Hannis Eriksson

In der Mitte des Flusses

 

Dieser Fluss. Er trennte die Einen und die Anderen schon so lange voneinander. Als sie in dieses Land gekommen waren, hatten noch etliche Brücken den Fluss überspannt. Doch nicht eine hatte bis zum heutigen Tage Bestand gehabt. Und nur die wenigsten waren den Fluten zum Opfer gefallen. Viele der Brücken waren von den Einen, einige von den Anderen in den Fluss geworfen worden und waren in Richtung Meer davon getrieben. Beide Seiten nutzten den Fluss, nutzten seine Lebensspendenden Ressourcen, doch weder jemand von den Einen noch jemand von den Anderen wagte es die unsichtbare Grenzlinie, die den Fluss in der Mitte teilte, zu überqueren. Nur einige Fährleute, die weder zu den Einen noch zu den Anderen gehörten, brachten in unregelmäßigen Abständen Nachrichten und Waren von einem zum anderen Ufer.

   Von seiner Insel aus konnte er alle Geschehnisse verfolgen. Er sah die Einen am Ufer fischen, beobachtete die Anderen, wie sie in gemütlicher Runde um ein Lagerfeuer saßen. Er konnte nicht sagen, wo er lieber wäre, konnte nur sagen, dass seine Insel immer weniger der Ort war, an dem er sich wohl fühlte.

   So stand er da, Tag ein Tag aus, und beobachtete die Welt um sich herum. Setzen tat er sich selten, dazu bot seine Insel nicht genügend Platz. Sie war gerade groß genug, dass er aufrecht auf ihr stehen konnte. Wenn der Fluss mal höhere Wellen schlug, wurden seine Füße zwangsläufig nass. Aber was sollte er machen? Allein kam er hier nicht weg.

   Richtig schlimm wurde es für ihn immer im Frühjahr nach der Schneeschmelze. Dann wurde seine Insel regelmäßig überschwemmt. Um nicht von den Fluten fortgerissen zu werden, kniete er sich dann auf seine Insel und krallte sich mit all seiner Kraft an ihr fest. Dabei hatte er immer das Gefühl, das ihn die Einen und auch die Anderen von ihren Flussufern aus betrachteten, doch durch die schäumende Gischt hindurch sah er fast nichts, so dass sich seine Gefühle nie bestätigen ließen. Hatte die Überschwemmung endlich ein Ende gefunden, sah er die Einen und die Anderen das tun, was sie immer taten.

   Sie verhielten sich so, als existiere er überhaupt nicht. Und er kannte den Grund dafür. Er wusste nicht, woher er ihn kannte, verstehen konnte er ihn schon gar nicht. Es war alles so surreal. Die Einen sahen in ihm einen Anderen, die Anderen in ihm einen Einen. So gehörte er gleichzeitig an beide Flussufer und an keines der beiden. So hatten sie ihn auf diese Insel verbannt.

   Dabei konnte er sich nur noch schemenhaft daran erinnern, wie er auf diese Insel gekommen war. Ein Boot, winzig, im Gegensatz zu den Fähren, die den Fluss manchmal befuhren, er war noch sehr jung gewesen. Auf dem Boot war er nicht allein gewesen. Er konnte sich schwach an jemanden erinnern. Hatte sie ihn hier abgesetzt? Gehörte sie zu den Einen, oder gehörte sie zu den Anderen? Spielte das eine Rolle? Von Zeit zu Zeit gingen ihm diese Fragen durch den Kopf. Meistens geschah das dann, wenn eine der Fähren seiner Insel etwas näher kam, als das für gewöhnlich der Fall war.

   Meistens hielten die Fähren großen Abstand von seiner Insel. Wieso wusste er nicht, aber auch darüber dachte er nach und versuchte sich einen Grund dafür auszudenken. Vielleicht gab es in der Nähe seiner Insel gefährliche Strömungen, die die Schiffe beschädigen oder zerstören konnten? Mit solchen Gedanken hielt er eine Hoffnung am Leben, dass vielleicht doch irgendwann jemand das Wagnis eingehen würde, hier an seiner Insel anzulegen und ihn dann von hier fortzubringen, auf die Eine oder auf die Andere Seite.

