Hannis Eriksson

Am Ende der Nacht

 

Was war das denn? Die Nachtschwester sah auf den Bildschirm des Computers, der sämtliche Geräte in den einzelnen Zimmern der Station überwachte. Zimmer 214! Herzstillstand? Nach der OP hatte doch alles so gut ausgesehen. Der Chefarzt hatte gesagt, dass der Patient über den Berg war. Aber dann durfte so etwas doch nicht passieren! Sie klingelte den Dienst habenden Arzt an und machte sich danach gleich auf den Weg ins Zimmer 214. Vielleicht waren ja nur irgendwelche Kabel abgefallen?!

   »Was ist denn los?«, wollte der Arzt wissen, als er das Zimmer erreicht hatte.

   Die Nachtschwester stand immer noch wie versteinert in der Tür. Sie hatte keine Antwort auf diese Frage. Als sie das Zimmer erreicht hatte, stand die Tür auf und der Patient war aus seinem Bett verschwunden.

   »Aber er kann doch nicht allein hier weggegangen sein?!«, richtete sie sich ungläubig an den Arzt.

   »Nein, kann er auch nicht«, entgegnete dieser. »Er ist ja seit dem Unfall nicht mehr zu Bewusstsein gekommen.«

   »Dann hat ihn irgendjemand von hier weggebracht?« Die Nachtschwester war mit dieser Situation überfordert.

   »Rufen sie die Polizei an!«, richtete sich der Arzt direkt an sie. »Wir können hier nichts mehr machen.«

 

Als er aufwachte, hatte er am ganzen Körper heftige Schmerzen. Er sah sich um. Er lag in einem Krankenhauszimmer, also hatte er überlebt.

   Das letzte, an das er sich erinnern konnte, bevor er hier aufgewacht war, waren diese zwei Gesichter gewesen. Er kannte sie nur zu gut. Die beiden Handlanger dieses Arschlochs, der ihn um alles gebracht hatte und ihn jetzt noch um das letzte hatte bringen wollen, dass ihm blieb, sein Leben. Aber jetzt war er zu weit gegangen, … oder auch nicht. Diese beiden Volldeppen hatten noch nie etwas getaugt und ihn umbringen konnten sie auch nicht. Aber das war ein Fehler gewesen. Jetzt würde er sich rächen und es war ihm inzwischen egal, ob er auch dabei drauf ging, das war er ja sowieso schon fast, aber er würde diesen Typen mitreißen und jeden anderen, der sich ihm in den Weg stellte.

   Er richtete sich auf. Es war gar nicht so schlimm, wie er erwartet hatte. Ihm war ein wenig schwindlig, aber trotz der Wunden die er an seinem Körper sehen konnte, hatte er kaum Schmerzen. Er sah an sich hinunter. In diesem Aufzug kam er nicht weit, aber er würde schon irgendwo andere Sachen finden.

   Er stieg aus dem Bett und riss sich die Kabel vom Körper. Dann ging er zur Tür und öffnete sie, nur ein Spalt, um erstmal seine Lage auszuspähen. Sehen konnte er noch nichts, aber er hörte Schritte auf dem Gang. Er lugte ein wenig weiter zu Tür hinaus. Eine Schwester! Er sah auf die Kabel. Hatte er einen Alarm ausgelöst? Die Wahrscheinlichkeit dafür war groß.

   Hier heraus kam er nicht, zumindest nicht im Augenblick. Er musste sich etwas einfallen lassen und zwar schnell. Er sah sich im Zimmer um. Der Kleiderschrank, das war immerhin eine Lösung. Er zog die Zimmertür noch ein Stück weiter auf und verschwand dann im Kleiderschrank. Ruhig Atmen, sagte er zu sich selbst. Wenn sie das leere Zimmer sieht, wird sie ja hoffentlich schnell wieder verschwinden.

 

»Rufen sie die Polizei an! Wir können hier nichts mehr machen.«, sagte der Arzt.

   Endlich verschwanden die beiden. Wie lange hatte er eigentlich in diesem Schrank gesteckt? Er wusste es nicht. Jegliches Zeitgefühl hatte er verloren.

   Er verließ den Schrank und dann das Zimmer. Auf dem Gang war niemand mehr. Aber jetzt musste er sich beeilen, eh die Bullen kamen. Langsam ging er den Gang entlang, leise und immer auf der Hut, nicht dass ihn jemand hörte oder sah.

   Stopp! Gerade noch mal Glück gehabt. Mal sehen, was das für ein Zimmer ist, aus dem der Arzt gerade raus gekommen ist. Er wartete ab, bis der Arzt außer Sichtweite war und ging zu diesem Raum. Umkleideraum, erklärte das Türschild, Kein Zutritt für Unbefugte. Licht schien nicht unter der Tür hervor. Trotzdem wagte er sich nur vorsichtig vor. Er hatte Glück, im Raum war niemand, dafür gab es aber genug Klamotten für ihn zur Auswahl, … und sogar etwas passendes.

   Er zog sich an, verließ den Raum wieder und schlich sich unbemerkt aus dem Krankenhaus.

   Er war gerade in eine Seitenstraße eingebogen, als ein Streifenwagen hinter ihm vorbeifuhr. Er ging weiter. Er musste sich eine Waffe besorgen und er wusste wo. Martin schuldete ihm noch einen Gefallen und so wie er ihn kannte, war das nicht mal allzu schwierig für ihn.

 

Die Polizisten betraten das Zimmer, zwei uniformierte, gefolgt von einem Kollegen in zivil, der sich als Kommissar Marx vorgestellt hatte. Er hatte die Schwester gebeten, ihm alle Unterlagen über den Patienten auszuhändigen.

   Kommissar Marx nahm einige Zettel entgegen, die die Nachtschwester ihm geholt hatte.

   »Ist das alles?«, wollte er wissen, nachdem er das Deckblatt durchgelesen hatte.

   »Ja«, entgegnete die Schwester. »Mehr haben wir nicht über ihn.«

   Der Kommissar überflog erneut das Deckblatt. John Doe? Jetzt verwendeten sie sogar hier schon diesen Namen. Irgendwann würden sie wohl zu einem weiteren amerikanischen Bundesstaat werden, sinnierte er.

   Der Typ, den die Ärzte auf Mitte bis Ende dreißig geschätzt hatten, war 1,78 groß, 85 Kilo schwer, hatte dunkle kurze Haare, Schuhgröße 44. Das würde ausreichen, um ihn zu finden, wenn er überhaupt noch lebte. Laut Aussage des Dienst habenden Arztes war es nicht möglich, dass sein Patient das Krankenhaus allein verlassen hatte.

   Seine Kollegen in Uniform hatten bereits den Unfall aufgenommen. Ein Autofahrer hatte den Mann gefunden, schwer verletzt. Er war angefahren worden und der Unfallverursacher hatte das Weite gesucht.

   Jetzt stellte sich Kommissar Marx die Frage, ob es sich wirklich um einen Unfall gehandelt hatte. Nun, wo der Mann aus dem Krankenhaus verschwunden war, deutete einiges auf Absicht hin. Ein Mordversuch? Sie mussten unbedingt herausfinden, wer der Mann war, nur so konnten sie ein Motiv finden. Wenn sie sich beeilten, konnten sie ihn vielleicht sogar noch retten, obwohl das doch eher unwahrscheinlich war. Aber sie mussten es versuchen. Ein Foto des Vermissten sollten seine Kollegen eigentlich gemacht haben.

   Kommissar Marx zog sein Handy aus der Manteltasche und wollte gerade wählen, als ihn die Nachtschwester darauf hinwies, dass das hier nicht gestattet war, von wegen hochempfindliche Gerätschaften und so. Er verließ die Station und ging in die Empfangshalle des Krankenhauses hinunter. Dann wählte er.

   »Katja. Sorry, dass ich dich aus dem Bett klingele, aber wir haben einen Fall. Komm bitte so schnell wie möglich ins Kommissariat. Wir treffen uns dort.«

   Seine Kollegin klang nicht gerade begeistert, aber sie hatte sich ja nun mal diesen Job ausgesucht, genau wie er auch.

   Seine beiden uniformierten Kollegen kamen jetzt auch nach unten. Das Krankenzimmer hatten sie erstmal versiegelt. Die Kollegen von der Spurensicherung mussten sich jetzt um alles Weitere kümmern.

   Die drei Beamten gingen zu ihrem Streifenwagen und fuhren zurück auf die Dienststelle.

 

»Was ist denn mit dir passiert?«, fragte Martin, als er ihn zu Gesicht bekam.

   »Krüger«, entgegnete T.H.. »Der Typ wollte mich umbringen lassen.«

   »Und was hast du jetzt vor?«, hakte Martin nach.

   »Was wohl«, erwiderte er. »Du hast doch bestimmt ne Knarre für mich?!«

   »Bist du irre?« Martin sah seinen Freund an. »Das mach ich nicht! Vergiss es.«

   »Du schuldest mir noch was«, drängte T.H..

   »Mag schon sein!«, erwiderte Martin. »Aber ich sehe bestimmt nicht dabei zu, wie du Selbstmord begehst.«

   »Dieser Sack von Krüger hat’s nicht anders verdient.« T.H. stand seinem Freund Martin aufrecht gegenüber. Die Wut, die er spürte ließ jetzt auch die letzten Schmerzen verschwinden. Er hatte sich etwas vorgenommen und daran konnte auch Martin ihn nicht hindern.

   »Du hast ja recht, aber lass das …« Martin unterbrach den Satz.

   »Die Bullen regeln?«, lachte ihn sein Freund an. »Die hatten ihre Chance. Außerdem hat Krüger die meisten von denen sowieso in der Tasche.«

   Martin senkte seinen Kopf. Dann sah er wieder nach oben und sagte: »Ich gebe dir ne Kanone, aber ich komm mit!«

   »Nein! Tust du nicht! Das ist eine Sache zwischen mir und Krüger. Gib mir einfach die Knarre und du bist mich los.«

   Martin drehte sich um und ging. Fünf Minuten später kam er zurück. In seinen Händen hielt er eine Walther P99, zwei zusätzliche Magazine und eine Schachtel mit weiteren Kugeln.

   »Einzelschuss, fünfzehn Patronen pro Magazin. Die beiden Zusatzmagazine sind bereits voll«, erklärte Martin. »Und hier sind noch mal etwa zweihundert Patronen«, fügte er hinzu und übergab T.H. die Schachtel. »Wie man das Ding bedient weißt du, ja?«

   »Ja weiß ich«, entgegnete T.H. seinem Freund. »Was ist? Gib schon her!«

   Zögerlich übergab Martin T.H. nun auch die Waffe und die beiden Zusatzmagazine. »Zeig es ihm!«, rief er ihm hinterher.

   T.H. verschwand in der Nacht. Er hielt sich soweit wie möglich von den Straßenlampen entfernt. Dort wo es ging, nutzte er die kleinen und dunklen Gassen der Stadt.

   Etwa fünf Kilometer hatte er zurückzulegen und dann würde Krüger zahlen.

 

Marx war inzwischen auf dem Kommissariat angekommen. Seine Kollegin Katja Meisner erwartete ihn bereits in ihrem gemeinsamen Büro.

   »Was gibt es denn?«, fragte sie sehr müde.

   »Heute Abend gab es einen Unfall mit Fahrerflucht«, begann Marx zu erzählen.

   »Und deswegen klingelst du mich aus dem Bett?«, entgegnete Katja, bevor Marx mehr sagen konnte.

   »Setzt dich erst mal«, bat Marx seine Kollegin, die vor ihrem Schreibtisch stand. »Das könnte etwas dauern.«

   Katja Meisner setzte sich und blickte ihren Kollegen erwartungsvoll an. Der hatte sich inzwischen ebenfalls hingesetzt und fuhr mit dem Bericht fort.

   »Es ist gut möglich, dass das kein wirklicher Unfall war, wohl eher ein Mordversuch.«

   »Und wie kommst du zu dieser Annahme?«, wollte Katja wissen.

   »Das Unfallopfer hat überlebt, ist aber vor etwa einer Stunde spurlos aus dem Krankenhaus verschwunden.« Marx sah seine Kollegin an und wartete auf eine Reaktion von ihr.

   »Vielleicht ist er einfach abgehauen!«, kommentierte sie.

   »Unwahrscheinlich«, erklärte Marx. »Laut Aussage des zuständigen Arztes ist der Mann seit seiner Einlieferung nicht wieder zu Bewusstsein gekommen, zudem hat er bei dem Unfall, oder wie auch immer man das nennen will, schwere Verletzungen davon getragen.«

   »Und du willst jetzt, dass ich das Opfer überprüfe?! Du solltest dich endlich mal für einen Computerkurs anmelden.«

   Katja Meisner schaltete ihren Rechner ein. »OK. Wie heißt der Mann?«

   »Wissen wir nicht«, erklärte Kommissar Marx. »Er hatte keine Papiere bei sich. Aber unsere Kollegen haben ein Foto von ihm gemacht.«

   Marx reichte seiner Kollegin das Foto des Vermissten. Katja nahm es, legte es auf den Scanner und eine Minute später erschien das Bild auf ihrem Monitor.

   »Dann wollen wir mal sehen, ob uns das Foto weiterbringt.« Sie ließ das Bild mit der Kriminaldatenbank abgleichen. Einige Minuten würde das wohl dauern. »Einen Moment musst du dich gedulden«, sagte sie zu Marx. »Du könntest mir ja einen Kaffee holen. Bis du wieder da bist, könnten wir einen Treffer haben.«

   Marx stand auf und verließ das Büro in Richtung Kaffeeautomat. Katja Meisner lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und wartete gespannt auf ein Ergebnis.

 

Er musste sich ausruhen. Langsam kamen die Schmerzen zurück. Es wurde von Schritt zu Schritt schlimmer. Aber er konnte jetzt nicht aufgeben. Krüger muss bezahlen, sagte T.H. zu sich selbst. Einen Weg zurück gab es für ihn nicht mehr.

   Er stand auf und ging weiter. Die Hälfte des Weges hatte er bereits geschafft und die andere Hälfte würde er auch noch schaffen.

   Eigentlich hätte er schon viel früher handeln müssen. Der Typ hatte sich an seine Freundin rangemacht und sie ihm ausgespannt. Er hasste ihn dermaßen dafür und er hasste auch diese alte Schlampe. Vielleicht war es sogar gut, dass er sie los war. Sie war ja auch nicht besser als Krüger. Das Geld was Krüger nicht aus seinen Taschen gezogen hatte, hatte sie sich geholt.

   Dieser alte Sack. Er musste lachen, als er sich vorstellte, wie die beiden es miteinander trieben. Dieses fette Schwein. Er würde ihm gleich ein paar Kugeln verpassen, nicht das seine Wampe ihn noch schützte.

   Er ging weiter, langsam, aber er brauchte sich auch nicht allzu sehr zu beeilen. Krüger würde noch eine ganze Weile dort sein, wo er jetzt hinging.

 

Kommissar Marx kam zurück ins Büro. In seinen Händen hielt er zwei Becher Kaffee, von denen er einen auf Katja Meisners Schreibtisch abstellte. Von dem anderen nippte er.

   »Hast du schon was gefunden?«, fragte er seine Kollegin.

   »Noch nicht, aber die Datenbank ist auch nicht gerade klein«, entgegnete diese. »Wie habt ihr das eigentlich früher gemacht? Jedes Foto einzeln betrachtet?«

   Es machte Ring. Der Computer hatte ein Ergebnis. Meisner und Marx sahen beide gespannt auf den Rechner. Der Vermisste war für die Polizei kein unbekannter. Thorsten Heinze, 36 Jahre, zweimal wegen Drogenbesitzes verhaftet. Die Anklage war allerdings in beiden Fällen fallen gelassen worden. Die Menge die er jeweils bei sich hatte, war beide Male knapp unter der gesetzlichen Grenze gewesen. Allerdings hatten die Kollegen von der Drogenfahndung keine Einstichspuren an den Armen des Verdächtigen gesehen, dem Richter hatte das allerdings nicht für eine Verurteilung gereicht.

   »Vielleicht ging es um irgendwelche schief gelaufenen Drogengeschäfte?«, kommentierte Katja Meisner.

   »Wäre möglich«, erklärte Marx. »Stellt sich nur die Frage, wer jemanden deswegen gleich zweimal umbringen will. Einmal würde ich je verstehen, aber wer wäre dazu bereit in ein Krankenhaus einzudringen und unseren Freund hier dort herauszuholen, und ohne das jemand davon etwas mitbekommt?«

   »Vielleicht steht ja in seinem Profil etwas über seine Kontakte!« Katja Meisner scrollte mit der Maus nach unten.

   »Mach noch mal ein Stück zurück«, bat Kommissar Marx. »Da.« Er zeigte auf einen Namen der im Protokoll aufgenommen war.

   »Martin Berger. Wäre eine Möglichkeit«, erklärte Katja Meisner.

