Sven Ole Woldmann

Überraschungsschock

 

Etwas Kleines uns Kaltes streifte mein Ohr. Ich wachte auf und hörte draußen den Regen. Leider haben wir unser Haus seit dem Krieg nicht vollständig saniert, sodass immer wieder Wasser durch undichte Stellen ins Haus eindrang.

Ich rieb mein Ohr mit dem Ärmel meines Nachthemdes trocken und schlug die Augen auf. Es war nicht mehr finsterste Nacht, aber als ich aus dem Fenster spähte, konnte ich nur eine graue Wolkendecke über den baufälligen Häusern und Ruinen entdecken. Ich rieb mir die Augen und verließ mein Bett in Richtung der Abstellkammer. Dort befanden sich die Eimer, die jetzt im Haus verteilt werden mussten, um das Regenwasser aufzufangen. Nachdem ich die ersten Eimer aufgestellt hatte, fand ich meine Mutter in der Küche vor. Dort waren bereits Töpfe und Krüge aufgestellt worden.

„Guten Morgen!“, Zu meiner Überraschung schien sie sehr gut gelaunt zu sein, obwohl sie solche Regentage genauso hasste wie ich. „Morgen“, murmelte ich ihr verschlafen zu.

Ich lebte mit meiner Mutter so lange ich mich erinnern konnte allein. Mama hat einmal erzählt, dass ich ältere Geschwister hatte, welche aber Opfer des Krieges geworden sind.

„Ich habe so ein Gefühl, dass heute ein schöner Tag werden wird.“ Dies sagend konnte sie nicht verbergen zu schmunzeln. „Wie kommst du darauf? Heute regnet es und es ist schon wieder Montag.“ Sie ignorierte meine Aussage und bereitete fröhlich das Frühstück vor.

 Ich ging wieder an meine Arbeit und verteilte die restlichen Eimer.

Kurz Zeit später frühstückte ich mit meiner Mutter, deren Heiterkeit sich noch nicht aufgelöst hatte. Als ich mich nach dessen Grund erkundigte, eröffnete sie mir, dass eine Überraschung auf mich warten werde, wenn ich aus der Schule heimgekehrt bin. Näheres wollte sie mir aber nicht verraten.

Auf dem Schulweg malte ich mir aus, was das für eine Überraschung sein könnte: „Vielleicht schenkt sie mir ein Spielzeug oder ein Bonbon. Es könnte auch sein, dass sie mir nachher erzählen wird, dass wir nicht mehr von Wasser geweckt werden.“ Aber alle Sachen, die ich mir ausmalte passten nicht zu dem Verhalten meiner Mutter.

Doch das alles vergas ich als ich in der Schule war, denn wir hatten einen neuen Lehrer bekommen. Er war im Gegensatz zu den anderen Lehrern, die zum größten Teil auf Grund ihres Alters nicht am Krieg teilgenommen haben, viel jünger, aber dafür saß er im Rollstuhl und es fehlten ihm beide Beine und  vier Finger an der Linken Hand. Viele Narben entstellten sein Gesicht, die nach schlecht behandelten Schnittwunden aussahen. Wir erfuhren von ihm, dass er ein Kriegsgefangener gewesen ist, nachdem er von einer Splittergranate erwischt wurde. Er wurde aber auf Grund seines kleinen Handicaps vorzeitig entlassen. Alle waren von ihm fasziniert  und wollten begierig erfahren, ob er ihre Väter während der Haft gesehen hätte und ob es den Gefangenen gut ginge. Bei diesen Anfragen sah man ein Schatten über sein Gesicht huschen und er lenkte das Thema sofort auf den Unterricht. Nach der Unterrichtsstunde scherzte ich mit meinen Freunden über das Aussehen des Lehrers. Wir gaben ihm auch einige Spitznamen und lachten dabei lautstark, jedoch bemerkten wir zu spät, dass er an uns vorbei gefahren ist. Merkwürdiger Weise bestrafte er uns nicht. Es könnte auch sein, dass er uns nicht gehört hat, woraufhin ihn ein Mitschüler taube Nuss taufte.

Der Rest des Vormittags verlief unspektakulär und ich konnte schließlich mit meinen Freunden die Kaserne verlassen, die als Schulgebäude diente. Inzwischen hatte sich die Farbe des Himmels zu einem hellen Blau geändert, das durch das Weiß kleiner Wolken unterbrochen wurde.

Ein Freund wollte mir unbedingt etwas zeigen, was er gefunden hatte. Er sprach von einem neuen Geheimversteck und einem Schatz. Bei einer so spannenden und wichtigen Sache konnte ich nicht nein sagen. Aus diesem Grund folgte ich ihm.

Er führte mich zu einem völlig zerstörten Gebäude, von dem noch einige Grundmauern stehen geblieben sind. Nahe bei der Stelle wo die Eingangstür gestanden haben könnte fand ich ein halbverkohltes Schild mit der Inschrift Glaserei. Wir kletterten in die Ruine und mein Freund zeigt mir eine Treppe, die nach unten führte. Im Keller fanden wir zwei Türen, von denen eine leicht offen stand. Mein Freund deutete auf diese und sagte: „Dahinten liegt der Schatz.“ Als ich sie durchschritt, wurde ich von allen Seiten gleichzeitig geblendet. Die Sonne schien hell durch das eingebrochene Dach, von unten und von vorne funkelten und glitzerten tausende Glasscherben zwischen den Trümmern in allen Farben. Überglücklich spielte ich den Rest des Tages mit meinem Freund auf der Ruine bis es dunkel wurde. Da fiel mir schlagartig wieder die Überraschung meiner Mutter ein und eilte nach Hause. Ich würde bestimmt Ärger kriegen weil ich solange weg war.

Als ich die Haustür öffnete hörte ich zwei Stimmen aus der Küche, welche ich kurz darauf betrat, zu mir dringen. Am Esstisch fand ich meine Mutter und meinen neuen Lehrer vor.

Ich brachte vor Angst und Erstaunen, dass der Lehrer unsere Scherze gehört hat und aus diesem Grund meiner Mutter einen Besuch abstattet, nur ein leises „Entschuldigung, dass ich zu spät bin“ über die Lippen.

Meine Mutter sprang vom Stuhl auf und ging schnellen Schrittes zu mir. Ich wandte mich leicht ab, schloss die Augen und erwartete eine Ohrfeige. Satt dessen schloss sie weinend und schluchzend mich in ihre Arme. Schuldgefühle kamen in mir hoch, da ich glaubte meine Mutter hätte sich sehr große Sorgen gemacht. Ich brauchte wieder nur ein heiseres „Entschuldigung“ hervor, jedoch war ich völlig perplex über den Inhalt ihrer Worte, die sie mit zittriger Stimmte über ihre Zunge brachte. Ich brauchte lange um diese Worte zu verstehen:„Helmut, darf ich dir endlich deinen Vater vorstellen?“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.09.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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