Ich bin 25 Jahre alt. Hätte man mir vor 10 Jahren gesagt, wer mich alles in diesen 10 Jahren für immer verlassen wird, so hätte ich mich in nachhinein anders verhalten. Vielleicht hätte ich die eine oder andere halbe Stunde länger an seinem Krankenbett sitzen sollen und ihm zuhören sollen, statt über die tickenden Gebühren des Krankenhausparkplatzes nachzusinnen. Es heißt doch „Carpe diem“ – „pflücke den Tag“ wortwörtlich – freier übersetzt: Nutze den Tag. Ich hätte ihn besser nutzen sollen. Aber sowas merkt man erst wenn es zu spät ist…
Andererseits… wer möchte schon gerne in die Zukunft sehen? Wer möchte seinen oder den Tod anderer erahnen? Wer möchte über solches Wissen verfügen? Wissen über die Endgültigkeit. Ewig leben möchte sicher auch keiner, denn wer möchte schon alle seine Lieben überleben? Am Ende würde jemanden eine endlose Einsamkeit erwarten.
Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem ich meinen Großvater das letzte Mal bei Bewusstsein sah. Es war ein warmer Maitag, überdurchschnittlich warm im Jahre 2009. Der Duft von verschiedenen Blüten hing schwer in der Luft und die Sonne strahlte umso stärker vom meeresblauen Himmel, als wenn sie den Sommer gar nicht mehr erwarten könnte. Es war warm, ich schwitzte und sehnte mich nach einer Klimaanlage. Was für ein unwichtiger Gedanke, wenn ich daran denke, dass ich an diesem Tag das letzte Mal in meinem Leben mit meinem Großvater sprechen sollte… Seine letzten Worte klangen wie ein Abschied. Nein, sie klangen nicht nur so, sie waren ein Abschied. „Du wirst eine gute Lehrerin.“ „Verabschiede dich nicht, wir sehen uns doch morgen wieder“, wollte ich noch sagen, habe die Worte aber nicht über die Lippen gebracht. Am nächsten Tag sah ich ihn wieder, aber er mich nicht. Ihn überkam am Mittag ein tiefer aber unruhiger Schlaf. Man konnte nur anhand der Atemgeräusche erahnen, wie sehr er sich quälen musste. Ich hielt seine Hand. Eine halbe Stunde lang. Ich hatte mein schönes Sommerkleid an. Mein Großvater mochte es. Ich hatte es erst vor kurzem neu gekauft. Ich schaute aus dem Fenster und betrachtete den blauen Himmel. Sonnenstrahlen hinterließen Spiegelungen und Lichtreflexe in der Fensterscheibe. Seicht bewegten sich die Blätter der Pflanze auf dem großen Fenstersims im leicht durchziehenden Wind. Ich erzählte ihm vom schönen Wetter und der Sonne draußen, auch wenn er keine Anzeichen gab, dass er mich hörte. Kurz darauf verließ ich das Hospitz. Draußen wehte mir ein warmer aber zunehmender Wind entgegen. Der Tag verabschiedete sich langsam und sanfte Böen strichen über den Parkplatz. Am Horizont waren erste leichte Verfärbungen zu erkennen. Auf der Heimfahrt betrachtete sich die Natur. Wie schön doch der Frühling ist – so viel schönes, junges und frisches Grün allüberall. Neues Leben erblühte egal in welche Richtung man sah. Vielleicht eine halbe, vielleicht aber auch eine Dreiviertelstunde später erreichte mich ein Anruf. „Du, der Opa ist gestorben.“ Das Einzigste was ich hervorbrachte war ein stockendes, halb geschrienes „Nein!“ Für mich ging eine Welt unter, aber draußen schien die Sonne noch in ihren letzten Strahlen kläglich über dem Horizont.
Was tritt nach dem Tod ein? Stille. Stille nicht nur in einem selbst sondern auch in seiner alten Umgebung. Der Sessel im Wohnzimmer wird nicht mehr genutzt, ein Stuhl am Küchentisch bleibt leer. In den ersten Tagen bildet man sich ein, Geräusche zu hören – ein wohlbekanntes Husten oder Schritte. Doch es sind Truggeräusche. Dort ist keiner mehr. Der Sessel im Wohnzimmer wird leer bleiben, egal wie oft man vorbeiläuft um nachzuschauen ob nicht doch jemand wieder in dem Sessel sitzt. Der alte Rasierpinsel im Badezimmer wird nicht mehr genutzt werden. Irgendwann im Laufe der Monate war er aus dem Badezimmer verschwunden – wohin? Keine Ahnung. Immer mehr und mehr Erinnerungen verschwinden und nur vereinzelte Rudimente bleiben hier und da bestehen, aber es ist sicher nur eine Frage der Zeit bis auch sie immer weniger und weniger werden.
Und was wird in 25 Jahren sein? Möchte ich das überhaupt wissen? Werden Erinnerungen verblassen oder werden sie für immer so stark und lebendig bleiben wie heute? 25 Mal Weihnachten ohne Opa, 25 Geburtstage ohne Opa, 25 Sommer ohne Opa. Werde ich alle seine Erwartungen erfüllen? Das alles weiß ich nicht, doch kann ich eins mit Gewissheit leise sagen: „Opa, ich vermisse dich.“
Eine wahre Geschichte.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.10.2009.
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