   Meist bedachte er die Fährleute aber mit anderen Gedanken. Vielleicht sahen sie ihn genauso wie die Einen und die Anderen, betrachteten ihn als jemanden, der nirgends hingehörte, als auf diese kleine Insel, sahen in ihm einen Ausgestoßenen, mit dem niemand etwas zu tun haben wollte? Und wenn niemand aus den Reihen der Einen oder aus den Reihen der Anderen etwas mit diesem Inselbewohner zu tun haben wollte, was sollte er sie dann interessieren?

   Trotzdem machte er sich immer wieder Hoffnungen, wenn ein Schiff in die Richtung seiner Insel steuerte. Doch bis jetzt hatten alle Schiffe weit vor seiner Insel abgedreht und waren in einem weiten Bogen an ihm vorbeigefahren.

   Jedes Jahr aufs Neue stellte er sich während der Frühjahrsflut die Frage, ob er sich nicht einfach von den Wellen davontragen lassen sollte, in ein Land, in dem weder die Einen noch die Anderen lebten. Er versuchte sich ein solches Land vorzustellen. Berge, Täler, Wiesen. Existierte so etwas wirklich, oder fasste seine Fantasie nur die Dinge zusammen, die er von seiner kleinen Insel aus sehen konnte?

   Aber selbst, wenn es tatsächlich ein solches Land gab, wie weit lag es dann von hier entfernt? Würden ihn die Wellen bis dorthin tragen, oder würde er von den Strudeln in die Tiefe gerissen werden? Hätte er die Kraft sich lange genug über Wasser zu halten? Er hatte das schwimmen nie erlernt. Wenn die Einen oder die Anderen schwimmen konnten, dann taten sie es dort, wo er sie nicht sehen konnte.

   Er hätte es ja auf einen Versuch ankommen lassen können, aber er wusste, dass er nur einen einzigen zur Verfügung hatte. Aber war das nicht auch egal? Wer nicht wagt, der nicht gewinnt! Seltsame Worte, aber irgendwie hatten sie Recht. Trotzdem, zu einem Wagnis gehörte immer auch Mut, nahm er an. Dieses Wort schwirrte oft durch seine Gedanken, aber was es damit auf sich hatte, verstand er nicht wirklich. Vielleicht war er ja mutig. Vielleicht war es ja mutig von ihm auf seiner Insel auszuharren, vielleicht war das Mut, darauf zu hoffen, dass er doch nicht so allein war, wie er sich fühlte, dass doch noch irgendjemand ihn bemerken würde und, ja, vielleicht in dieses Land aus seiner Fantasie bringen würde.

   Er stellte viele Fragen, über sich, über die Einen und über die Anderen, und er versuchte sie sich zu beantworten, denn auch wenn er sie laut herausschrie, niemand, kein Einer und kein Anderer, gab ihm eine Antwort. Vielleicht rief er nicht laut genug? Nein, daran lag es nicht. Er selbst konnte die Einen und auch die Anderen hören, wenn sie sich an ihren Uferseiten unterhielten und von denen hatte nie jemand geschrieen. Nein, es lag daran, dass sie ihm nicht antworten wollten. Oder vielleicht konnten sie es auch nicht? Er war schon so lange hier, dass vielleicht schon niemand der Einen oder der Anderen mehr wusste, wieso er eigentlich hier war.

   Sollen ihn doch die Einen an ihr Ufer holen, dachten vielleicht die Anderen. Sollen doch die Anderen ihn zu sich holen, dachten vielleicht die Einen. Und so blieb er allein auf seiner Insel, stand da und beobachtete die Einen und beobachtete die Anderen, ohne dass die Einen oder die Anderen ihn eines Blickes würdigten.

   Nur manchmal schauten sie zu ihm hinüber, die Einen und auch die Anderen, dann, wenn er seine Augen geschlossen hielt. Er spürte ihre Blicke, doch sobald er seine Augen öffnete, drehten sich die Einen und auch die Anderen wieder weg. Manchmal, wenn ihm langweilig war, machte er sich einen Spaß daraus. Er schloss seine Augen für einige Zeit, und sobald er sich sicher war, dass sowohl die Einen als auch die Anderen zu ihm sahen, öffnete er seine Augen blitzschnell und sah in die Gesichter der Einen und der Anderen, nur für einen kurzen Augenblick zwar, aber er sah sie. Er erhoffte sich so Antworten auf seine Fragen zu bekommen, aber wahrscheinlich sahen die, die ihm seine Fragen hätten beantworten können, wenn es überhaupt noch jemanden von ihnen auf der Einen oder der Anderen Uferseite gab, grundsätzlich nicht zu ihm, auch nicht, wenn er seine Augen geschlossen hielt. Nein, Antworten auf seine Fragen hatte er so nie bekommen. Aber man kann es ja mal versuchen, dachte er.

