Simona Bianco

Psychose - Teil 1: Persönlichkeitsstörung oder Puppenhaus?

 "Das Leben war nicht immer, nicht immer gut zu mir. Licht und Schatten steh'n gemeinsam vor der Tür. Das ist mein Leben, vielleicht soll es so sein? Eine Reise durch den Wahnsinn, durch Licht und Dunkelheit, man muß wohl erst ganz unten sein, um oben zu bestehen. Bis zum Hals in Scheiße steh'n, um wieder Land zu sehen..." (Quelle: Böhse Onkelz)

 

Ist nicht jeder von uns irgendwann an einem Punkt in seinem Leben angelangt, an dem er sich fragt: "Wozu das alles?" An dem er alles bisher erlebte in Frage stellt? Manchmal stelle ich mir vor, dass ich vielleicht gar nicht real bin, sondern virtuell. Ich male mir aus, dass meine Welt gar nicht existiert, sondern alles nur Schein ist. Auf der einen Seite eine erschreckende Vorstellung, auf der anderen Seite ein intensiver Wunsch nach Freiheit und Ruhe.

 

"Ich bewege mich jeden Tag zwei Meter über meinem Grab. Sag mir, was soll ich hier, wenn Worte ihren Sinn verlieren? Eine Stimme spricht zu mir:"Ich bin schon viel zu lange hier!" (Quelle: Böhse Onkelz)

 

Kann der Wunsch nach Freiheit in einem Menschen so groß werden, dass er sich den Tod wünscht? Mein ganzes Leben lang war ich schockiert über die Berichte von Menschen, die sich selbst das Leben genommen hatten. Ganze Familien wurden durch Väter ausgelöscht, die keinen Sinn oder Mut zum Weiterleben fanden. Oder war es gar nicht so? Darunter werden doch auch Menschen gewesen sein, die gefühlt haben wie ich, die keinen Sinn in ihrem Dasein mehr gesehen haben, oder? Ein großer Teil der Menschheit steht jeden Morgen auf, um zur Arbeit zu gehen. Die einen genießen ihren Job, die anderen schleppen sich gezwungenermaßen zu ihrem Job. Vielleicht kennen Sie den Film "Und täglich grüßt das Murmeltier". Sie werden sagen, jeder ist selbst für die Gestaltung seines Lebens verantwortlich. Sie werden sagen, ändere das, was Dich stört. Kennen Sie auch die Momente im Leben, die Sie zu lähmen scheinen? Momente, in denen Sie keinen einzigen, klaren Gedanken fassen können? Und zwar aus dem Grund, weil es Ihnen so vorkommt, als dass Sie nicht IHR Leben führen, sondern das eines anderen? Vermutlich nicht.

 

Ich kenne solche Momente. Ich erlebe sie jeden Tag. Manchmal schließe ich die Augen und erinnere mich - sehr oft - an mein Puppenhaus, das ich als Kind geliebt habe, mit dem ich fast täglich gespielt habe. Und heute sehe ich dieses Puppenhaus in Lebensgröße vor mir stehen. Im Inneren dieses Puppenhauses findet mein Leben statt. Das Haus hat fünf Zimmer. In einem Zimmer spielt sich meine Ehe ab. Das Zimmer liegt im Erdgeschoß rechts. Im Erdgeschoß links spielt sich die Beziehung zu meinem Sohn ab. Im Flur des Erdgeschosses stehe ich - allein und ratlos, in welche Richtung ich gehen soll. Im ersten Obergeschoß links spielt sich die Beziehung zu meiner Mutter ab. Im ersten Obergeschoß rechts finde ich meinen Job, in dem ich allein für vieles verantwortlich bin. Im mittleren Zimmer im ersten Obergeschoß, dem Wohnzimmer, finde ich mich und meine Freunde wieder. Ein Haus, ein einziger Maskenball. Das schlimme an diesem Haus ist, dass es keinen Raum gibt, in dem nur ich existiere.

 

"Laß mich gehen! Kannst Du nicht sehen? Es nicht verstehen? Ich bin nicht das, was Du aus mir machst. Ich bin nicht der, von dem Du wünschst, daß ich es wär'!" (Quelle: Böhse Onkelz)

 

Wollen wir die Räume in dem Puppenhaus betreten? Nein. Es ist erschreckend, dass ich gezwungen bin, mir Ruhe durch das Tragen von unterschiedlichsten Masken zu erkaufen. Trage ich die Masken nicht, bin ich in meinem Puppenhaus nicht nur allein, sondern noch einsamer als ohnehin schon. Mein Mann sagt zu mir: "Wofür ziehst Du dieses Show ab? Das verletzt. Ich will Dein wahres Gesicht.". - Er meint das bestimmt nicht so. Er sagt das, weil er nicht weiß, dass er mich verlassen wird, wenn ich mein wahres Gesicht zeige. Sagen Sie nicht, ich könnte das nicht wissen. Ich weiß es. Ich habe es oft versucht. Jedesmal endete es damit, dass mein Mann mich verlassen wollte. Kann denn wirklich niemand mit mir leben? Warum kann mein Mann nur mit seiner Ehefrau leben? Warum kann meine Mutter nur mit ihrer Tochter leben? Warum kann mein Sohn nur mit seiner Mutter leben? Warum zur Hölle kann niemand mit mir leben? Mit mir, dem Menschen, der ich wirklich bin, mit dem Menschen, der sich hinter diesen unzähligen Masken verbirgt?

