Ein Straßencafé, irgendwo in einer der ungezählten Städte dieser Welt.
Ein sonniger Nachmittag, aufgespannte Schirme und krakeelende Kinder, die zwischen wackelnden Tischen umherkrabbeln und ihren Anspruch auf Eroberung der Welt mit allen unvermeidlichen Konsequenzen einlösen.
Hektische Betriebsamkeit vorbeieilender Menschen, die in einem szenischen Gemälde des Alltäglichen ebenso plötzlich entschwinden wie sie einige Augenblicke zuvor auftauchten.
Ein Mann mittleren Alters, eine leicht abgenutzte Erscheinung, setzt sich an den Nebentisch. Genau an diesem Platz saß bis vor einer halben Minute noch eine Frau und trank eine Tasse Kaffee. Die leere Tasse steht auf dem Tisch. Und obwohl am Tisch sechs Stühle frei sind, setzt sich der Mann auf eben diesen Stuhl, der vor der leeren Tasse steht. Fast scheint es, als wollte er den Eindruck erwecken, dass er schon für längere Zeit so säße und den Kaffee womöglich selbst getrunken habe.
Der Mann ist nur von hinten – und wenn er sich zur Seite dreht, im Halbprofil –
zu sehen. Er hat rundliche, aufgeplusterte Bäckchen und halblanges, schütteres Haar. Seine rechte Hand hält eine halb gerauchte Zigarette, mit dem Daumen schnippt er dann und wann die Asche ab. Die Hand beschreibt zu Beginn dieses Rituals kreisende, manchmal ruckartige Bewegungen durch die Luft, so als würde sie ein unsichtbares Orchester dirigieren, der Dirigent sich aber nicht ganz sicher über den anzuschlagenden Takt sein.
Mit seiner linken Hand zieht der Mann nun ein Handy aus seiner Hosentasche. Nach einigem Tastendrücken hält er das Handy an sein Ohr und beginnt zu reden.
Vielleicht verhält es sich mit diesem Mann so:
Es gibt keinen Gesprächspartner, das Gespräch geht ins Leere. Das Handy als zeitgemäße, gesellschaftlich legitimierte Form des Selbstgesprächs. Das Sitzen vor einer leeren Kaffeetasse als perfekte Form der Tarnung; kurzes Genießen einer temporären Existenz im sonnigen Ambiente des Freizeit-Bürgertums. Wann kommt der Kellner und fragt nach der Bestellung, räumt die leere Kaffeetasse der Frau, die zuvor am Tisch saß, ab?
Möglicherweise führt der Mann, der vor einer leeren Kaffeetasse sitzt, Buch; notiert peinlich genau die Zeit, die er auf diese Weise seinem ansonsten wenig glamourösen Dasein hinzufügen kann. Vielleicht kann er heute einen persönlichen Rekord aufstellen, bevor er vom Kellner mit höflichem Nachdruck des Tisches verwiesen wird?
Es ist der kleine Rand einer riesigen Traumwolke, auf der er für einige Momente schwebt, es ist der lichte Schatten einer Möglichkeit, der sein Bewusstsein streift – nur ganz kurz, für ein paar flüchtige Sekunden, doch es genügt, um ihm von einem anderen Leben zu erzählen, einem Leben, das nie das seine geworden war. Es ist die wärmende Lähmung einer Trauer, die sich von hinten an ihn heranschleicht und ihm ins Ohr flüstert: „Sieh heute nicht mehr in den Spiegel, bewahre diesen Moment, solange er der deine ist.“
Doch vielleicht ist der Mann nur ein Gast, der gleich seine Bestellung aufgeben wird.
(c) Joachim Güntzel
AKTUELL: Die Geschichte wurde in meinem soeben erschienenen Buch "Der Gefühlstütenwanderer. Dreizehn Geschichten am Limit" abgedruckt (bookmundo 2018, Hardcover), ISBN 9789463673181.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.09.2009.
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Der Gefühlstütenwanderer
von Joachim Güntzel
Warum Geschichten am Limit ? Alle Kurzgeschichten handeln in der einen oder anderen Weise von Grenzsituationen. Seien es Grenzerfahrungen zwischen realer und imaginärer Welt, seien es gefühlte oder tatsächliche Stigmatisierungen und Ausgrenzungen oder seien es Grenzerfahrungen zwischen Gewalt und Rache. Alle Protagonisten müssen kämpfen, um mit diesen Situationen zurechtzukommen und kommen doch in den wenigsten Fällen unbeschadet davon.
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