Klaus Lutz

Der Arztbesuch 25 (n. Fassung)


Ich weiß nicht, ob ich die Kraft habe überhaupt einen
Satz zu schreiben. Ich sehe es nun, das ich wahnsin-
nig bin. Ich bin gefallen. Gefallen! Gefallen! Gefal-
len. Tief! Tief! Tief! Aber ich sitze hier. Und was
es auch immer ist. Es ist noch da. Der Rest von Kraft.
Der Rest von Leben. Der Rest von Willen. Und bei all
diesem Fallen. Bei all der Dunkelheit um mich her.
Schliesse ich die Augen. Und weiß es. Ein paar Far-
ben sind es noch. Sie sind noch da. Es sind Wälder,
Berge, Wüsten und Oasen. Es sind Menschen. Es ist La-
chen. Es sind die anderen Menschen. Die Lebendigen
Menschen. Der Spaß! Der Charme! Die Freiheit! Es ist
das Leben! Jeder Gedanke ist Freude. Alles was ich
will ist Freude. Und all das um mich her ist Liebe.

Ich habe mit Freunden, mit anderen Reisenden auf
einem Dach in Quetta übernachtet. Es ist Morgen.
Die Sonne geht auf. Es gibt frischen Tee. Es gibt
Unterhaltungen, die Wunderbar sind. Alles stimmt. Es
ist ohne Lüge. Es ist ohne jede Falschheit. Es ist
das Leben. Oder das was Menschen sind, die zu Leben
wissen. Es ist Freiheit. Und es sind Menschen, die
sie wieder entdeckt haben, diese Freiheit. Sie
ist wieder da, diese Freiheit. Sie ist da für ihr
Leben. Für das ganze Leben. Sie ist das Denken. Sie
ist jede Zelle des Körpers. Jeder Gedanke ist die
Eroberung von neuem Leben. Jede Bewegung ist die
Entdeckung von neuem Leben. Ich sitze mit Ihnen auf
diesem Dach. Ich habe schon alles eingepackt. Hosen
die ich einen Tag vorher gewaschen habe. Und eine
Decke. Ich reise mit einer kleinen Stofftasche.
Dann laufe ich durch die Strassen. Gehe in eine
Teestube. Besuche ein Restaurant. An den Strassen-
rändern sitzen Leute, die aus Autoreifen Schuhe
fertigen. Und aus Coladosen Becher. An den Strassen
gibt es kleine Geschäfte. Und ich sehe mir das al-
les an. Die Gebäude gefallen mir. Sie sind Ein oder
Zweistöckig. Geweißt. Ganz einfach.
Es ist das was ich mehr und mehr sehe. Hinter all
dem. Die Menschen haben das Nötigste. Das was sie
brauchen. Die Häuser sind nicht größer als nötig.
Das Inventar ist nicht mehr als nötig. Die Mensch-
en arbeiten. Abends treffen sie sich in den Tee-
stuben. Es ist Palaver und Lachen. Und alle sind
irgendwie zufrieden.

Es ist so, der Himmel hat Augen die nur Lächeln!
Die Strassen haben Augen die nur Lächeln. Das Le-
ben hat Augen, die nur Lächeln. Alles besitzt die-
se Offenheit. Und dieses Offenheit ist es. Sie ist
ohne Mißverständnisse. Es hat einfach alles so ei-
ne Freundlichkeit. Unter den Reisenden kann ich
mit jedem reden, wann immer ich will. Ich sehe eine
Frau die mir gefällt. Rede mit Ihr. Habe ein gutes
Gespräch. Und es war schön. Sie ist fremd. Ich ha-
be sie nie vorher gesehen. Ich werde sie nie mehr
sehen. Es ist dieses Leben. Ich sehe mir die Dinge
an, die Schön sind. Ich rede mit den Menschen, die
Schön sind. Ich geniesse die Dinge, die Schön sind.
Es sind die Augen für das Leben. Mit denen ich die
Augen des Lebens entdecke. Es sind diese Augen die
es mir sagen: "Wie sehr mich das Leben liebt!" Und
das ist es: "Das Reisen!" Ich habe eine Welt verlas-
sen die Blind ist. Ich habe eine Welt verlassen mit
Menschen, die nichts mehr sehen. Hier sehe ich einen
netten Mensch. Gehe auf Ihn zu. Will mit Ihm reden.
Und bin der Verrückte. Es ist das Leben. Die Offen-
heit, die in diesem Land wo ich lebe verloren gegan-
gen ist. Es ist dieses Land, wo es für alles Gesetze
gibt. Und diese Gesetze sind so perfekt. Das die
Menschen nur noch alles Falsch machen können. Also
machen sie überhaupt nichts mehr. Sie Arbeiten, le-
gen sich vor den Fernseher. Und das ist ihnen ge-
blieben. Das Einzige, wo sie nichts falsch machen
können. Alles andere endet wie bei mir. In dieser
Zelle. Hochsicherheitsverwahrung! Denn ich habe ver-
sucht zu leben. Ich wollte etwas vom Leben wissen.
Und das ist mehr als Arbeiten und Fernsehen.
Und all das, was mehr ist als das, ist eben gefähr-
lich. Und es ist auch so. Es endet in Kleinkriegen.
Es endet in Nervenzusammenbrüchen. Es endet beim Psy-
chiater. Der Versuch Freiheit zu finden, endet da wo
er nur in diesem Land enden kann. Er endet im Wahn-
sinn. Es ist so. Jeder der hier in diesem Land. Das
findet, was die Freiheit ist. Er wird im Wahnsinn enden.
Er wird dem Wahnsinn verfallen. Er wird wahnsinnig.
So wie ich es geworden bin. Ich bin die Freiheit!
Aber für alle ein Wahnsinniger. Es ist diese Blind-
heit um mich her. Sie kennt das Leben nicht. Sie weiß
nichts. Das was Freiheit ist ist ihr Fremd. Sie be-
sitzen ihre Lügen. Und die vollkommenheit, mit der
sie Lügen. Die Vollkommenheit mit der sie zerstören.
Es ist die Blindheit die mich umgibt: "Und was wahre
Schönheit ist. Und das was ich bin. Sie wird es zer-
stören. Sie wird mich zerstören!"

Und ich sehe es klar: "Es ist die Welt um mich her,
die wahnsinnig ist!" Ich meine, was stimmt noch.
Wer sagt noch, was er wirklich denkt. Wer lebt noch
das, was er gerne leben möchte. Wer versucht es
noch, das Leben noch zu sehen. Wer will sich noch
darüber klar werden. Wer er ist. Was diese Welt ist.
Und, was dieses Leben überhaupt ist. Niemand will
das mehr. Keiner will es Wissen: "Das, was ihn Zwei-
feln läßt!" Denn jeder ahnt es. Es würde dann etwas
Neues beginnen. Dieses Denken: "Brauchst Du wirk-
lich einen Fernseher? Brauchst Du wirklich ein Auto?
Brauchst Du wirklich eine Stereoanlage?" Ist es nicht
so: "Wenn Du richtig lebst. Dann ist das ganze Leb-
en nur Musik. Dann ist das ganze Leben das beste
Fernsehprogramm. Dann ist das ganze Leben
eine Spazierfahrt!" Und jeder Tag ist irgendwie Ur-
laub. Und einfach nur schön. So oder so ähnlich be-
ginnt das Wahre. Mit dem Leben, das alles ist. Und
das all das, was für uns alles ist, nicht benötigt.
Dieses leben braucht nichts. Es hat alles für uns.
All das was nötig ist. Das wahre Leben ist anders,
als das was wir Leben. Ich stelle also fest: "Die
Welt um mich her ist wahnsinnig. Und nicht ich bin
der Wahnsinnige!" Ich habe nur das wahre Leben ent-
deckt. Das was für die Welt um mich her der Wahn-
sinn ist. Und nur der Wahnsinn sein kann. Das ist die
Wahrheit. Und deswegen sitze ich in dieser Zelle.
Die Welt um mich her ist wahnsinnig. Sie will
nicht das wahre Leben. Und deswegen hat sie all
ihre Komplexe auf mir abgeladen. All ihre Lügen.
All ihre Dummheit. Und ich bin mir sicher. Diese
250 kilo meines Körpergewichtes. Jedes einzelne
Gramm von Ihnen ist nur Eins. Es ist der Wahnsinn
dieser Welt. Nun ist es mir klar. Den Himmel mit
all seiner Schönheit. Die Menschen werden ihn immer
wieder zerstören. Sie sind nicht reif für Ihn. Sie
werden nie Reif, für ihn Sein. Ich war es: "Der
Himmel mit all seiner Schönheit!" Ich war die letzte
Hoffnung der Welt. Ich war es. Und sie haben mich
getötet. Die Welt wird untergehen. Sie ist verlo-
ren. Die Liebe ist besiegt. Die Dummheit und ihre
Lügen haben gewonnen.