 

Welchen Schluß ziehen wir nun letztendlich aus dieser Erkenntnis? Aus der Erkenntnis, dass niemand mit meinem wirklichen ICH leben kann? Richtig! Es können nicht alle Menschen schlecht sein, sondern es muss zwangsläufig an mir liegen. Wußten Sie, dass das Wort "asozial" aus dem Griechischen stammt und übersetzt ungefähr "gemeinschaftsunfähig" bedeutet? Das Witzige an Asozialen ist, dass sich die Frage stellt, wer eigentlich über sozial und asozial entscheidet. Wer setzt diesbezüglich die Maßstäbe? Ich selbst sage von mir, dass ich in meinem Innersten (gemessen an den Werten meiner Mitmenschen, bzw. Mitbewohner) absolut asozial bin. Ich halte absolut gar nichts von dem, wonach der Großteil der Menschen strebt. Das ist nicht weiter schlimm. Nennen wir mich mit dieser Einstellung doch "asozialer Rebell". Wonach strebe ich?

 

Was ist es, das ich will, aber - aus meiner Sicht - niemals haben kann? Was ist es, das ständig an mir frißt und zerrt, mich zermürbt, mich erstarren und erfrieren lässt? Ist es ein Versuch, mich aus einem Gefühl der Minderwertigkeit zu befreien? Verletze ich andere, um ein Gefühl der Überlegenheit zu spüren oder nur, um mich selbst zu schützen? Was ist die Kraft, die mich treibt? Die mich am Leben hält? Die mich am Sterben hindert? Kennen Sie den Satz: Zum Leben zu wenig, zum Sterben zuviel. Genau in dieser schön umschriebenen Grauzone halte ich mich mein Leben lang auf. Wir sind wieder am Anfang. Ich kann nur existieren, wenn ich ein Leben in Phantasie und Einbildung lebe. Immer wieder ergreife ich Vorwände, um Lebensfragen ungelöst zu lassen. Warum? Wenn ich so durch diverse Enzyklopädien streife, erschreckt mich immer wieder, was ich über mich selbst lerne. Worte und Erklärungen, durch die ich mich definieren kann, Beginne ich mit der Definition "paranoide Persönlichkeitsstörung". Ich bin gekennzeichnet von tiefem Mißtrauen, Streitsucht, dauerndem Groll, starker Selbstbezogenheit und ständiger Annahme von Verschwörungen. Handlungen und Äußerungen anderer Personen mir gegenüber deute ich häufig als feindlich oder verächtlich, natürlich auch dann, wenn dem gar nicht so ist. Aber das scheint mir nicht zu genügen. Denn während ich mich so weiter durch das Thema der "Persönlichkeitsstörung" schleiche, glaube ich zu erkennen, dass irgendwie sehr viele Paare an Schuhen in meinem Flur stehen, die nur darauf warten, dass ich sie anziehe. Soll ich mal in ein Paar hineinschlüpfen?

 

Schauschuhlaufen. Meine emotionale Kälte, Distanziertheit oder Gleichgültigkeit sowie mein Mangel an Erkennen und Befolgen gesellschaftlicher Regeln (womit wir wieder bei dem Punkt asozial wären!) nennt sich im Fachjargon "schizoide Persönlichkeitsstörung". Okay, sodann ziehe ich diese schizoiden Schuhe wieder aus und betrachte aus sicherer, enzyklopädischer Entfernung das nächste Paar Schuhe. Das hübsche Paar trägt den Namen "dissoziale Persönlichkeitsstörung". Dissozial, asozial, voll normal? Hä? Ist meine Schwelle für aggressives Verhalten wirklich unnatürlich niedrig? Bin ich wirklich verantwortungslos? Fehlt mir Schuldbewußtsein? Warum lerne ich nicht aus Fehlern oder Bestrafungen? Warum suche ich die Flucht in Drogen oder Alkohol? Oh man..bei sovielen Persönlichkeitsstörungen komme ich nicht umhin mich zu fragen, ob ich überhaupt noch eine Persönlichkeit habe.