   »Wir beide fahren zu Martin Berger und zwei uniformierte Kollegen können sich die Wohnung von Thorsten Heinze ansehen. Vielleicht finden sie ja dort noch etwas, das uns weiterbringt.« Marx trank noch einen kräftigen Schluck aus dem Kaffeebecher, stellte ihn dann auf seinem Schreibtisch ab und ging in Richtung Tür. Seinen Mantel hatte er die ganze Zeit anbehalten.

   Katja Meisner stand auf, zog sich ihre Daunenjacke an, nahm den Kaffeebecher und folgte ihrem Kollegen eilenden Schrittes. Unterwegs zum Auto leerte sie den Kaffeebecher. Es war zwar nicht viel, musste aber fürs erste reichen.

   Erst im Wagen meldete sich Kommissar Marx bei seinen Kollegen, gab die Adresse des Vermissten durch und bat, doch zwei Beamte in die Wohnung zu schicken, um dort Hinweise auf den Fall zu suchen. Dann startete er den Motor und fuhr los.

 

»Er ist also erledigt?!«, schrie Krüger, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte. »Ihr seid doch zum Scheißen zu dämlich!«

   »Kurz hinter uns kam ein Wagen, wir dachten er wäre…«, gab einer der beiden von sich.

   »Ihr dachtet also?!«, schrie Krüger weiter. »Überlasst das Denken Leuten mit einem Gehirn!« Etwas ruhiger fügte er hinzu: »Verzieht euch!«

   »Und was machen wir jetzt?«, wollte seine Freundin wissen. Man konnte ihr ihre Angst förmlich ansehen.

   »Mach dir mal keine Sorgen«, redete Krüger beruhigend auf seine Freundin ein. »Laut der Aussage des behandelnden Arztes konnte er nicht allein aus dem Krankenhaus verschwinden und selbst wenn das nicht stimmt und er doch allein da raus ist, der ist zu schwer verletzt, als dass er allein was unternehmen kann.«

   Krüger selbst machte sich schon Sorgen. Er hatte schon öfter gesehen, wozu jemand fähig war, wenn der Adrenalinpegel nur hoch genug war. Trotzdem, so leicht würde T.H. hier nicht reinkommen, und wenn doch, eine Waffe hatte er immer griffbereit.

 

T.H. hatte noch knapp 500 Meter vor sich, aber die konnten die gefährlichsten werden. Er hatte kaum eine Möglichkeit unbemerkt in den Club zu kommen. Die Straße davor war, zumindest momentan, noch viel zu belaufen und befahren. Vielleicht würde es etwas bringen noch ein zwei Stunden abzuwarten. Die Klamotten, die er trug, waren dick genug, um ihn bei diesem Wetter warm zu halten. Nur durfte er nicht einschlafen. Aber vielleicht sollte er es doch einfach wagen. Wenn er jetzt dort auftauchte, rechnete man hoffentlich nicht mit ihm.

   Er setzte seinen Weg fort, vergrub sein Gesicht in dem dicken Rollkragenpullover und der Daunenjacke, die er sich aus dem Umkleideraum im Krankenhaus besorgt hatte und bewegte sich so normal wie möglich, um nicht die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zu ziehen.

   Die Nutten betrachteten seine Klamotten. Sie sahen einfach zu neu aus, als dass sie ihn in Ruhe lassen würden.

   »Wir wär’s mit uns beiden, Süßer«, fragte eine.

   »Lust auf ’nen dreier«, fragten zwei andere.

   Die Straßenseite zu wechseln hätte hier überhaupt nichts gebracht. Er grub sich durch die Nutten hindurch, bahnte sich seinen Weg, immer den Blick auf den Eingang des Clubs gerichtet. Er musste zusehen, dass ihn keines der Mädels erkannte, vor allem nicht eine von Krügers Nutten.

   Zu früh gefreut. Hätte er doch bloß nicht nach oben gesehen.

   »Thorsten?!«, erklang Trixis überraschte Stimme. »Wie siehst du denn aus.«

   Was sollte er jetzt tun? Er ergriff Trixis Arm und zog sie in die nächste Seitengasse, gleich ein Paar Meter weiter, soweit dass der Schein der Straßenlampe kaum noch hierher reichte. Er hob seinen Kopf, streckte ihn aus seiner Jacke und sah Trixi an.

   »Du hättest grad fast alles zunichte gemacht«, sagte er zu ihr, gerade so laut, dass es auf sie bedrohlich wirken sollte und noch so leise, dass niemand sonst ihn hörte.