   Heute schien die Sonne. Der Fluss floss gemächlich dahin und wieder beobachtete er die Einen und die Anderen. Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt schon überschritten, als plötzlich ein Tumult aufkam. Ein Wirrwarr an beiden Ufern, an dem Einen Flussufer genauso, wie an dem Anderen. Doch heute konnte er nichts verstehen, nur ein leichtes Säuseln, wie die Stimme des Windes, wenn er des Nachts leicht um ihn strich. Er beobachtete die Einen und beobachtete die Anderen, und ab und zu sah er den einen oder anderen verstohlenen Blick, der in seine Richtung ging und sich dann, dem Fluss stromaufwärts folgend, verlor.

   Er drehte sich um und sah auch in diese Richtung, dorthin, wo weit entfernt die Quelle des Flusses entsprang. In der Ferne erblickte er einen kleinen dunklen Punkt, der sich von der Farbe des Wassers deutlich abhob. Was war das? Langsam näherte sich ihm etwas. Jemand? Das, was dort auf ihn zusteuerte wurde vom Fluss getragen und so bewegte es sich genauso gemächlich, wie es der Fluss selbst tat. Nach einiger Zeit erkannte er ein kleines Boot. Ein Boot? Ja! Ein kleines Boot mit einer Person an Bord. Und es steuerte direkt auf seine kleine Insel zu. Es kam immer näher.

   Er konnte sich nicht erinnern, dass jemals jemand seiner Insel so nahe gekommen war. Sollte sich das Warten, diese unbeschreiblich lange Einsamkeit, doch gelohnt haben? Er tat etwas, dass er so noch nie zuvor getan hatte. Er setzte sich auf seine Insel, blickte abwechselnd auf die Wasseroberfläche und zu diesem kleinen Boot. Eine junge Frau, ob sie zu den Einen, zu den Anderen, zu den Fährleuten oder zu keiner der drei Gruppen gehörte, wusste er nicht, hielt das Ruder fest in der Hand. Sie blickte in seine Richtung und sie schien fest entschlossen zu sein, ihren Weg bis zu ihm fortzusetzen.

   War das Mut? Aber was, wenn es um seine Insel herum wirklich gefährliche Strömungen gab? Mit diesem kleinen Boot hatte sie keine Chance, diesen zu entkommen. Was, wenn das Boot sank? Wenn sie schwimmen konnte?! Aber wo sollte sie hin schwimmen? Beide Flussufer, sowohl das Eine als auch das Andere, waren viel zu weit entfernt. Das einzige Stück Land, das sie erreichen konnte, war seine Insel. Diese kleine, winzige, winzigste Insel, auf der kaum genug Platz für ihn war.

   Sollte er ihr zurufen, dass sie ihn hier lassen sollte? Zumindest würde ihr so nichts geschehen. Aber vielleicht würde sie seine Insel ja auch erreichen, ohne dass ihr Boot einen Schaden nahm. Und dann könnten sie zusammen von hier weg, weg von dieser Insel, an das Eine oder das Andere Ufer, oder in dieses Land aus seiner Fantasie, das Land ohne die Einen und ohne die Anderen.

   Dann sah er wieder zu diesem Boot. Es war schon so nah. Aber es war auch winzig, größer als seine Insel, ja, aber was war nicht größer als seine Insel? Aber trotzdem, war dieses kleine Boot groß genug, um zwei Personen zu transportieren? Ja, vielleicht. Und dann?

   Wenn sie zu zweit in diesem Boot auf dem Fluss unterwegs waren, wie würde sich das anfühlen? Er war in einem Boot hierher gekommen, aber das war schon so lange her. Seit dem hatte er seine Insel nicht verlassen, nicht physisch zumindest. In seiner Fantasie, ja, aber da hatte er nie über den Fluss nachgedacht, nur über das, was danach kam. Wenn sie zu zweit in diesem Boot auf dem Fluss unterwegs waren, wenn das Boot sie nicht beide tragen würde, dann wären sie beide verloren.

   Er blickte wieder zu diesem kleinen Boot. Er sah die junge Frau an. Sie würde an seiner Insel landen. Doch was würde er tun? War er mutig?

   Mut! Mitfahren oder hier bleiben?

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.10.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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