Thore Prokoph

Die Geschichte von einem kleinen Zweig

Es wuchs einst ein Trieb aus dem feuchten Boden inmitten einer sonnen durchfluteten Lichtung eines dichten Waldes. Rings umher wuchsen Rotbuchen, Kastanienbäume, Ebereschen und Birken. Sogar eine Ulme war dabei und hier und da hatte sich eine Tanne verirrt. Der kleine, schwache Trieb saugte das Sonnenlicht auf und jeden Tau- und Regentropfen und wurde größer und größer, stärker und stärker. Eines Frühlings, es waren inzwischen viele Sommer und Winter vergangen und aus dem schüchternen Trieb war längst eine stolze Eiche geworden, die von den anderen Bäumen des Waldes bewundert wurde, begann sich erneut Leben zu regen an den Ästen. Knospen sprossen hervor und funkelten in der Mittagssonne, große starke Blätter, von der kräftigen Farbe des Lebens, bedeckten Äste und Zweige, waren Herberge für allerlei Insekten und boten Heimat für allerlei Getier.

Die Eiche, groß und kräftig, hatte ihr Winterkleid abgelegt und sprühte nur so vor Leben und Wandlung.

Ganz oben im Wipfel des Baumes wuchs ein kleiner Zweig. Er konnte von dort oben hinab schauen und die Geschehnisse auf der Lichtung und im Wald beobachten. Man sagte ihm nach, er sei hochnäsig und eingebildet, weil er so weit oben wuchs und auf alle herabschaute. Doch das war nur der Neid, der aus der Umgebung sprach. In Wahrheit hatte der Zweig ein freundliches Wesen und war sehr beliebt bei Vögeln und Eichhörnchen, Ameisen und Käfern und sogar bei den Raupen, die sich an ihm verpuppt herabhängten und sich zu wunderschönen Schmetterlingen wandelten, die ihm die allerneuesten Nachrichten aus dem Wald zutrugen. Er war hoch angesehen, weil er stets frohen Mutes und guter Laune war und Anteil nahm am Schicksal seiner Umwelt. Er lachte mit den Blättern, die an ihm wuchsen und scherzte mit den Spatzen, die ihm allerlei Klatsch und Tratsch aus der Welt erzählten. Trafen Regentropfen seine klammen Finger und konnten sich die Marienkäfer nicht mehr halten, weinte er ihnen nach und sprach ein Gebet für sie, dass sie weich fielen und sich nichts taten. Denn er meinte es gut mit allen.

Doch nachts, wenn der Wald schlief, fühlte sich der Zweig manchmal einsam und weinte salzige Tränen, die wie Regen nasse Gedanken zu Boden tropften und mit dem morgentlichen Tau verschmolzen und mit der aufgehenden Sonne im Kreislauf des Lebens verschwanden.

Auch wenn der Zweig alle seine ihn bekleidenden Blätter gern hatte, mochte er eines ganz besonders. Es war auf den ersten Blick nicht viel anders als die anderen und doch berührte es des Zweiges Herz in hohem Maße. Die Spatzen, die ja bekannt für ihr Gequassel waren, neckten die beiden fröhlich und spielerisch.

„Der Zweig ist verliebt! Der Zweig ist verliebt!“ zwitscherten sie auf ihren Flügen durch den Wald.

Das schürte natürlich den Neid der anderen Bäume und Äste. Aber das machte dem Zweig nichts aus. Er hatte ja sein Blatt und seine tierischen Freunde. Was kümmerte ihn da das Gerede seiner Artgenossen!

Eines Tages bemerkte der Zweig jedoch, dass sich etwas veränderte. Das Grün der Blätter war nicht mehr von der saftigen Farbe des Sommers. Wie Schamesröte verdunkelte sich das Laub und die Farbe des Winters erhielt langsam Einzug im Eichendach. Wut stieg in dem kleinen Ast auf, weil ein Blatt nach dem anderen ihn verließ. Zum ersten Mal wurde er gewahr, was der Wechsel der Jahreszeiten bedeutete und Angst überkam ihn, dass auch seine Liebe ihn verlassen könnte. Als sein Blatt als einziges noch an ihm hing und sogar noch Reste seines grünen Lebens besaß, keimte kurz Hoffnung im Herzen des Zweiges, denn er hatte von den Spatzen gehört, dass die weise Tanne im Süden des Waldes die Macht und das Wissen besaß, wie sie ihr Blätterdach behalten konnte. Schnell schickte er die mutigsten und tapfersten Spatzen zur alten Tanne, damit sie ihnen ihr Geheimnis verriet und der Zweig sein geliebtes Blatt vor dem sicheren Tod bewahren konnte.

Als die Spatzen jedoch zurückkehrten, weinte der Zweig bittere Tränen, denn sein Blatt war bereits von einer Windböe erfasst und in die Weiten des grauen Himmels getragen worden.

Die Spatzen versuchten, den Zweig zu trösten. „Die Tanne hätte dir eh nicht helfen können, denn du gehörst zu einem Laubbaum und Laubbäume verlieren ihre Blätter im Herbst und Winter und bekommen neue im Frühling.“ Trost war dies jedoch keiner.

Zunächst wurde der Zweig wütend auf die Eiche, weil sie ein Laubbaum war und keine Tanne, die ihre Blätter nicht sterben lässt, dann wurde er wütend auf die Spatzen, weil sie nicht rechtzeitig von der Tanne zurückgekehrt waren und also die Schuld an allem trugen. Er kränkte seine Freunde und zog sich verbittert zurück.

Die Spatzen aber und die wenigen Insekten, die sich noch oberhalb der Erde befanden, konnten dem traurigen Zweig nicht ernsthaft böse sein, weil sie wussten, was es heißt, sein Herz zu verlieren, und versuchten weiter, den Riss im Herzen des kleinen Zweiges zu heilen.

Es verging der Herbst und auch der Winter, ohne dass der Zweig gelacht hätte. Nachdem der Schnee geschmolzen war und erste Frühjahrsblumen ihre gelben und blauen und lilafarbenen Köpfe auf der Lichtung in den sonnigen Himmel streckten und die Käfer aus der Erde krochen und die Farbe des Winters langsam verschwand, sprossen auch wieder die ersten Triebe auf dem Zweig, der den ganzen Winter kein Wort gesagt hatte, so tief war die Trauer über den Verlust seiner Liebe.

Der Frühling erhielt Einzug und mit ihm neues Leben.

Ein Blatt nach dem anderen, eines schöner und kräftiger als das andere, entfaltete seine Pracht und seinen Glanz und bot Herberge für allerlei Insekten und Heimat für allerlei Getier.

„Willst du dich denn nicht wieder neu verlieben?“ fragten die Spatzen, ein Jahr der Trauer sei doch schließlich genug. Doch der Zweig wollte sich nicht neu verlieben, er wollte sein Herz nicht wieder verlieren, denn er hatte ja gelernt, dass er keine Tanne war und seine Blätter im Herbst und Winter eh wieder verlieren würde.

Inzwischen hatte er auch erfahren, dass er es war, der seinen Blättern den Tod brachte, floss doch durch ihn deren Lebenssaft, saugte doch er ihnen das Blut aus, sodass sie zu schwach waren, sich an ihm festzuhalten. Von sich selbst enttäuscht, fühlte er sich so schuldig, dass er Angst hatte, sich mit den Blättern anzufreunden und zog sich auch im Frühling und im Sommer immer mehr zurück und sprach nur hin und wieder mit den Spatzen und den Ameisen, deren kitzelnden Beine er einst als Wohltat genossen hatte, doch mittlerweile schon lange nicht mehr wahrnahm.

Er fühlte sich als Mörder und vereinsamte mit der Zeit, denn nach und nach verließ ihn das Leben rings umher. Es hingen schon längst keine Puppen mehr an ihm herab, aus denen die farbenprächtigsten Schmetterlinge wurden. Seine Stille und Einsamkeit vertrieb schließlich auch die Marienkäfer und die Ameisen und auch immer weniger Spatzen machten Rast auf ihm und erzählten ihm die neuesten Nachrichten aus dem Wald. Er hörte ohnehin nicht mehr zu. In der Nacht plagten ihn Alpträume und am Tage die Angst und die Einsamkeit. Er begann davon zu träumen, kein Zweig mehr zu sein, sondern ein Ast zu werden, denn er glaubte, dann weniger vom Kommen und Gehen der Blätter mitzubekommen. Einem Ast könne nur noch die Säge des Försters etwas anhaben, dachte er. Ein Zweig aber ist von den Jahreszeiten abhängig wie die Küste von Ebbe und Flut.

Aber auch viele Jahre und viele Jahreszeitenwechsel später, nachdem neues Leben immer wieder begonnen und altes Leben erloschen war, die Farbe des Sommers und des Winters sich weiterhin abwechselten, wurde aus dem Zweig kein Ast und obwohl die Alpträume in der Nacht blieben, wurde er wieder etwas geselliger und nahm wieder mehr am Leben teil.

Doch jeden Herbst packte ihn eine tiefe Traurigkeit und er weinte um sein Blatt, das einzig war für ihn auf der Welt und dem kein anderes glich. Jeden Herbst beschlichen ihn die Angst des Verlassenwerdens und der Zorn über das unvermeintliche Bringen des Todes.

Es wollte ihm einfach nicht gelingen, sich vor der Einsamkeit abzuschirmen und doch teil zu haben am Lauf der Dinge. Nie wieder scherzte er so mit seinen Freunden, wie er einst vor vielen, vielen Jahren gescherzt hatte, als sein Herz noch lebte und ihn noch nicht das Leid befallen hatte, das die Menschen Liebe nennen.

 

Und seit dem Tag, an dem der Schmerz Einzug erhielt, sind Tau und Tränen eins und verdunsten in der Mittagssonne und verlieren sich im ewigen Kreislauf, der Leben heißt. 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Thore Prokoph).
Der Beitrag wurde von Thore Prokoph auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.10.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Thore Prokoph als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Horasia - Portal von Leif Inselmann



Horasia - Portal bildet den Auftakt zu einem neuen, außergewöhnlichen Fantasy-Epos.
Seit vielen Jahrmillionen wird der Kontinent Horasien vom bösen Wesen Giznar bedroht. Dank einer neuen Erfindung steht er seinem Ziel, die Weltherrschaft an sich zu reißen, näher als je zuvor. Da wird im Reich der Neoraptoren, intelligenter Nachfahren der Dinosaurier, eine Entdeckung gemacht: Vor vielen Jahrhunderten verwendete ein Geheimbund ein geheimnisvolles Material, mit dem sich Giznar möglicherweise vernichten lässt. Doch die Suche nach diesem Material führt den Neoraptor Calan und seine Verbündeten zu einem anderen Planeten, auf dem angeblich die letzten Reste versteckt wurden. Der Erde.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Märchen" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Thore Prokoph

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Die fünf Hühner von Christa Astl (Märchen)
Sommer in den Städten von Norbert Wittke (Autobiografisches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen