Jürgen Berndt-Lüders

Das blaue Wunder in braun

Azetylsalizylsäure* war der pharmazeutische Wirkstoff gewesen, den er sich hatte merken wollen. Der Arzt hatte ihm erzählt, die Amis nähmen das betreffende Medikament jeden Tag, weil er das Blut dünn halte und einem Infarkt vorbeuge. Und außerdem sei das Zeug gut gegen Schmerzen aller Art.

 

Er hatte Kopfschmerzen. In der Apotheke stand ihm so ein pharmakologisches Fräulein Doktor gegenüber, eine mit hoher Stirn und kluger Brille, und er konnte sich nicht an den Wirkstoff erinnern, den ihm der Arzt genannt hatte.

 

„Ich hätte gern...“, sagte er und wurde rot, „ich hätte gern... wenn das Blut nicht mehr so richtig...“

 

Fräulein Doktor kannte sich damit aus, wenn ältere Männer verlegen herum stammelten, weil sie das Wort für die Wunderpillen nicht nennen mochten, zumal wenn andere Kunden in der Apotheke waren.

 

„Ich weiß nicht mehr, wie der Wirkstoff hieß“, schickte er hinterher und hob hilflos die Achseln.

 

„Sie meinen Tadalaifil, mit Lactose Monohydrat.“

 

„Ja“, sagte er und nickte heftig, obwohl er keine Ahnung hatte, ob sie das Gleiche meinte.

 

„Ich gebe ihnen eine andere. Deren Wirkung hält länger vor“, sagte sie.

 

Er zahlte einen unerwartet hohen Preis und ging. Und am Abend nahm er schon mal eine. Und weil die Pille hellbraun und nicht blau war, kam er nicht drauf, was er da nahm. Mit weiß hatte er gerechnet, und von einer blauen Pille hatte er schon gehört.

 

Als er am Morgen erwachte, musste er den Kopf heben, um die Uhrzeit ablesen zu können. Ein Hügel versperrte ihm den Blick. So wie früher, als er jung und knackig gewesen war. Heute war er nur noch knackig, jedenfalls, was seine Knochen anbelangte.

 

Wie gewohnt stand er auf und wankte schlaftrunken zum Klo, wo er immer eine Weile zubrachte, bis sich sein verdammtes Dreiwegeventil, die Prostata, im unteren Bauchraum geöffnet und der nächtlichen Harnproduktion den Weg frei gemacht hatte. Aber heute lief gar nichts; im wahrsten Sinne des Wortes.

 

Das Ventil blieb geschlossen. Hatte er einen feuchten Traum gehabt?

 

Verwundert stand er auf, spähte über Schlafanzugjacke und Bauch hinweg nach unten und sah die Bescherung. Eine wie zuletzt Weihnachten ‚98, als er versehentlich eine falsche DVD mit dem Titel ‚unterm Dirndl wird gejodelt’ eingelegt hatte. Wo er doch die Bayerischen Alpen so liebte.

 

Was sollte er mit der Bescherung anfangen? Es war keine da, an der die Überraschung hätte abarbeiten können. Also dachte er geschwind an seine Steuererklärung, schon, damit das Ventil sich öffnen konnte und er den Druck los wurde.

 

Er wusch und kämmte sich mit dem Waschlappen, nahm die Blutdrucktablette und die hellbraune und machte sich fein. Mittags hatte er in den Bürgerstuben ein Date mit einer Endfünfzigerin, und diesmal beschloss er, der peinlichen Frage nach seinen Lieblingsbeschäftigungen nicht mehr auszuweichen. Zweitens essen und drittens reisen, hatte er früher immer gesagt und anzüglich gelacht, aber das war längst vorbei.

 

Sein Date kam ziemlich flott daher. Überhaupt nicht omamäßig,

 

Früher hatte er sich immer gefragt, ob er eine Frau wohl küssen könne, wenn er sie sympathisch fand, aber heute hatte er eher Angst davor. Was war, wenn sie mit ihrer kleinen Zunge kam und spürte, dass er nach Kukident schmeckte? Glücklicherweise schmeckten in seinem Alter viele wie er, aber diese hier hatte noch zahnspangenunplanierte, schiefe Zähne, also echte.

 

Sie bemerkte seine Unsicherheit, sah ihn wohlgefällig an und schmunzelte.

 

„Was machst du denn so am liebsten?“, fragte sie ihn unverblümt und legte ihre Hand auf seine altersfleckige Rechte.

 

„Erstens Rei..., nein, erstens essen und zweitens rei..., nein, andersrum“, stotterte er.

 

„Erstens rein und zweitens raus?“, rief sie und lachte.

 

Mit „ich küsse gern“, kam er ihr auf halbem Wege entgegen, hielt aber die Hände vors Gesicht, um seine Schamröte zu verbergen.

 

„Ich auch“, rief sie entzückt. „Wobei ich immer Angst davor habe, dass mir die Männer mit der Zunge die schiefe Zahnreihe entlang fahren.“

 

„Das gehört sich aber nicht“, fand er, und die Hände waren schon wieder vorm Gesicht. „Aber nun haben wir wenigstens eine Übereinstimmung. Und was machst du noch gerne?“

 

Über seine mutige Frage war er selber erstaunt.

 

Erstmal sah sie zur Seite, damit er ihr Glitzern in den Augen nicht bemerkte. „Naja...“, rief sie gedehnt. „Ich mag Männer.“

 

„Das setzte ich voraus“, stellte er fest. „Und was magst du an Männern?“

 

Nur nicht in die Enge treiben lassen, dachte sie. Ihr Blick wanderte zwischen seinen Augen hin und her. „Möchtest du küssen?“, fragte sie.

 

Er fuhr zurück. „Jetzt am helllichten Tage? Und wo?“

 

Die Bürgerstuben waren nicht der geeignete Ort. „Wir können ja ein Stück spazieren gehen“, schlug er vor, und allein dieser Gedanke führte dazu, dass die vermeintliche Azetylsalizylsäure ihre Wirkung tat. Wenn auch nicht vollständig.

 

Am Waldrand küssten sie sich.

 

„Donnerwetter“, rief sie, als sie wieder Luft bekam und den Druck am Bauch spürte. „Dich nehme ich.“

 

Schon wieder wurde er rot. „Trotz Glatze? Trotz meiner falschen Zähne, meiner Altersflecken und der Tatsache, dass ich immer rot werde, wenn eine Frau mit mir spricht?“

 

„Nachts sind alle Katzen grau“, fand sie und küsste ihn schon wieder. „Und ich habe verschließbare Augendeckel.“

 

Als die hellbraunen Tabletten** alle waren, bestellte sie nach.

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  • *   unter anderem in Aspirin enthalten
  • ** hält 36 Stunden vor

 

 

 

 

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