Rico Graf

Die leere Galerie

Die leere Galerie

 

Oder die Frage nach der Kunst

 

 2. Fassung

 

 

Das Grau dieser Tage hängte sich an die schon wehmütigen Seelen in trüber Erwartung. Das Weinen des winkenden Himmels, das Plätschern seiner Tränen zum Abschiede auf dem Lichte spiegelnden Asphalt kündete von der nahenden Jahreswende, vom nahenden kalten Weiß. Der liquide Teppich, ein nasser Film über Stein und Rille, barst und barst von der Welle zur Fontäne: Es klang das Lied des Herbstes in den Straßen. Die Finger des Windes zupften an den Saiten der Wolkenspiele, die Töne wurden dunkler – eine graue Poesie.

Als er den Blick von der Uhr wandte, bestätigte sich die Ahnung zur gebotenen Eile. Unter Schirm und Hut flatterte sein Mantel eigensinnig seinen Reigen. Es roch nach Regen. Das heftige Geprassel legte sich über die gewohnten Stimmen der Stadt, souverän und unduldsam. Der Mann war sich der Adresse nicht gewahr, die er aufzusuchen gerade unterwegs war. Ohne übertrieben schnellen Schrittes klitschklatschte sein Schuhwerk durch das Nass, klitschklatsch klitschklatsch, von Haus zu Haus, klitschklatsch klitschklatsch, von Tür zu Tür. Den Blick an ein größeres Tor dann werfend, hielt er nun inne, kramte mit gebrochener Ruhe, jedoch ohne übermäßige Hektik, in der Innenseite seines Mantels herum, bis er eine Art Zettel oder Karte hervorzog. Es handelte sich um eine Einladung, welche er, kurz nach oben schauend und dann den Schirm schützend über diese haltend, las, um offenbar an eine für ihn gewichtige Information zu gelangen. Tatsächlich! Er stand richtig. Hier musste sie sich also befinden.

In diesem Augenblicke öffnete sich das Türblatt des eher unscheinbaren Tores und ein Paar – ein Mann und eine Frau – traten aus. Sie waren beide in mondäne Kleider gehüllt, etwas betagter, aber physiognomisch ohne bestechende Auffälligkeit, die eine bestimmte Typologie, oder eine gewisse Charakteristik hätte vermuten lassen können. Ohne Gruß und Blick gingen beide an den vorm Eingang wartenden Herren vorbei; er vernahm hierin ein zischendes Flüstern der Dame, deren scharlachroter Schal in solcher Aufregung umherwehte, dass er das leise Geraune zu untermauern sich anschickte. Die Wortfetzen mischten sich unter die Regentropfen; der Herr meinte etwas zu vernehmen wie So etwas habe ich noch nicht erlebt. Er wähnte sich aber hierin nicht in Sicherheit. Nachdem er den beiden noch kurz hinterher gesehen hatte, zuckte er innerlich die Schultern, konzentrierte sich wieder auf den Eingang vor seiner Nase und im schauerlichen Rauschen riss ein spontaner Gedankenblitz ihn in eine bebende Reminiszenz – hier im Regen, der das Hirn gewittern machte.

 

 

„Blitz und Donner“, hatte der langjährige Freund, ohne unter dilettantischer Blasiertheit zu leiden, gesprochen, „Blitz und Donner in unseren Köpfen gibt es nicht. Das sind nur Bilder, Versuche unaussprechlicher Vorgänge, beginnende Allegorien. Was soll dieser Sturm der Gedanken bedeuten? Das Unaussprechliche? Das Unsagbare? Das Unlogische? Die Gedanken sind unsere innere Sprache. Und die Paradoxien sind nichts anderes als die zwei Seiten der Form. Wittgenstein schrieb in seiner Abhandlung zuletzt: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Das muss man sich mal vorstellen! Unser Sprachlogiker schließt mit einem logischen Fehler: denn über das, was man nicht sprechen kann, kann man nicht schweigen, da man nur über das schweigen kann, über das man auch sprechen kann, verstehst du? Aber ganz folgerichtig bezeichnete er die Grenzen unserer Sprache als die Grenzen unserer Welt. Der Denker ordnet das nur scheinbare Chaos der Sprache, somit das Chaos der Welt, weil er nicht etwa zu Ende denkt, nein, nein, mein Freund, er beginnt überhaupt erst mit dem Denken! Und glaubst du, dass der Anfang des Nichtdenkens die Kunst sei, so irrst du! Das Herz, das Gefühl also, das trägt die Leidenschaft wie ein Schiff auf dem ozeanischen Hirnwasser deines Geistes und! verzeih diese noch nicht einmal dunkel anmutende Metapher, denn auch ich bilde Bilder, und der Hafen, das andere Ufer des Weges schafft die Kunst, den Wurf des Ankers, den Blick am Gestade ins neue Land.“

 

 

Die farblose Ruhe setzte ein. Der Mann in seinem tanzenden Mantel flüchtete vor dem Monolog des Regens, nahm die wenigen Stufen und ging hinein. Darin er ein Foyer vorfand, eines das überladenen Prunk, schwulstiges Interieur ablehnte, das „Klassische“ vergessen, das „Moderne“ jedoch auch nicht gerade erinnert hatte. Grelles Licht strahlte satt und gleichverteilt in den Raum, die Wände waren in Weiß gekleidet, wirkten nackt, schlicht, desolat. Hierin war kein Mensch, nur die greifbare Befangenheit einer Sterilisation, einer Hermetik, einer fremdweltlichen Dimension. Oder in einer contradictio in adjecto ausgedrückt: der Mann stand in einem raumlosen Raume.

