Klaus Lutz

Der Arztbesuch 26


Wenn ich ehrlich bin, dann liege ich am liebsten auf
dieser Pritsche. Starre an die Decke. Und lasse die
Phantasien von mir spielen. Und das reicht für Jahr-
tausende. Allein diese Phantasie: "Die Stellung mit
einer Frau!" All die Feinheiten, die es dabei gibt.
Bei einer einzigen Stellung. Sie geht in die Milliar-
den. Und allein das durch zu Spielen würde Jahrtaus-
ende dauern. All das Unscheinbare! All das Andere!
All die Berührungen. Und die Milliarden von Berühr-
ungen die es gibt. Die Nuancen. Wie das Spiel mit
dem Klavier. Mit aller Vollendung. Die Anschläge.
Und die hohe Sensibilität. Die Abstufungen der Emo-
tion. Das Vergessen allen Denkens. Und all der Schwe-
re. Und wie all das diese Kunst ist: "Das Berühren!"
Der Anschlag der Vollkommen ist. Das Klavier wie
ein Körper. Der mit jeder Berührung etwas himmlisch-
es zeigt. Der mit jeder Berührung nur himmlischer
wird. All dieses Spiel, mit all seinen Möglichkeiten.
Die unendlichen Variationen, die sich da ergeben. All-
ein das reicht, um ewige Zeiten auf dieser Pritsche
zu liegen. Mit dem Leben, das immer Interessanter
wird.

Aber es ist dieses Unbekannte. Das ist es was mich
immer wieder zwingt, diese Pritsche zu verlassen.
Diese 250 kilo. Diesem endlosen Fett, mit all
seinen Auswucherungen, Wülsten und Schwarten noch
etwas zu geben. Es ist immer noch dieses Vertrauen
eines Kindes. Dieses Vertrauen auf ein Wunder. Seht
mich an. Es ist kein Kopf mehr zu sehen. Es ist kein
Körper mehr zu sehen. Es ist nur noch Masse. Aber
diese Masse bin ich. Und diese Masse ist ein Mensch.
Und auch dieser Mensch bin ich. Aber mit all der
Flatulenz, die sich bei jeder Bewegung entlädt, werde
auch ich depressiv. Dieser Gestank der durch die
Gänge zieht. Und der die Gesichter der Wärter rot
anlaufen läßt. Das ist es. Gerade das ist es, das es
mir sagt: "Überwinde Dich!" Zeige den Mensch. Deswegen
sitze ich hier. Ich will mich zeigen. Das, was noch
da ist. Das, was noch Mensch ist. Das, was von dem
noch geblieben ist. Auch wenn die Fettwülste die auf
dem Boden liegen, allen Krankheiten ausgesetzt sind.
Wund werden und zu Eitern beginnen. Und all das kurz
vor dem Stadfium ist, wo es zu einem Festmahl für
all das Getier auf dem Boden wird. Dann sitze ich
doch hier. Ich fettes, verfressenes, verkommenes,
verhurtes krankes Schwein. Ich sitze hier. Und ich
bin es noch einmal für ein paar Stunden: "Ein Mensch!"
Vielleicht ein letztes mal. Wenn der Rest an Leben in
dieser Masse von Fleisch verschwindet. Und der Geist
sich endgültig auflöst. In all dem, was diesem Kör-
per vernichtet. In dem was nur noch Eins ist. In dem
was nur noch Wahnsinn ist.

Trotz allem, sind es immer noch diese Urwälder die
mich reizen. All das, was ich noch nicht kenne. Das
Unbekannte. Das Neue. In den Universen der Phanta-
sie. Auf dieser Welt, mit all ihren Welten. Ich habe
dieses Denken. Das, was mir hilft. Das, was gerade in
dieser Zelle die Rettung ist. Ich kann Jahre und Jah-
re über ein Gespräch nachdenken. Es ist dann immer
dieses Gespräch. Immer in anderen Welten. Dieses Ge-
spräch ist dann immer Neu. Mal ist dieses Gespräch
Berg steigen. Mal ist es schwimmen. Mal ist es, am
Strand liegen. Mal ist es ein Fest. Mal ist es,
es der Blick aus dem Fenster. Oder die Nacht mit
Vollmond. Mit jedem Stern, den ich sehe. So sitze
ich an diesem Computer. Und erlebe all das. Und das
Zerstörte ist es dann. Die Krankheit! Der Tod und
seine ständige Nähe. All das ist das Leben. Ich
schreibe und es wird ein neuer Himmel. Und es wird
Sprache. Und es wird Glauben! Und es wird Liebe. Und
es wird verzeihen. Und ich bin es dann, der dieser
Welt verzeiht. Und ich bin es dann, der dieser Welt
vergibt. Und mit dieser Liebe bin ich es. Ich bin
es dann. Ich versuche es dann. Das neue zu Denken.
Das neue zu sehen: "Nüchtern und Klar!"

Und ich nehme dieses Leben. Ich nehme das was ich bin.
Und all das was ich bin, sind dann diese Antworten.
Ich gehe durch jede Sekunde dieses Lebens und höre mir
Antworten an. Und es sind Länder die ich gesehen habe.
Und das Leben antwortet mir. Mit Straßen, Städten und
Landschaften. Das Leben antwortet mir. Denn ich sehe es
einfach. Ich war immer lebendig. Ich war immer ein Reis-
ender. Ich habe immer Neues gesehen. Ich habe immer
nachgedacht. Das Leben war mir nicht gleichgültig.
Denn ich war das Leben.

Ich nehme dieses Leben. Ich nehme das, was ich bin. Und
all das was ich bin sind diese Antworten. Und es sind
Menschen die ich treffe. Die mich einladen. Und mit den-
en ich lebe. Und es sind Menschen die ich treffe. Mit
denen ich ein paar Tage reise. Und viele Gespräche füh-
re. Und es sind Stunden die ich einfach irgendwo sitze.
Über dieses Leben nachdenke. In einem Restaurant. Oder
in einer Teestube. Und es dann geniesse. Den Tee. Die
Unterhaltungen um mich her. Und dann weiß ich es. Das
Leben war mir nicht gleichgültig. Denn ich war das
Leben.

Ich nehme dieses Leben. Und ich sehe was es war. Ein
Spiel. Ein Traum. Die Liebe. Die Wahrheit. Das Lachen.
Das Wunder. All das ist es. All das war immer bei mir.
Nachts allein in Hotels. Mit aller Stille. Wenn all
die Bilder eines Tages zu eine Universum werden. Und
és mich einfach wissen läßt: "Ich habe gelebt!" Oder
in einem Hostel. Mit vielen anderen Menschen. Alle
aus diesem Irgendwo. Aus diesem Irgendwie. Aber mit
all dem was Hier und Jetzt zählt. Und alles andere
vergessen läßt. Wo ich es wußte: "Ich bin hier!" Denn
hier ist das Leben. Das Leben war immer hier. Das Leb-
en war immer bei mir. Denn ich war das Leben!

Die Zeit in diesem Dorf. Meine Pflegeeltern freunde-
ten sich mit einer Familie an. Die uns hin und wie-
der besuchte. Und der Mann war das Gegenteil von
meinem Pflegevater. Er wußte das Leben zu nehmen. Er
wußte zu geniessen. Er konnte Lachen. Und hatte Hu-
mor. Und auch die Frau von Ihm war so. Sie hatten
eine Tochter. Und wir wurden Freunde. Sie nahmen
mich mit auf Volksfeste. Dem Mann half ich immer,
wenn Reperaturen am Haus waren. Oder sonst etwas zu
arbeiten war. Und dafür bekam ich dann ein paar
Mark. Die Frau freundete sich mit meiner Pflegemut-
ter an. Sie arbeiteten zusammen auf ihren Feldern.
Sie trafen sich zum Kaffeekränzchen. Und mit all
dem kam etwas Stimmung ins Haus. Und wann immer
möglich besuchte ich diese Familie. Wir spielten:
"Mensch ärgere dich nicht!" Es gab immer Kuchen oder
Eis. Und es war einfach schön. Diese Eheleute paß-
ten zusammen. Sie hatten sich getroffen und gefun-
den. Es war harmonisch. Es stimmte eben einfach
alles. Sie waren schlicht und ergreifend Glücklich.
Sie waren zugezogen. Hatten sich ein Haus gekauft.
Das renovierten Sie. Und bauten es aus. Es war ein
fach. Aber es war gemütlich! Es hatte so einen Frie-
den. Ich fühlte mich einfach gut, wenn ich dieses
Haus betrat. Kein Streit. Kein Geschrei. Das nor-
male wunderbare Leben. Und mt den Jahren ergab es
sich so, dass die Tochter und ich richtig gute Freun-
de wurden. Und als ich dann dieses Dorf verließ. Gab
es auch nie mehr ernsthafte Freundschaften. Es hat
mich einfach nicht mehr interessiert. Es waren an-
dere Interessen da. Ich wollte ein Abenteurer werden.
Und das bin ich dann auch geworden. Und eins ist mir
klar geworden. So nett diese Pflegeeltern auch war-
en. Ihre Ehe, was alles andere als eine Ehe war,
hat alles zerstört. Es waren nur Kampf. Die Ehe als
Kampf um was auch immer. Unüberbrückbare unterschie-
de. Schweigen oder Geschrei. Was auch den leiblichen
Sohn ziemlich nervte. Erst als sie älter wurden gab
es Ruhe. So eine erzwungener, von der Natur auferleg-
ter Waffenstilstand. Die Energie zum Streiten und
zum Schreien war einfach nicht mehr da. Aber das ist
Falsch. Am Ende waren Sie auch Einsichtiger. Sie
wollten ihren Frieden. Und sie haben die Sinnlosig-
keit von dem Ganzen einfach erkannt. Ich glaube ein
paar Jahre, waren sie noch richtig Glücklich.

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Klaus Lutz).
Der Beitrag wurde von Klaus Lutz auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.09.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Klaus Lutz als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Geschichten und Gedichte aus dem Wald. von Eveline Dächer



(Für Kinder von 3 - 9 Jahren)

Hier gibt es Gedichte und Geschichten von Bäumen, Blumen, Pflanzen, von Fuchs und Hase, von Spinnen,+ Käfern, Raupen + Schmetterlingen, Ameisen, Eulen, Fledermäusen, von Gnomen und Elfen, kurz alles was im Wald so kreucht und fleucht , wunderschön mit Wunsch- und Traumbildern illustriert.
Es ist so ein liebens - und lesenswertes Büchlein geworden, dass nicht nur Kinder ihre Freude beim Lesen haben werden.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Besinnliches" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Klaus Lutz

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Der Arztbesuch 34 von Klaus Lutz (Besinnliches)
Meine Straße von Monika Klemmstein (Besinnliches)
Wie ich zu meinem Namen kam... von Rüdiger Nazar (Autobiografisches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen