!! Und weil ich
natürlich nicht doof bin und immer noch von
durchsichtigen Seilen
an den Eingang gefesselt bin, nutze ich diesen Moment aus, um doch
noch einmal meinen Platz zu erreichen. Und während meine Lehrerin
immer noch staunt, packe ich in aller Seelenruhe meine Schulsachen
aus. Da finde ich auch meine Strichliste, die ich mal angefangen
habe, wieder. Das ist eine Strichliste, die einem irgendwann mal
zeigen kann, wie oft ich in der Schule schon wegen so etwas wie heute
gestorben bin. Ich mache wieder einen halben Strich. Jemand hat mal
gesagt, dass ich den Katzen immer ähnlicher werde. Ich überfliege
die Liste nochmal. Insgesamt drei Striche habe ich schon, also müsste
ich doch noch vier Leben haben.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.09.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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