Mantel und Hut ausziehend bzw. abnehmend, schritt er zu einer gegenüberliegenden Türe, welche sich nur insofern vom üblichen Weiß hervorhob, als dass sie leichte Konturen, Umrisse ihrer Form und eine metallene Klinke an sich erkennen ließ. Welch ungewöhnliches Foyer für eine Galerie! Oder doch nur ein Vorraum? Gar ein Bestandteil der Ausstellung des Künstlers, dessen Gesicht er niemals auf irgendeiner der zahlreichen Kunstmagazine oder Zeitungsartikel gesehen hatte. Ein Wirkelement, eine Komponente zum Ganzen? Der Herr sah sich als Schnittstelle zwischen Expression und Impression, öffnete die Türe, trat über die Schwelle und erschrak: vor ihm öffnete sich ein saalgroßer zweiter Raum, der sich vom zuvor betretenen lediglich in der Größe, in der Form (er war kreisrund, das scheinbare Foyer hingegen kubisch), einem in seiner Mitte aufgestellten Schild und der Anzahl der weiterführenden Türen, es waren derer drei, also zwei mehr als im Vorraum, und ihre Blätter gingen einladend von der Wand weg, unterschied. Ihm schien es logisch, die Contenance wahrend, sich dem Schild zu nähern, um zu lesen, was auf ihm stand; so las  er folgende Zeilen:

 

 

 

 

Herzlich Willkommen!

Sie besuchen die Ausstellung von

- R. Mahler -

 

Genealogie eines Epigonen des Expressionismus

 

 

 

Dem Herrn erschien diese Aufschrift lakonisch. Nein, nicht lakonisch, eher satirisch-parodistisch gegenüber dem geneigten, nun aber unbestritten irritierten Besucher und damit ein wenig anstößig. Wieder kam ihm der Gedanke, der Besucher solle absichtlich in dieser Ausstellung in Verwunderung gesetzt werden. Diese besondere Art der Einbindung wäre zwar unorthodox, aber womöglich würde sie die Aufmerksamkeit, die Neugierde, das Interesse fördern. Oder – und er dachte an die Theorie der Ästhetik des Performativen von Fischer-Lichte (die Widerverzauberung der Welt) – nicht der Anreiz sei Ziel dieser ungewöhnlichen, im Grunde genommen „nur“ Räumlichkeiten, sondern die Aktivierung des Galeriegastes zum Element der Ausstellung, welche abgesehen von den ausgestellten Bildern eine in Echtzeit laufende Metakunst sein soll, die nicht das übliche Schema erwarten ließ, nämlich, dass der Bildbetrachter einfach betrachtet, die Kunst durch die Betrachtung vollzieht, d.h. vollziehen lässt, da er einzig allein fähig ist in dieser Betrachter-Betrachtetes-Relation Kunst im Vollzug Kunst werden zu lassen, somit die maßgeblich beherrschende Komponente darstellt, sondern den Betrachter in eine Befangenheit des Kontrollverlustes fallen lässt und jene Herrschaft neutralisiert zugunsten der Kunst.

Was tun? fragte er sich und entschied, die Türe zu seiner Linken zu passieren. Langsamen, ja beinahe vorsichtigen Schrittes watete er durch den dahinter liegenden, weißschwangeren Gang; dem Auge entfunkelte die ratlose Verwunderung, bestiegen von einer schleichenden, gefühlten Blöße, denn auch hierin hing keines der so hoch gelobten Bilder des Künstlers, es hing überhaupt nichts an den Wänden – der Gang, so war es festzustellen, einsamte vor sich hin; nur am Ende desselben, vor einer Wand, die den Gang zur Sackgasse formte, tauchte ein schlichter Stuhl auf, auf welchem ein Manne saß, seinerseits in der Kluft eines Hausmeisters oder Reinigers gekleidet. Sein Blick hing am Boden, der Kopf war entsprechend geneigt, die Körperhaltung wirkte dösig. Der Herr wollte den Mann ansprechen, öffnete bereits den Mund zum Worte, entschloss sich dann aber wieder dazu, den Mann auf dem Stuhl nicht anzureden. Er war ihm etwas suspekt, zudem wollte er nicht unhöflich sein. Er konnte also nur umkehren, was er folglich tat.

Im zweiten Gange, der Saal stand unverändert, offenbarte sich dem Herrn das gleiche Bild der Bilderlosigkeit: weiße Wände, an deren Ende eine Wand lauerte wie ein leeres formloses Grinsen der Enttäuschung. Davor ein Stuhl, gleich wie im erst durchlaufenen Gange, auf ihm ein Manne in Kleidern eines Hausmeisters oder Reinigers. Diesmal erschrak der Herr, wenn auch innerlich. Der Mann auf dem Stuhl war derselbe, welcher gerade noch im ersten Gange saß und zu schlafen oder zu dösen schien. Nur dieses Mal schaute er auf. Sein Gesicht war alt und aufgedunsen. Die Haut wie ein Gebirge; rissig, porig, farbenreich gesprenkelt. Die Nase knollig, die Lippen spröd, die Ohren lang. Purpurne Äderchen zogen ihre Bahnen durch das müde Augenweiß, darin tiefschwarze Pupillen in eine bernsteinerne Regenbogenhaut eingebettet waren. Er nickte und zwinkerte dem Herrn dabei zu. Dieser fühlte nun in sich die Schwelle zur offenen Frage überschritten – die von leiser Furcht genährte Vorsicht wie die stumme Höflichkeit von der Neugierde und vom Ent-Blößen-Wollen überbrückt. Jedoch brachte allein das Nicken, das Zwinkern des Herren Brücke zum Einsturz, kaum dass sie errichtet worden war. Eilig nickte er nach, zwang sich ein unechtes Lächeln ab und prüfte mit fast animalisch-instinktiver Aufmerksamkeit die Reaktion des anderen. Dieser allerdings senkte sein Haupt in stiller Anwesenheit und begab sich in die Stellung, in der er ihn bereits im vorherigen Gange vorgefunden hatte. Der Rest seiner zerfallenen Brücke des Mutes wurde nunmehr von den Fluten der Unsicherheit restlos fortgerissen. Nein, zum Fragen würde er sich dem Alten gegenüber nicht durchringen können; so beschloss er, zurückzukehren. Da er davon ausging, dass der dritte Gang auch der letzte in diesem seltsamen Gebäude sei, vermutete er folgerecht die Galerie in diesem – wo auch sonst?

Entsprechend stärker brodelte es in ihm mit blubbernder Beunruhigung, als er das Gleiche konstatierte wie in den anderen beiden Gängen: Leere. Weiße Leere. Keine Bilder, keine Menschen, kein Irgendetwas! Unfassbar! So etwas hatte er noch nicht erlebt! Am Ende des Ganges wieder: nur ein Stuhl, darauf ein Mann. Auch dieser: derselbige wie zuvor. Dieses Mal jedoch brach der größte Sturm der Verunsicherung keine Schwelle, keine Brücke zum Munde. Mit sich gebender Gelassenheit, aber mit den brodelnden Sturm reflektierender Intonation, brach aus dem Herrn die lang in sich getragene Frage hervor: „Entschuldigen Sie, mein Herr? Wo bitte befindet sich die Galerie?“

 

 

„Und?“, fragte einst der Freund in jenem Gespräch, „Jemals am Gestade des neuen Landes gestanden? Den Anker geworfen?“ Der Herr antwortete damals: „Ich bin kein Künstler!“ „Ach was! Jeder ist ein Künstler! Jeder!“ „Ich nicht!“ „Bitte, lieber Freund. Glaube mir doch, auch du bist einer.“ „Das musst du mir erklären…“

 

 

Der Alte: „Sie sind in der Galerie.“ Der Herr: „Niemals! Ich muss doch wirklich sehr protestieren! Hier ist nichts! Außer diesem irreleitenden Schild und diesen Sackgassen! Und überhaupt? Wie schaffen Sie es denn nur, immer vor mir auf diesen Stühlen zu sitzen?  Ich sehe Sie nie an mir vorbeigehen, obgleich ich stets vor Ihnen die Gänge wieder verlassen habe.“ Der Alte: „Nun, das kann ich Ihnen erklären. Diese Sackgassen, von denen Sie reden, sind keine Sackgassen. Die Gänge sind alle miteinander verbunden durch andere Gänge und wie es naturgemäß der Fall ist, werden Gänge durch Türen miteinander verknüpft.“ Der Herr: „Doch habe ich keine Tür gesehen.“ Der Alte: „Womöglich haben Sie sie einfach deshalb nicht gesehen, weil diese schließlich genauso weiß sind wie die Wände und Decken und Böden der Gänge, da kann jemand schon einmal die ein oder andere Tür nicht finden.“ Der Herr: „Und sind denn in diesen Gängen von den Gängen die Bilder?“ Der Alte: „Was für Bilder?“ Der Herr: „Na, Sie haben doch gerade bestätigt, dass wir uns hier in der Galerie befinden.“ Der Alte nickte: „Das ist richtig. In der Galerie. Es läuft die Ausstellung von Mahler.“ Der Herr (wütender): „Hier?“ Der Alte nickte. Der Herr: „Sie lügen! Wer sind Sie überhaupt?“ Der Alte (ruhig): „Warum sollte ich Sie anlügen? Dafür gibt es keinen Grund. Ich mache hier nur meinen Job. Aber entschuldigen Sie bitte, dass ich mich Ihnen gegenüber noch nicht vorgestellt habe: ich bin der Herr Galerist.“ Der Herr: „Sie sind der Herr Galerist? Oh, dann muss ich mich für mein Benehmen entschuldigen. Ich habe Ihnen anhand Ihrer Kleidung – verzeihen Sie mir bitte diese Untat – die Stellung eines Hausmeisters bedacht.“ Der Galerist lachte kurz auf und sprach: „Das tut mir sehr leid. Ich habe mir seit geraumer Zeit abgewöhnt, aufwendige Kleider zu tragen, wenn ich ausstelle. Ich bin dafür berühmt! Ich tu es, weil es in dieser Stadt auch keinerlei Notwendigkeit darstellt, weil ich es auch nicht unbedingt möchte und um des vorgenannten Ruhmes Willen.“ Der Herr: „Aha. Herr Galerist. Ich bin ein Besucher dieser Galerie. Ich möchte die Ausstellung des Künstlers Mahler besuchen, doch bin ich irritiert, da ich an den Wänden nicht mal den Ansatz eines Gemäldes sehe.“ Der Galerist: „Wieso auch?“ Der Herr: „Hängen denn in einer Galerie keine Bilder?“ Der Galerist: „Wenn keine Ausstellung ist, kann es durchaus vorkommen, dass keine Bilder in der Galerie hängen.“ Der Herr: „Ach! Dann bin ich wohl zu spät.“ Der Galerist: „Für was?“ Der Herr: „Für die Ausstellung.“ Der Galerist: „Für welche?“ Der Herr: „Von Mahler.“ Der Galerist: „Aber die ist doch heute Abend.“ Der Herr: „Hier?“ Der Galerist (rollte mit den Augen): „Ja, mein Herr, wie ich es bereits gerade eben schon einmal beantwortet habe.“ Der Herr (aus dem Ärger war nun Verwunderung geworden): „Das verstehe ich nicht. Lassen Sie mich kurz zusammenfassen: In diesen Räumlichkeiten befindet sich Ihre Galerie.“ Der Galerist: „Exakt.“ Der Herr: „Und Sie sind der Herr Galerist.“ Der Galerist: „Höchstpersönlich!“ Der Herr: „Und Sie stellen aus: R. Mahler – Genealogie eines Epigonen des Expressionismus?“ Der Galerist: „Exakt.“ Der Herr: „Und zwar: hier und heute, auf die Sekunde.“ Der Galerist nickte: „Und noch länger.“ Der Herr wusste, dass ein länger mehr als eindeutig war und fragte: „Länger?“ Der Galerist nickte erneut: „Länger.“ Der Herr: „Mit länger meinen Sie…“ Der Galerist: „Nicht nur heute, auch noch die ganze Woche.“ Der Herr: „Gut. Gut, gut, gut, gut. Und beantworten Sie mir noch eine Frage.“ Der Galerist: „Gerne.“ Der Herr: „Wenn in einer Galerie eine Ausstellung läuft, und zwar in einer Gemäldegalerie, dann befinden sich doch in aller  Regel Gemälde, und mit hoher, ja, höchster Wahrscheinlichkeit, an den Wänden, oder nicht?“ Der Galerist: „Klar.“ Der Herr: „Aber hier nicht.“ Der Galerist: „Nein. Hier nicht.“ Der Herr: „Warum?“ Der Galerist: „Weil Mahler das so entschieden hat. Er ist der Ansicht, dass seine Gemälde keine Kunst mehr seien, wenn er diese ausstelle.“ Der Herr (nun doch entsetzt): „Dann ist das alles hier eine Farce?“ Der Galerist (kopfschüttelnd): „Ganz und gar nicht.“ Der Herr: „Natürlich ist es das! Sie laden die Leute hierher ein, um sich die Gemälde anzuschauen und was sie vorfinden, ist ein Nichts von einer Ausstellung. Und ich habe mich schon über die Personen vorhin gewundert, die ich am Eingang traf. Ihr Eindruck ist offenbar auch meiner! Ich bin dermaßen beleidigt, dass ich gehen möchte! Sie sagen nichts? Was soll das? Sie zerstören doch Ihr Image mit dieser Farce!“ Der Galerist: „Keine Farce, werter Herr Besucher. Ein Signal.“ Der erzürnte Herr: „Signal? Was wollen Sie damit sagen?“ Der Galerist: „Ich? Ich will gar nichts damit sagen. Herr Mahler stellt aus, nicht ich, ich bin nur der Galerist, weiter nichts.“

 

 

„Wenn du sagst, wir alle seien Künstler, dann schließt du dich mit ein!“, behauptete der Herr damals und fragte seinen Freund: „Bist du ein Künstler?“ Der Freund: „Ich möchte nicht mit einer Gegenfrage antworten, also lass mich im Sprechen denken: Ich glaube, wir müssen klären, was ein Künstler ist. Jemand der Kunst schaffend ist, also ein schöpferischer Mensch.“ Der Herr: „Aber jemand, der ein Haus baut, schafft doch auch etwas. Oder was ist mit den Maschinenbauern?“ Der Freund: „Guter Einwand. Den können wir aber schnell abschmettern: steckt hinter dem Haus- oder dem Maschinenbau ein Herz?“ Der Herr: „Solange ein Mensch dahinter steht, steht auch ein Herz dahinter!“ Der Freund: „Ja, wenn du das so siehst, steckt aber auch eine Leber dahinter, eine Niere oder auch ein Gehirn. Lass uns das Herz als Symbol der Liebe bezeichnen. Bauen die Menschen ihre Häuser oder Maschinen aus Liebe?“ Der Herr: „Der Architekt liebt das Bauen von Häusern.“ Der Freund: „Den würde ich auch als Künstler bezeichnen. Es kann auch der Maschinenbauer sein: ein Künstler. Aber die Liebe – muss sie nicht rein sein? Baut er unbefleckt oder weil er einen Auftrag hat, der ihn von außen bestimmt?“ Der Herr: „Du meinst, Kunst ist etwas Innerliches?“ Der Freund: „Wird ein Künstler beauftragt, etwas zu schaffen, das aufgrund einer gewissen, allgemein anerkannten Ästhetik Kunst genannt werden könnte, so ist es trotz der Liebe des Auftragnehmers zu diesem Etwas keine Kunst, wenn es von außen bestimmt wird. Hat er aber die Möglichkeit kreativer Entfaltung, dann entfesselt er die Liebe dazu und es ist unbestreitbar: Kunst, selbst wenn es für andere hässlich ist. Das wiederum beweist, dass Kunst nichts Absolutes ist, was meint, dass jeder etwas für Kunst halten muss.“ Der Herr: „Aber dann tun sich wieder zwei Fragen in mir auf: ist dann nicht alles, was aus Liebe gemacht ist, Kunst? und wenn es nur für den Kunst ist, der es aus Liebe gemacht hat, wie kann es dann sein, dass die Allgemeinheit es dann als Kunst akzeptiert?“ Der Freund: „Nun, bisher haben wir immer über Etwas gesprochen, das Erschaffene. Dieses Etwas gilt es, genauer unter die Lupe zu nehmen. Doch lass mich deine zweite Frage vorwegnehmen: vermutlich wirst du nie alle Menschen zu diesem Etwas hin sagen hören: es ist Kunst! Und also ist die Akzeptanz der Kunst durch die Allgemeinheit unmöglich, oder wir nennen sie eine Allgemeinheit, welche ihrerseits eine Teilmenge darstellt, die die Kunst akzeptiert – wie sie es auch immer tut, das ist ja unerheblich. Obzwar es schon schön wäre, wenn jemand aus dieser Teilmenge es deswegen Kunst nennt, weil er selbst – und da haben wir wieder unsere Innerlichkeit – es so nennt und nicht deswegen, weil es so genannte Meinungsgeber wie Medien oder Experten und der Gleichen ihm dieses Etwas als Kunst von außen zu-bestimmen oder hinein-bestimmen.“ Der Herr: „Das verstehe ich. Und die erste Frage?“ Der Freund: „Nun, nun. Du bist aber stürmisch. Aber ja, die Mutter, die ihren Kindern mit Liebe die Brote für den nächsten Tag schmiert, erschafft kleine Kunstwerke. Auch, und da sind wir bei dem Etwas, das als Kunst nicht etwa nur ein Werk ist, sondern auch ein Ereignis, wie ein Theaterstück oder schlicht die sexuelle Vereinigung zwischen zwei Menschen, all das ist in gewisser Hinsicht aus Leidenschaft, aus Liebe, aus naiver Lust daran: Kunst.“ Der Herr: „Du meinst, Sex ist Kunst?“ Der Freund: „Warum sollte es das nicht sein? Solange die Kunstwerke oder Kunstereignisse aus diesem inneren Drang der Liebe und Leidenschaft heraus geboren sind, ist es Kunst. Es sagt ja nur, dass Kunst nicht immer als Kunst, oder von anderen betrachtet werden muss – genau hierin liegt ja die Magie! Und dieses innere Nach-außen-Dringen, also Nach-außen-Wollen macht den Künstler schon zu einem Künstler, bevor dieser es überhaupt geschaffen hat! Die Vollendung des Hinaus-Wollens der Liebe befreit ihn von diesen ganz natürlichen Impulsen. Also könnte ich behaupten, dass alle Menschen, wenn sie denn diese Magie in sich tragen, entweder befreite Künstler oder unbefreite Künstler sind.“ Der Freund: „Womit wir wieder beim Anfang wären. Ich glaube, dass ist eine ziemlich versöhnliche These mit den Menschen. Du sagst, Kunst ist schon vor ihrer Erkenntnis. Das sei das Magische.“ Der Freund: „Erkenntnis meint immer die Suche nach Wahrheit. Ich glaube, dass die Wahrheit aber keine Notwendigkeit für die Kunst darstellt. Es sei denn, dass Liebe die Wahrheit ist, dann ist Kunst selbst wahr, bevor sie als wahr erkannt werden kann.“ Der Herr: „Aber ich meine, wenn sie als – gleich, ob es sich um einen konkreten Fall handelte, oder aber um den Kunstbegriff als Idee – Kunst schon vor dem Erkanntwerden sei, dann hieße das ja, dass sie unabhängig vom Geist sei?“ Der Freund: „Oh, das ist wirklich eine sehr schlaue Frage. Womöglich wird ohne den Geist, der den Begriff Kunst hierfür entwarf, kein Begriff für das dennoch Seiende der Kunst sein. Aber deswegen heißt es noch lange nicht, dass die Magie, von der wir sprechen, nicht ist, oder?“ Der Herr: „Kant sprach: Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ Der Freund: „Glaube mir, die Magie schert sich wenig um Anschauungen! Die Ontologie der Kunst ist ein schwieriges Gebiet.“ Der Herr: „Einen Einwand habe ich noch: als beispielsweise zuzeiten der Renaissance die vielen Künstler aufgefordert wurden, die Innenkuppeln der vielen Kirchenhäuser zu bemalen, ist doch auch ein Auftrag von außen gekommen, der dass Innere herausholte.“ Der Freund: „Das ist doch großartig für den Künstler: der Drang, der ja da ist, wird von außen in Bahnen gelenkt. Das ist meiner Meinung nach nicht etwa ein Widerspruch zur Leidenschaft, sondern eine hinreichende Unterstützung!“ Der Herr: „Und wenn es das nicht wäre?“ Der Freund: „Dann wäre es für den gezwungenen Künstler keine Befreiung, nicht einmal Kunst.“ Der Herr: „Aber doch gewiss für die Menschen, die die Kuppel bestaunen.“ Der Freund: „Nein. Denn wie wir vorhin bereits geklärt haben, ist das, was für den Einen Kunst ist für den Anderen noch lange keine. Es wird bestimmt auch Leute geben, die sich deine Innenkuppel ansehen und die Bilder als hässlich und damit als Unkunst schimpfen.“ Der Herr: „Bist du ein Künstler?“ Der Freund: „So wie du einer bist.“

 

 

Der Herr: „Welches Signal will Mahler damit setzen?“ Der Galerist: „Was denken Sie?“ Der Herr: „Ich hatte einst eine Diskussion mit einem guten Freunde. Ich glaube, ich kann eine Beziehung herstellen zu dessen Theorie und dieser ungewöhnlichen Erfahrung hier. Möglicherweise möchte Herr Mahler damit sagen, dass er ein Künstler ist, auch wenn er seine Werke nicht für eine Allgemeinheit zugänglich macht.“ Der Galerist: „Die Frage ist: Was bedeutet diese Zugänglichkeit bzw. Zugänglichmachung der Kunst?“ Der Herr: „Eine Zurschaustellung in diesem konkreten Fall, eine Ausstellung.“ Der Galerist: „Mahler ist der Ansicht, wenn er seine Bilder ausstellt, geraten sie in einen marktäquivalenten Kontext. Die Galerie ist die Schwelle zur Kommerzialisierung der Kunst.“ Der Herr: „Worin liegt aber das Problem einer Kommerzialisierung?“ Der Galerist: „Das Kunst aufhört zu existieren, besser gesagt: sie verwandelt sich. Die Bewunderer wollen oftmals nicht nur bewundern, die Kunst sein lassen, sondern haben wollen. Das Haben-Wollen ist eine Handlung zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse und Bedürfnisse werden befriedigt durch Waren.“ Der Herr: „Sie meinen also, dass Mahler nicht ausstellt, um seine Kunstwerke zur bloßen Ware zu degradieren?“ Der Galerist: „Offenbar.“ Der Herr: „Aber, angenommen, seine Theorie wäre ernst zu nehmen, wenn er sie ausstellt und nicht verkauft, dann bleiben seine Werke trotzdem Kunstwerke und werden nicht zu Waren.“ Der Galerist: „Aber verzeihen Sie, mein Herr, wenn Sie eine Ware im Kaufhaus betrachten und sie nicht kaufen können, sei es aus irgendwelchen Gründen wie der Nicht-Verkäuflichkeit, des Mangels am nötigen Kleingeld undsofort, so ist ihm doch schon ein Bedürfnis danach immanent. Die Ware ist somit vielleicht eine Vor-Ware, da sie noch nicht Bestandteil eines Leistungstransfers ist, doch ist sie bereits da, so wie sie es in der Galerie wäre, oder würden Sie behaupten, dass eine liegen gebliebene Ware, die nicht gekauft wurde, eine Nicht-Ware sei, nur weil niemand sie gekauft hat?“ Der Herr: „Ich kann mich dieser Meinung nicht ganz anschließen, Herr Galerist. Ich glaube, dass der Fokus zu sehr auf den Künstler gerichtet wird.“ Der Galerist: „Ja, naturgemäß, denn er ist ja auch die Ursache des Kunstwerks. Es wäre nicht ohne ihn.“ Der Herr: „Schon, aber das Kunstwerk ist nicht nur notwendig Folge des Künstlers, es ist es gleichermaßen durch die Ursache des Rezipienten!“ Der Galerist: „Es kann doch nicht zwei Ursachen für eine Wirkung geben!“ Der Herr: „Das ist eine Frage der Beziehung. Das Kunstwerk steht nicht für es selbst. Kunst ist im Vollzug! Die Kommerzialisierung der Kunst mag eine Stufe sein, Kunst im Haben-Wollen zu bewegen. Aber das ist eine Unterstufe des Eigentlichen der Kunst!“ Der Galerist (mit blitzenden Augen): „Soso. Und was ist das Eigentliche der Kunst?“ Der Herr: „Wie ich bereits sagte: das Vollziehen der Kunst per se; das Anschauen des Bildes, das Lesen des Gedichtes, das Hören der Musik und all diese Tätigkeiten, dieses Er-Sinnen, also Wahrnehmen, geschieht über den einen eigentlichen Antrieb: das Verstehen-Wollen. Kunst als Möglichkeit einer kommerziellen Ware zu betrachten und es deswegen dem Rezipienten zu verweigern, ist ein Nicht-Verstehen der Kunst in der Begegnung mit ihr als eigentliches Zu-Verstehen. Es ist eine arrogante, bornierte und empörende Frechheit und Unverschämtheit! Denn der Künstler bedingt sich eben nicht ausschließlich aus der Schaffung seiner Kunst, sondern durch die Betrachtung derselbigen durch die Betrachter, die hier meint: das Verstehen im Vollziehen, das dem Haben-Wollen vorausgeht, welches meines Erachtens aber auch etwas sehr, sehr Positives darstellt, denn es macht das Kunstwerk eben nicht nur zu einer bloßen Ware, die irgendwelche Bedürfnisse befriedigt, denn in unserem Falle schickt sich Mahler nicht an, diesen gerecht zu werden, sondern zu einer Brücke, die es erlaubt, Begegnungen zwischen Künstler und Betrachter zu entwickeln, die sich sogar in einem geschichtslosen Treffen äußern kann, wenn der Künstler bereits Tod wäre! Was ich damit sagen will, ist, dass Mahlers Kunst immer schon Kunst war und es immer dann ist bzw. sein wird, wenn diese Kunst dem Betrachter zugänglich ist bzw. gemacht wird, damit es überhaupt durch den Vollzug des Verstehens als Kunst existieren – oder wie Sie es vorhin ausgedrückt haben: sein kann. Wenn die Werke in einem zweiten Schritt verkauft, also am Markt gehandelt werden, dann sind sie es, weil es Kunstwerke sind und nicht Waren. Und ich möchte noch einmal auf den Satz zurückkommen: denn in diesem Fall schickt Mahler sich nicht an, diesen (Bedürfnissen) gerecht zu werden – ich meine, er produziert niemals nach Wünschen oder Bedürfnissen, er schafft für sich aus sich – nicht mehr und nicht weniger. Schon allein deswegen ist sein Werk ein Kunstwerk und nicht etwa eine Ware. Umgekehrt wäre es, wenn er am Markt beispielsweise als Arbeiter oder Dienstleister beauftragt werden würde, etwas zu malen, also dienstzuleisten. Hierin hätte er je nach Vertrag zwar einen gewissen Grad an Freiheit in der Gestaltung, aber er könnte eben nicht das produzieren, was von innen käme, sondern, dass, was von ihm verlangt würde, von außen bestimmt würde. Würde er dem entgegenwirken, indem er die ganze Freiheit als Künstler beanspruchte, dann wären die Folgen, dass er seine am Markt hergestellten Produkte oder Erzeugnisse oder erbrachten Dienstleistungen nicht in Form von Waren verkaufen könnte, da sie den Bedürfnissen nicht entsprächen. Hier agiert er nicht als Künstler und doch agiert er als Künstler – das Verhältnis hat sich jedoch gekehrt: die erste Stufe ist die Leistung, die Warenproduktion und das, was hineinfließt mag seinem Ruf und Können als Künstler zwar Folge leisten, ist aber keine reine Kunst mehr, auch wenn diese Arbeit seinem Wesen als Künstler sehr entgegenkommt. Sie sehen also, Herr Galerist, dass die leere Galerie nicht etwa ein Signal ist, sondern eine Farce! Eine Posse! Eine Travestie!“ Der Galerist (ernst blickend): „Werter Herr, ich muss zugeben, dass ich diese Zweistufigkeit der Kunst nicht bedacht habe. Vielleicht sollte ich Ihnen das Geheimnis anvertrauen, dass ich Mahler bin.“ Der Herr: „Wieso haben Sie sich aus der Galerist ausgegeben?“ Mahler: „Weil ich tatsächlich auch der Galerist bin. Früher habe ich stets meine Werke ausgestellt. Wie Sie wissen, bin ich ein Epigone des Expressionismus, aber mein größtes Vorbild ist der Visionär und Vordenker El Greco. Jahrelang ließ ich meine Bilder ausstellen und auch verkaufen und darf mich zu den anerkanntesten, noch lebenden Künstlern unserer Zeit zählen. Aber mit der Zeit geriet ich in eine Krise. Ich stellte mir die Frage, ob der Verkauf meiner Werke, also deren Handel am Markt eine Zerstörung dieser sei und wagte dieses Experiment einer leeren Galerie. Wie Sie sehen ist außer uns niemand hier. Niemand konnte oder wollte dieses Zeichen verstehen.“ Der Herr: „Wie auch? Die Magie der Kunst muss durch ihre Betrachtung wieder belebt werden. Kunst muss er-lebt werden. Ihre Werke sind in dieser Welt, wenn sie durch die Menschen sein können – unabhängig, ob etwas Banales wie Geld sie bewegt. Also beginnen Sie mit der Widerverzauberung der Welt. Stellen Sie aus! Machen Sie die Menschen glücklich. Sie wollen Ihre Werke er-leben, erfahren, verstehen. Die Menschen suchen nach der Wahrheit, nach der Moral und nach der Schönheit. Kunstwerke sind Kristalle im Gebirge der Zeit. Ihr Funkeln ist zeitlos. Sie funkeln immer anders, sowie sie immer anders verstanden werden. Das Geld und die Kommerzialisierung spielen eine so untergeordnete Rolle dabei!“ Mahler (nickend): „Sie scheinen recht zu haben. Womöglich fasse ich Ihre Aussage als eine apodiktische auf.“ Der Herr (Kopf schüttelnd): „Nein. Ich wollte keinen unumstößlichen Beweis vorbringen, sondern auch wieder nur: verstehen.“ Mahler lachte leise, in seinen Augen leuchtete die Hoffnung eines einst Verbitterten. Der Herr erfreute sich sehr diesem Anblick. Dann sprach er: „Nun. Ich werde jetzt wieder gehen. Vielleicht habe ich das Glück, an einem anderen Tag dieser Woche eine Ausstellung des Herrn Mahler zu besuchen. Ich würde mich sehr freuen.“ Mahler nickte und gab dem Herrn die Hand zum Abschiede.

 

 

Im prasselnden Grau entnebelte sich sein Geist und ein Licht, das lachte in obszöner Erhabenheit, fiel ins Glas der Erkenntnis, aus dem damals ein Tropfen des feurigen Bacchus an der Außenwand, dem Stiel und dem Boden hinabperlte, bevor berauschte Lippen ihn zum Anlass eines Widerstands nahmen. „So wie ich einer bin?“, resistierte er süffisant, wollte kichern und hielt sich dann aber zurück, sprach nur weiter: „In deinen Orpheusaugen, lieber Freund, brennt einer Weisheit letzter Schluss, so glaubst du, aber lass mich widersprechen! Mit einem zynischen Vulgarismus kontere ich, mit einem Haufen Kot!“ Sein langjähriger Freund lachte leise und mit abgeneigtem Blicke, so als wollte er dies als Scherz verstehen und adäquat ausdrücken, fühlte sich jedoch gleichzeitig kompromittiert und nicht ernst genommen. Der Herr sprach fort: „Deine Liebe ist das Element der Kunst. Ich wage es zu bezweifeln. Denn Liebe ist natürlich! Ist sie es etwa nicht? Die Liebe ist Natur! Kunst aber ist die Mimese der Natur! Imitatio! Die Liebe ist Vollkommenheit, die Kunst immer nur der Versuch jener Vollkommenheit. Die Kunst ist das vom Geist geschaffene Künstliche, das Artifizielle. Die Liebe ist des Leibes, des natürlichen Antriebs. Genauso, und ich komme, so verzeih mir, zu meiner ordinären Metapher: der Kot. Kann der Kot Kunst sein? Ein Haufen Exkremente? Warum nicht? Wenn ein Künstler sich damit befreit? Aber dann muss diese Befreiung schon eine gewisse Intention haben, die unabhängig ist vom naturgemäßen, ich sage bewusst: Kacken-Müssen, d.h. hier haben wir den besonderen Fall der natürlichen Notwendigkeit, welcher also eine zweite künstlerische Notwendigkeit benötigt. Ich glaube schon, dass man Kot als intentionale Kunst materialisieren kann, z.B. um seine innere Gefühlswelt auszudrücken, oder aber gesellschaftskritischen Zynismus zu treiben. Du siehst, die geistige Auseinandersetzung erhebt das Banal-Natürliche ins intellektuelle Schon-Möglich in Bezug auf das Künstlerische. Der einzige Widerspruch, der demnach deinerseits entgegengehalten werden könnte, scheint mir die Frage nach der Künstlichkeit, die sich aus der Kunst ableitet. Kunst ist künstlerisch, aber ist sie auch künstlich? Ließe sich dann nicht auch die These aufstellen: der natürliche Kot sei unkünstlerisch, aber der künstliche Kot sei künstlerisch? Du siehst, ich will darauf hinaus, dass Kunst notwendig aus der von der Natur abgegrenzten Geisteskraft hervorgebracht wird, sonst wäre Kunst Natur und  nicht Kunst. Besonders eindrucksvoll habe ich diese Theorie in der Schillerschen Philosophie nachlesen können. Freilich sprach er niemals vom Kot, aber er schrieb: Über naive und sentimentalische Dichtung. Ihm gingen hier zwar nur die Gedanken über die Dichtungskunst von der Feder ab, aber ich wage zu behaupten, dass sich seine Theorie auf das Wesen der Kunst ausweiten lässt. Da wir die Naivität des arkadischen Menschen durch unser Kulturdasein verloren haben, müssen wir als sentimentalische Künstler überhaupt erst wieder die Renaturalisierung des Geistes, die Einheit von Geist und Natur im Nach-Vorne erreichen. Erst in der Ent-Entfremdung des Menschen obliegt ihm die Bedingung möglicher Liebeskunst, die ich als reine Kunst, als absolute Kunst verstehen würde: als die vollkommene! Solange wir Modernen, wir Sentimentalischen zwischen Idealismus und Realismus oszillieren, zwischen Geist und Materie schwanken, ist deine Vorstellung von der Kunst der Liebe, der Kunst aus Liebe unmöglich und wir verharren in einer sinnlosen, unvollkommenen, selbstherrlichen Natur-Kunst-Dialektik, die ohne jede Synthese die von Nietzsche evozierte ewige Wiederkehr des Gleichen verständlich macht: die menschliche Donquichotterie, die Lächerlichkeit des Daseins, die Ubiquität des Absurden.“

 

 

Als der Herr kurz vor seiner Haustür stand und den Schlüssel hervorzog, hatte sich der abendliche Regen beruhigt, doch schwammen die menschenleeren Straßen. Der Mensch macht die Kunst, sinnierte er, und die Kunst macht den Menschen. Was sind wir, wenn Geist und Natur eins werden? Gibt es die Kunst dann überhaupt noch? Ist es nicht besser, sie – so, wie sie ist – hinzunehmen und zu genießen? Drei Tage später, am letzten Tag der Ausstellung, besuchte er die Galerie erneut. Er hatte Mühe, hineinzukommen, denn es waren sehr, sehr viele Menschen da…

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.11.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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