 

Manchmal handele ich in der Tag impulsiv und ohne jegliche Rücksicht auf die Konsequenzen (Fremdwort! Zeit, dass es mir jemand erklärt!). Meine Stimmung ist tatsächlich in der Lage, innerhalb einer Stunde mehrfach zu wechseln! Ich bin unfähig, voraus zu planen und drehe meist grundlos durch. Und das ganze in Begleitung heftigster Zornausbrüche. Fachchinesische "emotional instabile Persönlichkeitsstörung".

 

Ich übertreibe ständig maßlos, steigere mich in negative Dinge rein und stelle diese dann in einer nahezu perfekten, theatralischen "Ein-Frau-Show" dar. Ich bin oberflächlich und labil, leicht zu beeinflussen und verspüre dauernd den Drang nach Anerkennung. Psychologen nennen mein Verhalten eine "histrionische Persönlichkeitsstörung".

 

Ich bin fest davon überzeugt, ständig abgelehnt, unattraktiv und minderwertig zu sein. Dauerstrom. Angespannt. Von den Haaren bis in den kleinen Zeh. An Schlaf ist ohne Tabletten nicht zu denken. Ja, ja, nicht so ungeduldig: "Ängstliche Persönlichkeitsstörung" nennt man das. Die Regale in dem Psycho-Schuhgeschäft nehmen kein Ende. Alle Farben und Formen sind vertreten. Und das schlimmste ist: Fast alle Paare gibt es in meiner Größe, und wenn ich sie mir anziehe, dann passen sie auch noch wie angegossen. Wie der Schuh von Aschenputtel quasi. Verdammt. Schockierend. Kann ich eigene Entscheidungen treffen? Kann ich auch ohne die Hilfe anderer Leute klarkommen? Bin ich verhältnismäßig nachgiebig anderen gegenüber? Bin ich in der Lage, nicht ständig zu befürchen, einen geliebten Menschen zu verlieren? Die Antwort auf diese Fragen lautet "nein". Ich kann alle Fragen klar mit nein beantworten und leide somit zudem auch noch an einer "abhängigen Persönlichkeitsstörung". Multiple Persönlichkeitsstörungen.

 

Selbstbewußtsein habe ich nicht. Ich hasse mich selbst. Mein Hass richtet sich mehr gegen mich als gegen andere, was mich in den Kreis der "narzisstischen Persönlichkeitsstörung" aufnimmt. Hervorzuheben sei an dieser Stelle allerdings, dass ich freudestrahlend mitteilen kann, nicht an einer "anankastischen Persönlichkeitsstörung" zu leiden. Das ist doch ein Fortschritt! Was kann man gegen diese multiplen Persönlichkeitsstörungen tun? Sich einer vertrauensorientierten Psychotherapie unterziehen. Das tue ich. Seit vier Jahren. Mit Erfolg? Nun ja...mit kleinen Erfolgen und größteren Rückschlägen, aber das gehört dazu, sagt mein Gehirnmanipulator.

 

Kommen wir nochmal zurück zu dem Wort "Konsequenz". Das Wort stammt aus dem Lateinischen und bedeutet "folgen, erreichen". Es heißt, aus dem Sachverhalt A folgt der Sachverhalt B, den man sodann Konsequenz nennt. Vielen Menschen (die meisten eigentlich) sind sich der Konsequenz ihres Handelns nicht bewußt. Ich persönlich kann mich nicht daran erinnern, mir jemals einen Kopf über Konsequenzen gemacht zu haben. Jedenfalls nicht bewußt. Klar, ich weiß, dass mein Mann mich verlassen wird, wenn ich fremdgehe. Also gewisser Konsequenzen bin ich mir durchaus bewußt. Aber wieso kann ich nicht im voraus darüber nachdenken, sondern stolpere quasi danach über die Konsequenz, um mich dann in einem Meer diverser Persönlichkeitsstörungen wieder zu finden?

 

Bin ich wirklich suizidal? Stehe ich dem Wunsch zu sterben ambivalent gegenüber? Meine Gedanken und Phantasien kreisen immer öfter um die Vorstellung, wie es wohl wäre, tot zu sein. Suizidgefährdung sehe ich allerdings nicht. Ich habe mir bis dato noch keine Gedanken darüber gemacht, wie ich sterben möchte. Oder ob ich wirklich in der Lage wäre, mich selbst zu töten. Jedenfalls nicht bewußt. Ruiniere ich meine Gesundheit, um den Vorgang zu beschleunigen? Ist es nicht so, dass meine Seele bereits vor vielen Jahren gestorben ist, und ich jetzt nicht nachvollziehen kann, warum mein Körper ihr nicht folgt?

 

Ich halte Sie auf dem Laufenden. Begleiten Sie mich auf meiner Reise durch mein innerstes Selbst. Teilen Sie mit mir die Erfahrungen und Erkenntnisse. Oder lernen Sie daraus, was ich nicht lernen kann, denn das wäre eine große Hilfe für mich: mein Dasein bekäme wieder einen Sinn!

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.09.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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