Christiane Mielck-Retzdorff

Die Frau in Weiß

 

 

Die Frau in Weiß

 

Er erwachte früh an diesem schwülen Morgen eines heißen Sommers und schob mißmutig die schweißnasse Bettdecke von sich. Warum hatte er nicht nur ein Laken zum Zudecken genommen? Zeit seines Lebens schlief er unter Bettdecken, auch wenn er im südlichen Ausland durchaus, aber mit leichtem Befremden, Betten nur mit Laken vorgestellt bekommen hatte.

Er schlurfte zum Fenster, um es weit zu öffnen, wohl wissend, daß kein Windhauch die trägen, Feuchtigkeit geschwängerten Luftmassen bewegen würde. Gegenüber türmten sich graue Hochhausblöcke im milchigen Morgendunst. Sie glichen bunkerähnlichen Gefängnissen, in denen Hunderte von Seelen schalldicht gefangen waren. Die Tauben, die vorüber flogen, wurden vor den gleichfarbigen Fassaden zu Gespenstern.

Unten auf der Straße bemerkte er eine Frau, die wie ein greller Schein das Pflaster sprengte. Sie trug ein blütenweißes Kleid, bestieg ein Fahrrad und ihre schwarzen Haare verflochten sich mit dem Asphalt, als sie leicht im Fahrtwind wehten. Wie eine Sternschnuppe flüchtete sie aus seinem Blickfeld, ein Hoffnungsschimmer, der sogleich in der Tristesse verglühte.

Er folgte seinem morgendlichen Ritual, kochte Kaffee und schaltete das Radio an, um im Hintergrund die Nachrichten aus der Welt verschallen zu lassen, die ihn längst aufgegeben hatte. Noch waren es zu dieser frühen Stunde die einzige Geräusche, doch bald würde aus den anderen offenen Fenstern ein Gewirr aus Lärm und Gepöbel zu ihm dringen, das den ganzen Rest des Tages wie eine stinkende Wolke über dem Viertel liegen würde.

Er duschte und rasierte sich, legte Eau den Toilette auf und kleidete sich sorgfältig, bevor er das Haus verließ, um sich bei dem schmuddeligen Bäcker um die Ecke pappige Brötchen und die Zeitung zu holen. Es gab dort nur die eine Zeitung, die alle lasen und deren Inhalt sich auf Unwichtigkeiten und Vorurteile beschränkte. Doch diese Art von bedrucktem Papier gehörte zu seinem Frühstück genauso wie eine sorgfältig gefaltete Serviette.

Auch um diese Zeit gab es bei dem Bäcker eine Warteschlange, schon allein deshalb, weil dort alle Gerüchte aus diesem Ghetto von den Frauen verbreitet und ausgiebig diskutiert wurden. Die trugen sie dann zusammen mit den Backwaren heim zu ihren Männern, die sie beim nachmittäglichen Stammtisch verknetet mit Fußballtheorien und sozialistischen Allgemeinplätzen zu ihrem Weltbild formten.

Er hatte keine Frau und keinen Stammtisch und war daher nicht gezwungen, sich irgendeine Meinung zu bilden. Er empfand es auch als müßig, weil sich die Welt wie die Zeit ständig fortbewegte, daher jeder Standpunkt schwankte wie die Planken eines Schiffes auf hoher See.

Gerade als er endlich als nächster Kunde den Tresen erreicht hatte, sah er im Augenwinkel die weiße Gestalt auf ihrem Fahrrad vorbeihuschen. Als er sich umdrehte, um noch einen Blick auf sie zu erhaschen, wanden sich alle anderen auch zum Schaufenster, das nichts als den noch verwaisten Spielplatz zeigte.

 

Wie jeden Vormittag außer Sonntags machte er um Punkt 10 Uhr eine Rundfahrt mit der U-Bahn, die meistens gar nicht im Untergrund fuhr, sondern sich auch auf Brücken über die Stadt erhob und von dort nahezu intime Blicke in Gärten und auf Balkone freigab. An seinem Fensterplatz flog das Leben an ihm vorbei, Villen… Kleingärten… Industrielandschaften… Straßen… und immer wieder Bahnsteige.

Einige Fahrgäste waren ihm bereits vertraut, auch wenn er nie ein Erkennen zeigte. Sie setzten sich wie er immer in den selben Waggon und wenn möglich auf den selben Platz. Manchmal störten Klassenausflüge oder Reisegruppen die schweigende Gemeinschaft und zwang sie sogar auf andere U-Bahn-Wagen auszuweichen.

Heute war es nur still und heiß, und auch die vorbeiziehenden Bilder spiegelten die allgemeine Trägheit wider wie die Fata Morgana einer pulsierenden Großstadt. Nur die Bahn zeigte sich unbeeindruckt und zog fahrplanmäßig ihre Kreise.

Sie fuhren erneut in einen Tunnel. Licht ging an, und das Leben hinter den Scheiben erstarb in rußigem Dunkelgrau. Ein betagter Fahrgast erhob sich und half seiner Frau mit dem Gehwagen zum Ausgang. Der Zug hielt auf einem leeren Bahnsteig und die Alten mühten sich in fröhlicher Vertrautheit mit dem Vehikel hinaus. Dabei trafen sie auf die Frau im weißen Kleid, die ihnen behilflich war.

Nun konnte er sie genauer betrachten. Ihr Körper war klein, zart und strahlte dabei Kraft und Energie aus. Ein freundliches Lächeln lag auf ihren Lippen wie eingemeißelt und  verbarg, welche Gedanken hinter ihrer porzellanfarbenen Gesichtshaut spielten. Vermutlich war sie asiatischer Abstammung. Vielleicht eine Studentin. Der Zug fuhr los, während sie noch neben den alten Leuten herging und wirbelte ihr knöchellanges Kleid ein wenig hoch.

 

Er war nicht immer allein gewesen. Seine Frau war jung gestorben und hatte etwas von ihm mitgenommen. Er wußte nicht, ob es das alte Ehepaar oder die junge Frau gewesen waren, die seine Erinnerungen geweckt hatten. Nun pochten sie in ihm wie das Rattern der Bahn in der dunklen Röhre, als wollten sie ans Licht. Kein Bild im Fenster ließ ihn entrinnen. Die im Untergrund der Stadt gleitende Bahn trieb ihn in die Winkel seiner Gedanken, die er lange verschlossen hatte. Doch diesmal wehrte er sich nicht, sondern ließ sich mit ihnen treiben. Es war eine Reise durch Licht und Schatten mit kurz aufflackernden Segmenten, die sich nicht verbinden wollten. Aber diese Unordnung störte ich nicht, denn das Gewirr aus Puzzlesteinen würde sich irgendwann zusammenfügen.

Eine Stimme riß ihn aus seiner Versonnenheit und forderte ihn, wie auch die anderen Fahrgäste, auf, den Zug wegen eines technischen Defekts zu verlassen und auf dafür bereitgestellt Busse umzusteigen. Mechanisch folgte er der Anweisung und ergatterte wieder einen Fensterplatz. Nun fand er sich plötzlich mitten im Leben der sommerlichen Großstadt zwischen Autos, LKWs und bummelnden Fußgängern wieder. Nun zog er nicht mehr vorbei an dem Geschehen sondern wurde teilweise davon begleitet und sogar überholt. An einer Ampel hielt neben dem Bus ein Cabrio mit zwei jungen Männern. Wummernde Bässe sprangen heraus gleich einem akustischen Herzschrittmacher. Die jungen Männer pfiffen einer Frau hinterher, die in knappem Rock mit freiem Bauch und bebenden Brüsten hastig die Straße auf dem Zebrastreifen überquerte.

Er kannte seine Stadt und bemerkte, daß das Postamt nun ein Cafe war, an dessen beschirmten Tischen die Gäste gut gelaunt ihren Kaffee tranken. Die Fassaden einiger Stadtvillen protzten in neuem Glanz. Kleine Läden waren Supermärkten gewichen. Türkische Gemüsehändler, die ihre bunten Waren großzügig an der Straße präsentierten, erzeugten ein südländisches Flair neben Imbißbuden, die schon immer ihre Currywurst angeboten hatten. Der Stadtpark war trotz der Hitze mit spielenden Kindern und Hunden belebt und aus dem Freibad drang Kreischen und Lachen durch die geöffneten kleinen Oberfenster zu ihm in den Bus hinein.

Staunend wie ein Kind betrachtete er die Veränderungen in den vertrauten Straßen und erfreute sich am Wiedererkennen des Beständigen. Mal blieb Zeit für eine längere Betrachtung, für eine Berührung von damals und heute, doch vieles flog im Verkehrsfluss vorüber und hinterließ den Wunsch nach einem zweiten Blick.

Wie getrieben wechselte er an jeder Endstation in den nächsten Bus und sog gierig die Bilder der Stadt in sich auf, bis er an einer Station angekommen war, von wo aus der Bus weiter über die Stadtgrenze fahren würde. Dort stieg er aus und setzte sich auf eine Bank. Er fühlte sich erschöpft, aber glücklich erfüllt von tausend alten und neuen Eindrücken. Es war still um ihn herum. Der Tag neigte sich. Er hatte gar nicht gewußt, daß es Orte in dieser Stadt gab, die so still waren. Es gab noch so viel zu entdecken.        

 

       

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.11.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Trug und Wahrhaftigkeit: Eine Liebesgeschichte von Christiane Mielck-Retzdorff



Zum wiederholten Mal muss sich die Gymnasiastin Lisa-Marie in einer neuen Schule zurechtfinden. Dabei fällt sie allein durch ihre bescheidene Kleidung und Zurückhaltung auf. Schon bei der ersten Begegnung fühlt sie sich zu ihrem jungen, attraktiven Lehrer, Hendrik von Auental, der einem alten Adelsgeschlecht entstammt, hingezogen. Aber das geht nicht ihr allein so.
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