Und ich sehe den Sieg der Wahnsinnigen. Diese Fett-
wülste so Endlos. Dieser Geruch des Körpers. Die
Ströme von Schweiß! Das Innenleben. Dieses gurgeln,
blubbern und rumpeln. Und all das was sich dan ent-
lädt. Wie das Donnern von Kanonen. Dieser Krieg
den die Welt verliert. Und diese letzten klaren Ge-
danken. Die an Gebirgen von Wahnsinn verenden. Und
diese Arme. An denen das Fleisch hängt. So als sei
es vorbereitet. Für ein letztes Fest. Diese Finger,
die in diese Maschine schrein. In ein endloses Uni
versum wo alles Verhallt. In Millionen von Stimmen.
Gerede und Gerede und Gerede Aber niemand hat mehr
etwas zu sagen. Dann sehe ich meine Beine. Wie Säulen.
die nicht mehr wissen was sie tragen. Oder was auf
Ihnen ruht. Ohne Glauben! Ohne Denken! Ohne Sinn!
Ohne alles! Und ich lehne mich mit dieser ganzen
Masse von Körper zurück an die Wand. Diese 250 kilo
nichts. Die ganze Leere einer Welt. Nur noch Wüste,
Wüste, Wüste. Ich lehne mich zurück an diese Wand.
Trinke einen Tee. Und dann denke ich nach wie alles
begann.

Es ist dieses Dorf. Es war noch Normal das Leute
schmutzige Arbeitskleidung trugen. Es war noch normal
das jeder vom Anderen wußte wie er lebt. Von was er
lebt. Es war noch normal, sich über wichtige Dinge
zu unterhalten. Die Ernte der Äpfel. Das Säen von
Samen für Gemüse. Der Einkauf und das was nötig war.
Es hatte alles etwas natürliches. Es war das Leben.
Es war eine bunte Mischung von Allem. Aber die hat ge-
stimmt. Menschen die etwas wußten. Menschen die zu-
hören konnten. Menschen die Schweigen konnten. Men-
schen die Frieden waren. Menschen die Neues einbrach-
ten. Die zum Nachdenken anregten. Es gab Kirmes. Und
so die Feste des Dorfes. Die Leute kannten sich.
Einer war mal eine Woche nicht ansprechbar. Aber des-
wegen noch lange kein Fall für die Anstalt. Einer
war mal eine Woche nur betrunken. Aber deswegen noch
kein Alkoholiker. Einer erzählte mal blödes. Aber
war deswegen noch lange nicht blöd im Kopf. Einer
lag mal daneben mit allem was er von sich gab. Aber
er war deswegen noch lange nicht ausgestossen. Wie
gesagt: "Die Leute kannten sich!" Sie wußten wann Ein-
er verrückt ist. Und wann Einer nur mal durchgedreht
war. Und wann Einer nur mal schlecht drauf war. Und
nur oberflächliches pauschales Zeug von sich gab.
Jeder hat eben seine Launen! Seine Höhen seine Tiefen.
Und das war klar und nicht der Rede wert. Das war
eben das Leben. Und jeder wußte. In einer Woche ist
er wieder anders. Dann ist er wieder ok.

Ich hatte mich sehr schnell, an das Neue bei meinen
Pflegeeltern gewöhnt. Mein Vater lebte noch. Und be-
suchte mich ein oder zweimal im Haus. Aber die Leute
hatten keine großen Respekt vor Ihm. Einmal war er
Ostern da. Und im Garten waren Süssigkeiten und Oster-
eier versteckt. Mein Vater stand bei mir. Und die
Pflegefamilie sah aus dem Fenseter. Und lächte so.
Mein Vater wollte mir etwas zeigen. Aber ich sagte
zu ihm ganz leise, halt die Klappe. Sei ruhig. Und
lächelte mit meiner Pflegefamilie. Mein Vater sah
mich groß an und ging. Dann kam er auch nie mehr.
Heute denke ich mir auch so. Ich war als Kind eis-
kalt. Oder ich war schon als Kind eiskalt. Ohne
Skrupel. Ich habe Ihn dann noch öfters gesehen. Bei
dem Bruder meines Pflegevaters. Immer Sonntags. Der
Bruder meines Pflegevaters hatte so ein Luftgewehr.
Und hinter dem Haus war ein Garten. Da schossen sie
dann immer auf Zielscheiben. Sonst wußte ich von
meinem Vater nichts mehr. Das war so das letzte mal,
als ich ihn sah. Beim Luftgewehrschiessen. Ein Jahr
nach meiner Mutter ist er dann auch gestorben. Ich
habe auch nie erfahren an was. Aber ich bin mir sicher
es war Suizid. Ich habe da viel drüber nachgedacht.
Es war wohl so. Er kam Abends in diese leere Wohnung.
Niemand hat Ihn mal eingeladen. Er hatte keine Freunde.
Er konnte auch bei niemand bleiben. Er hatte nie ein
Gespräch. Er war immer allein. Und ich stelle mir das
schrecklich vor. Er kommt zurück in eine Wohnung. In
der nichts mehr ist. Wo früher Kinder rumhüpften. Wo
immer leben war. Wo seine Frau auf ihn wartete. In
diese Wohnung kam er zurück. Da war nichts mehr. Auch
sonst gab es Niemand.

Klar, was soll da sonst gewesen sein. Er hat klar ge-
sehen und sich erschossen. Oder sonst irgendwie sein
Leben beendet. Das Leben ist eben schon Erbarmugns-
los. Die Menschen fällen ihr Urteil. So wie sie sind.
Mit dem Wissen das sie besitzen. Und so sind dann auch
ihre Urteile. Die wenigsten Menschen wissen eben et-
was. Aber es ist die Masse. Sie ist wie die Urteile
die sie fällt. Sie ist schlicht und ergreifend Dumm.
Durch den Verlust seiner Familie war mein Vater am Ende.
Aber die Dummheit der Masse hat ihn getötet. Ich denke
deswegen bin ich auch gern gereist. Ich habe immer
andere Menschen getroffen. Es war nie Masse. Es waren
Menschen mit Klarheit. Es waren Menschen mit Wissen.
Es waren Menschen die noch lebendig waren. Und diese
Menschen sind immer die Rettung. Sie wollen helfen,
verstehen. Sie töten nichts mit ihrer Meinung. Und mit
ihren Urteilen. Aber das Dorf war schön. Niemand kann
oder wird es glauben, wie schön dieses Dorf war.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.09.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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