Adalbert Nagele

Sybilles Hände

 

Da sind sie wieder, diese schmalen, schönen Hände, mit ihren zarten Fingern; Hände wie aus feinstem Marmor. Doch diese Hände sind warm und lassen mich im Gedanken ihre leicht gewölbten Adern fühlen und die eingehauchte Energie dieser wahrscheinlich sehr sinnlichen Frau erahnen, die gerade ihr Glas mit blumigen Bordeaux-Wein zu ihrem Mund führt.

Diese Hände scheine ich so gut zu kennen, weil sie mich an Sybille erinnern, als ich sie an einem warmen Sommerabend auf einer Hotelterrasse in Abbazia kennen lernte. Sie saß am Piano und spielte für die Hotelgäste gerade Vivaldi's vier Jahreszeiten.
Bei Sybille waren nicht nur ihre Hände so anziehend und faszinierend, es war die ganze Person, die mich vom ersten Augenblick an auf eine besondere Art begeisterte, wie man es nur bei außergewöhnlichen Begegnungen wahrnimmt.
Sybille war damals um die dreißig. Sie strahlte eine lockere Lebendigkeit aus, wenn sie mit Hingabe dem schon alt erscheinenden Piano die feinsten Töne entlockte.
In einer Pause hatte sie mich dann erblickt und als ihre Augen die meinen trafen, schien es, als würde sie nicht mehr loslassen. Dieser kurze Augenblick war entscheidend für alles Weitere. Sie ließ sich ganz ungezwungen von mir auf einen Drink einladen. Es war, als würden wir uns schon ewig kennen. Ganz unbeschwert erzählte sie mir, wie sie zur Musik und ihren Auftritten gekommen war.
Ich fühlte es, dass sie die Nacht mit mir verbringen wollte und da sie gerade keine feste Beziehung hatte, nahm sie mich mit in ihre Wohnung. Obwohl ich damals um fünf Jahre jünger war als Sybille, strahlte sie eine Jugendlichkeit auf mich aus, als wäre sie um einiges jünger als ich. Ihre Attraktivität zog mich voll in Bann. Ganz ohne viel Umstände streifte sie ihr T-Shirt ab und ohne Worte nahmen wir uns in die Arme. Dieses Gefühl war anders als bei Mädchen, die ich vorher schon gekannt habe. Als ob wir uns schon immer kennen würden, genossen wir die Wärme unserer Umarmung, die unser Verlangen anheizte und uns fast von selbst in ihr Bett und in den siebenten Himmel führte.
Von nun an liebten wir uns öfters und sehr intensiv. Es war wie im Paradies. Wir genossen es beide, lebten wie neu geboren in der Gegenwart und kümmerten sich nicht um die Zukunft.
Doch als ich eines Tages wieder einmal bei ihr zuhause vorbei schaute, war sie weg, von ihrer Wohnung ausgezogen, ohne mir vorher etwas darüber gesagt zu haben. Verzweifelt suchte ich sie im Hotel, wo sie auftrat, doch die Direktion vermittelte mir nur, ihr Vertrag wäre zu Ende, sie wäre abgereist und sie wissen nicht wohin.
Da stand ich nun. Erst jetzt kam es mir ins Bewusstsein, wie viel sie mir wirklich bedeutete. Obwohl ich sie liebte, wie keine andere Frau zuvor, fand ich sie nirgends mehr, musste mich einfach damit abfinden.

Inzwischen vergingen fast dreißig Jahre. Doch jetzt erkannte ich sie wieder, an ihren einzigartigen Händen, die gerade ihr Glas Bordeaux-Wein hielten. Ein Blick in ihre Augen und ich wusste, sie war es!
Das Alter hat sie gar nicht so verändert, sie war noch immer attraktiv, schön und anziehend. Ich musste mich ja auch verändert haben. Es war noch dieselbe Aura wie damals, die uns umgab und die sie noch immer viel jünger erscheinen ließ, als sie wirklich war.
Wieder war es derselbe Ort, nur ein anderes Hotel und wir liebten uns wie damals, vielleicht sogar noch heftiger und ohne viel Worte.
Eines Tages wollte sie wieder weiter, weil sie, wie sie sagte, ihre Freiheit liebte. So schwer es mir auch fiel, ich ließ sie auch diesmal wieder ziehen, auf unbestimmte Zeit; obwohl sie die beste Frau meines Lebens war, eine Nomadin des Glücks.

© Adalbert Nagele

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.10.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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