Melanie Sarge

So weich wie Zuckerwatte

 

Ich fliege. Hoch über den Wolken. Mein Haar weht im Wind, der die leichten Schäfchenwolken liebkost. Sie sehen aus wie Zuckerwatte.

Ich spüre sie wie einen leichten Hauch in meinem Gesicht, wenn wir durch sie hindurch tauchen.

Angalos, ein riesiger Seidenreiher mit wunderschönen, glänzenden Federn und  weisen Augen trägt mich durch die Lüfte.

Er ist mein bester Freund.

Wir leben zusammen auf einer Wolkeninsel im Westen. Ich kenne ihn schon seit meiner Geburt. Meine gesamte Kindheit ist erfüllt von Erinnerungen mit Angalos.

Heute fliegen wir an einen ganz besonderen Ort. Einen Ort, den nur wir kennen.

Liebevoll streichle ich Angalos Federkleid am Hals, da wo er es am liebsten hat.

Majestätisch gleiten wir durch die blauen Weiten des Himmels und lassen unsere Gedanken schweifen.

Meine fliegen mal hierhin, mal dorthin, verweilen eine Weile am heutigen Morgen, als Angalos mich leise summend weckte, gleiten zurück zu meinem letzten Geburtstag, an dem Angalos mir die goldene Uhr geschenkt hat und wandern weiter durch meine Erinnerungen.

Ich versinke in meinen Träumen, bis ich plötzlich herumgeschleudert werde. Mir entfährt ein spitzer Schrei. Gerade so eben schaffe ich es, mich an Angalos Federn festzukrallen. Er lacht und dreht weitere Loopings.

Ich stimme in sein Gelächter ein und wir toben ausgelassen über den Himmel.

„Es ist schön mit dir zusammen zu sein“. Wieder liebkose ich zärtlich sein Gefieder.

„Ich hab dich auch lieb, Kleiner“, antwortet Angalos, er weiß was ich sagen will.

„Sieh da, die Höhle!“ , ruft er plötzlich.

Tatsächlich, da vorne ist er. Der Wolkenberg, der normalerweise nicht von den anderen zu unterscheiden wäre, den ich aber immer wiedererkennen würde.

Einem großen Hügel aus Watte gleich ragt er vor uns auf.

Angalos beschleunigt noch einmal seinen Flug und wir tauchen wir in den Berg ein. Die Wolkenmasse kitzelt auf meinen Wangen und dann finden wir uns in seinem Inneren wieder.

So oft war ich schon hier. Jedes Mal wieder verschlägt mir der Anblick unserer Höhle für einen Augenblick den Atem.

Über die Wolkenwände tanzen bunte Lichter, sie erinnern an rote, gelbe, blaue und violette Wattebäusche, die sich gegenseitig über die Wände jagen.

Ein leises, liebliches Summen erfüllt den riesigen Hohlraum im Inneren der Wolke, es klingt wie helle Glockentöne.

Oben, am höchsten Punkt der Wolke sieht man die verschwommenen Silhouetten junger Windgeister, die Fangen spielen. Ihr glasklares Kichern dringt zu uns hinunter.

Im Gleitflug lässt Angalos sich sinken, bis er auf dem weichen Boden steht.

Ich rutsche von seinem Rücken.

Meine nackten Füße wandern über die weiche Watteschicht unter ihnen. Es ist ein angenehmes Gefühl.

Meine Hand an Angalos Hals gehen wir langsam zu dem klaren, unbewegten See am Ende der Wolke hinüber. Ich lasse mich an seinem Ufer in der weichen Zuckerwatten nieder.

Mein Blick wandert zu der glatten, silbernen Wasseroberfläche, die wie ein Spiegel das Farbenspiel der Wände reflektiert.

Als mein Blick sie berührt verändert sich die Oberfläche. Die bunten Schlieren wirbeln schneller und verdichten sich zu bewegten Bildern.

Da sind sie wieder: Meine Eltern. Hand in Hand kommen sie auf mich zugelaufen. Sie lächeln mich an. Mutter winkt.

Ich strecke meine Hand aus, möchte die ihre ergreifen, doch ich weiß, dass das unmöglich ist. Denn meine Eltern sind tot.

Als sie starben, ich war gerade auf die Welt gekommen, legten sie mich in Angalos Nest und hinterließen mir die Erinnerung an diesen Ort. Seitdem lebe ich mit meinem Freund, dem Seidenreiher auf der Wolkeninsel im Westen.

Und immer wenn ich in diesen See blicke, sehe ich meine Eltern.

Ich merke, dass Angalos mich von der Seite aus anschaut.

Eine einzelne Träne läuft mir über die Wange und fällt ins Wasser. Direkt in die offene Hand meiner Mutter, wo sie zu einer schillernden Perle wird.

Ich tauche meine Finger ins kühle, glatte Nass. Als ich meine Hand wieder hinausziehe, halte ich die Perle in meinen Händen.

Auf ihrer Oberfläche jagen sich bunte Wattebäusche.

Ich kuschle mich in Angalos Flügel, den er um mich gelegt hat und lasse mich von ihm wiegen wie ein kleines Kind.

Er ist mein bester Freund. Und meine Familie.

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.10.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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