   »Was zunichte gemacht?«, wollte Trixi wissen, die nichts so schnell einschüchtere. »Und was ist eigentlich mit dir passiert?«

   In dem Moment sah eine von Trixis Kolleginnen um die Straßenecke und rief: »Alles in Ordnung?«

   »Ja. Alles in Ordnung«, rief Trixi zurück. Ihre Kollegin verschwand wieder um die Ecke und Trixi sah T.H. fragend an.

   »Krügers Schläger wollten mich umbringen«, erklärte T.H..

   »Und du willst dich jetzt rächen, oder was?«, fragte Trixi. »Bist du übergeschnappt? Das überlebst du nicht.«

   »Na und, was soll’s? Würde keinen Menschen interessieren, wenn ich dabei draufgehe.« T.H. sah die Seitengasse hinunter. Allzu weit hatte er es nicht mehr.

   Trixi berührte seine Wange und zog seinen Kopf wieder zurück. Dann küsste sie ihn. »Mich interessiert es!«, erklärte sie.

   Damit hatte T.H. nicht gerechnet. Klar, er und Trixi hatten sich immer gut verstanden, aber er konnte sich nicht vorstellen, mit ihr eine Beziehung anzufangen, nicht weil sie eine Prostituierte war, nein, sondern weil sie eine von Krügers Mädels war. Er hätte auch nie damit gerechnet, dass von ihrer Seite Gefühle da waren.

   Man! Der Kuss war verdammt gut, dachte er. Trotzdem, er musste das erst erledigen, falls er heil aus der Sache raus kam konnte man ja weiter sehen. Er drehte sich um und wollte seinen Weg fortsetzen, aber Trixi hielt ihn fest.

   »Tut mir leid, aber ich kann dich hier nicht weglassen«, erklärte sie. »Du kommst jetzt erstmal mit zu mir nach Hause und da versorge ich deine Wunden.«

   T.H. sah Trixi an. Eine kleine Träne rollte ihr über die Wange. Seine Wunden schmerzten, sein ganzer Körper tat ihm weh. Hatte er überhaupt noch einen heilen Knochen an sich? Er wusste es nicht. Vielleicht sollte er Trixis Angebot annehmen, erstmal wieder zu Kräften kommen und dann seinen Plan durchführen.

   »Bitte«, sagte sie.

   »OK. Aber das heißt nicht, dass ich meinen Plan damit aufgebe«, erklärte T.H..

   Trixi zog T.H. einige Straßen weit, etwa einen Kilometer bis zu einer kleinen Zweiraumwohnung. T.H. setzte sich auf Trixis Bett und ließ sich von ihr verarzten.

 

Kommissar Marx und seine Kollegin hatten inzwischen die Wohnung von Martin Berger erreicht, obwohl Marx diesen Unterschlupf kaum als Wohnung bezeichnet hätte. Marx klopfte an die Tür, da er nirgends eine Klingel finden konnte.

   Es dauerte nicht lange, da wurde ihnen geöffnet. Noch bevor die Tür komplett geöffnet war und sie in die alte Halle hineinsehen konnten, wurden sie von einer erwartungsvollen Stimme begrüßt.

   »T. äh…«, war allerdings alles, was Martin Berger herausbrachte, bevor er die beiden Polizisten vor sich stehen sah.

   »Was … was wollen sie?«, fragte er nervös.

   »Wir sind von der Kripo«, erklärte Kommissar Marx. »Wir haben einige Fragen zu ihrem Freund Thorsten Heinze.«

   »T. … H.«, stotterte Martin Berger.

   »Sie haben ihn erwartet, als sie uns die Tür geöffnet haben?«, fragte Katja Meisner.

   »Ich … äh …«, stotterte Martin Berger weiter.

   »Wo ist er?«, fragte Marx konsequent.

   »Ich … er …«

   »Wir können uns auch gern auf dem Präsidium unterhalten«, erklärte Katja Meisner.

   »Er … ist auf dem Weg zu … Krüger«, sagte Berger.

   Marx und Meisner sahen sich gegenseitig an. Dann blickten sie beide wieder Martin Berger an und Marx fragte: »Timo Krüger?«

   »Ähm, ja«, bekam Marx als Antwort zurück. »T.H. wurde angefahren und das waren Krüger seine Jungs, … hat er mir jedenfalls so gesagt.«

   »Und jetzt will er zu Krüger und sich rächen? Hat er eine Waffe?«, fragte Katja Meisner.

   Martin Berger sah auf den Boden und dann wieder hoch. »Hätte ich doch bloß nix gesagt, ihr seid auch von Krüger gekauft worden!« Dann schlug er den beiden Kommissaren die Tür vor der Nase zu.

   »Krüger also«, sinnierte Marx. »Auch wenn ich den Kerl nicht mag und nichts dagegen hätte ihn hinter Gittern zu sehen, Heinzes Selbstjustiz können wir nicht dulden.«

   Marx und Meisner setzten sich in ihren Wagen. Während Marx in schnellem Tempo durch die Straßen der Stadt fuhr, forderte Katja Meisner Verstärkung an.

   »Tut mir leid, Kollegen, momentan sind alle Einsatzkräfte in der Südstadt unterwegs, Großbrand, dauert mindestens eine halbe Stunde, bevor wir Verstärkung schicken können«, meldete die Zentrale.

   »Das kriegen wir auch allein hin«, erklärte Kommissar Marx, wütend auf diese Nachricht.

 

»Dein Ex ist auf dem Weg hierher«, sagte Krüger zu seiner Freundin. Er hatte gerade wieder einen Anruf von seiner Informantin bei der Polizei erhalten. »Schickt die Leute nach Hause«, rief er seinen Angestellten zu.

   Innerhalb kürzester Zeit war der Club menschenleer. Sollte Heinze sich nur herwagen, er würde die Tür öffnen und dann war es das.

   »Geh du nach hinten«, bat er seine Freundin, die seinen Worten sofort Folge leistete.

   Krüger und seine beiden Jungs setzten sich an verschiedene Tische im Club, so postiert, dass jeder die Tür im Auge hatte. Ein dritter stand draußen am Eingang und sollte alle anderen Leute abhalten. Potentielle Kundschaft abzuknallen würde seinem Ruf nicht gerade gut tun.

 

Marx und Meisner hatten die Amüsiermeile der Stadt erreicht und hielten einige Meter von Krügers Club entfernt. Sie stiegen aus und gingen auf den Club zu. Vor der Eingangstür stand ein großer und kräftig gebauter Mann, etwa Mitte dreißig, und versperrte ihnen den Zutritt.

   »Ist geschlossen«, lallte er hervor.

   »Wir sind von der Kripo und wollen mit deinem Chef sprechen«, erklärte Marx und hielt ihm seinen Dienstausweis hin.

   »Der Chef ist drin«, brummte der Mann und ließ die beiden Beamten passieren.

   Katja Meisner ging voraus. Zuerst kamen sie in einen kleinen Vorraum, rot beleuchtet. Wie Klischeehaft, dachte Katja. Als sie die eigentliche Tür zum Etablissement öffnete knallten ihr gleich mehrere Kugeln entgegen. Reflexartig zog Marx seine Kollegin zurück.

   »Alles in Ordnung?«, fragte Marx.

   »Ich hab eine Kugel in die Schulter bekommen«, erklärte Katja Meisner. »Da scheinen gleich mehrere zu schießen.«

   Marx lehnte sich zurück, stellte seinen rechten Fuß nach vorn und trat gegen die Tür. Gleich darauf fielen die nächsten Schüsse.

   »Verdammte Scheiße! Sind die wahnsinnig geworden?!«, sagte Marx, während weitere Schusssalven auf die Tür einprasselten.

   Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und lauschte den Schüssen. »Drei Waffen«, erklärte er. Dann versuchte er sich den Raum vorzustellen, den er vor einigen Wochen bei einer Razzia betreten hatte, bei einer Razzia, bei der wieder nichts gefunden worden war.

   Innerhalb der Polizei gab es einen Spitzel, der für diesen Krüger arbeitete, nur konnte der bis jetzt nicht ausfindig gemacht werden.

   Nach kurzem Überlegen konnte sich Marx an den Raum erinnern. Er zog seine Kollegin aus der Schusslinie, entsicherte seine Waffe und machte sich bereit, die Tür aufzustoßen. Er zielte auf den Ort, wo er den einen Schützen vermutete, stieß die Tür gerade soweit auf, dass er in die Richtung sehen konnte und drückte ab.

   Von drinnen kam ein schepperndes Geräusch. War wohl ein Treffer, dachte Marx. Er schloss noch mal kurz die Augen und lauschte den Schüssen, die immer noch auf die Eingangstür niederprasselten. Ja, nur noch zwei Waffen.

   Jetzt richtete er sich so aus, dass er den zweiten Schützen beim nächsten Türaufstoßen erledigen konnte. Er trat die Tür wieder auf und feuerte, zwei Schüsse in kurzer Reihenfolge. Auch den zweiten Schützen hatte er außer Gefecht gesetzt. Allerdings hatte er sich bei diesem Schusswechsel auch eine Kugel eingefangen. Sein linker Unterarm schmerzte heftig, aber den dritten Schützen musste er auch noch erledigen.

   Aber was war das? Der dritte Schütze hatte aufgehört zu feuern. Es klang fast so, als wollte der sich aus einer Seitentür verabschieden.

   Kommissar Marx trat die Tür auf und hielt auf den dritten Schützen an.

   »Stehen bleiben! Polizei«, schrie Marx.

   Der Mann blieb stehen und drehte sich abrupt um. Er hielt eine Waffe in der Hand und richtete sie auf Marx.

   »Waffe runter«, rief ihm der Kommissar entgegen.

   Der Mann ließ die Waffe zu Boden fallen und blieb regungslos stehen. Marx ging auf den Mann zu, der anderthalb Köpfe größer als er war und legte ihm Handschellen an, ohne dass sich der wehrte.

   Fünf Minuten später waren endlich die uniformierten Kollegen vor Ort und weitere zehn Minuten später kümmerten sich zwei Sanitäter um Meisner und Marx.

   Zwei der Schützen waren tot, darunter der Clubbesitzer Timo Krüger, der dritte Schütze wurde abgeführt. Der Mann gab zu Protokoll, dass sein Chef einen Anruf bekommen hatte und eigentlich auf Thorsten Heinze gewartet hatte.

   Der Türsteher, der die beiden Polizisten ohne Vorwarnung in den Club hatte gehen lassen, war verschwunden, aber er würde auch wieder auftauchen, da waren sich die Beamten sicher.

   Thorsten Heinze konnte in der Nacht nicht mehr ausfindig gemacht werden.

   »Hat Heinze seine Rache also doch bekommen«, sinnierte Marx.

   »So sieht es wohl aus«, stimmte Katja Heinze zu.

 

T.H. wachte auf. Von draußen schien die Sonne ins Zimmer. Er lag in Trixis Bett und sie stand nackt im Zimmer. Gerade hatte sie das Radio angeschaltet. Sie drehte sich zu ihm um.

   »Krüger ist tot«, sagte sie. »Er ist bei einem Schusswechsel mit der Polizei ums Leben gekommen.«

   T.H. strahlte. Er hatte beides, seine Rache und die heißeste Schnecke der Stadt. Trixi kroch wieder zu T.H. unter die Decke. Sie kuschelten sich aneinander und schliefen wieder ein.

Der Versuch mal ein anderes Metier anzureißen kommt hoffentlich gut an. Ich freue mich über jeden Kommentar, ob positiv oder negativ, jede Art von Anregung, auch zu meinen anderen Geschichten. Euch und Ihnen viel Spaß beim Lesen.Hannis Eriksson, Anmerkung zur Geschichte

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Hannis Eriksson).
Der Beitrag wurde von Hannis Eriksson auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.10.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Hannis Eriksson als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Emerichs Nachlass von Axel Kuhn



„Emerichs Nachlass“ ist ein Krimi, der im Jahre 1985 in Stuttgart spielt, vor dem Hintergrund des Krieges zwischen dem Iran und dem Irak, und in einer Zeit, in der sich auch noch die Stasi von der fernen DDR aus einmischen kann.

Emerich war ein Freund Hölderlins, und in seinem Nachlass könnten Briefe liegen, die den Dichter in einem neuen politischen Licht erscheinen lassen. Doch kaum sind Stücke aus diesem Nachlass aufgetaucht, liegt ihr Besitzer in seinem Schlafzimmer tot auf dem Boden. ...

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Krimi" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Hannis Eriksson

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Dumm gelaufen! – Alles aus? (Teil 4) von Hannis Eriksson (Wie das Leben so spielt)
Das Verhör von Klaus-D. Heid (Krimi)
Ein Tag mit Karli (witzig) von Margit Kvarda (Humor)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen