Dominic Memmel

Über die Schwierigkeit eine Brücke zu bauen, wenn man...

Es begab sich so, dass zwei Stämme an zwei Seiten einer
tiefen Schlucht gesiedelt hatten. Der Stamm im Osten hatte lange Jahre mit dem
fernen Osten Handel betrieben, der Stamm an der Westseite der Schlucht tat
selbiges mit den Völkern aus dem fernen Westen. Beide Stämme waren so zu einer
stattlichen Menge an Eisennägeln gekommen. Eines Tages jedoch war der Preis für
Eisennägel in beiden Fernen in eine astronomische Höhe geschossen, weshalb von
dort zu unseren Stämmen Handlungsreisende gesandt wurden, mit dem Auftrag,
deren Eisennägel gegen Pfeffer einzutauschen. Die Völker im fernen Osten und
fernen Westen waren windige Geschäftsleute und hatten vorsorglich in unseren
Dörfern das Gerücht gestreut, Pfeffer wäre geradezu gigantisch wichtiger als
solch profane Dinge wie zum Beispiel Eisennägel. Das Unterfangen klappte wie
gewünscht, und so sahen sich die Dorfobersten potzblitz in der aus ihrer Sicht
– eigentlich der Sicht der fernöst- und westlichen Agenten – idealen Position,
all ihre Eisennägel gegen den für ihre kulturelle und wirtschaftliche
Entwicklung so wichtigen Pfeffer einzutauschen. So kam es dann auch. (Ob es
sich dabei um weißen, roten, schwarzen, grünen oder bunten Pfeffer handelte,
ist leider nicht überliefert; es tat wohl nichts zur Sache.)
Die Monate vergingen, Krieg
überzog die Länder, und unsere beiden Dörfer fanden sich bald abgeschnitten von
der Welt.
Eines Tages gingen dem Dorf im
Osten die Ziegen aus, somit der Käse und die Milch. Im Dorf im Westen aber, da
vermehrten sich die Ziegen wie die Fliegen. Eines weiteren Tages gingen dem
Dorf im Westen die Zitronenbäume aus, sie erkrankten an der Fäulnis. Im Osten
aber wuchsen die Zitronen zu Melonengröße heran. Und eines weiteren Tages, da
wandte der Dorfoberste im Westen seinen Blick nach Osten und erblickte dort
melonengroße Zitronen, und der Oberste im Osten wandte seinen Blick nach Westen
und entdeckte Ziegen, wie er sie sein Leben nicht gesehen hatte. Und da die
Schlucht zwar weit und tief, jedoch nicht so weit und nicht so tief war, dass
man nicht hinüber rufen konnte, rief der Oberste des Ostens: „Oberster im
Westen, was hast Du doch für viele schöne Ziegen!“
Und der Oberste im Westen rief
zurück: „Ach, wenn ich sie doch nur gegen ein paar Deiner riesigen Zitronen
tauschen könnte!“
Und der Oberste im Osten ging
kurz in sich und rief, nachdem er aus sich zurückgekehrt war: „Oberster im
Westen, lass uns eine Brücke bauen und Handel treiben!“
„Ja, das werden wir!“
Gesagt, getan. Getan? Nun ja,
zumindest gaben die Obersten ihren Dörflern die Anweisung Holz zu schlagen und
zur Schlucht zu bringen. Sie schlugen so viel Holz, dass sich bald auf beiden
Seiten der Schlucht ein großer Haufen türmte. „Nun lass uns unser vieles Holz
zu einer Brücke zusammenbauen!“
„Ja, das werden wir!“ wiederholte
nun der Oberste im Osten, was zuvor der Oberste im Westen gerufen hatte. Doch
so sehr sie sich bemühten, bekamen die Dörfler das Holz nicht aneinander und
bei jedem Versuch stürzte ein wenig in die Schlucht, bis beide Berge Holz
verschwunden waren, wie auch eine Handvoll Arbeiter. Eine Brücke aber war aus
ihren Mühen nicht entstanden.
Beide Oberste zogen nun die
weisen alten Frauen zu Rat. Diese warfen Buchenstäbe um sich und darin lasen
sie: „Zuerst sollt ihr von neuem Holz schlagen, dann sollt ihr einen Bär finden
und ihm folgen, bis ihr auf ein Bienennest stoßt. Den Bienen sollt ihr dann den
Honig stehlen und zum Holze bringen. So könnt ihr das Holz mit dem Honig verleimen
und eine Brücke bauen.“ Der Widerhall der Worte ihrer alten Frauen klang
zwischen den Ohren der Dorfobersten vernünftig, und so wiesen sie ihr Volk zur
Tat.
Bald schon türmten sich auf
beiden Seiten der Schlucht von Neuem große Berge Holz, dazu jeweils ein Kübel
voller frischem Honig. Die wenigen Opfer, die der Bär gefordert hatte, schienen
mit der Wichtigkeit der Sache in Einklang zu stehen. Nichtsdestotrotz hatten
auch die beiden Bären ihr Leben lassen müssen, denn Blutzoll bleibt Blutzoll
und der Bär dem Menschen stets der Unterlegene. Es dauerte jedoch nicht lange,
da waren Holz und Honig in der Schlucht verschwunden, denn leider reichte die
Klebkraft des Honigs nicht aus, um die schweren Stämme aneinander zu halten,
und auch ein paar Arbeiter landeten mitsamt ihrem Gerät in der tiefen, dunklen
Schlucht.
Da trauten die Obersten den alten
Frauen nicht mehr über deren verschlungenen Pfade und Wege, denn ihr Plan war
viele Grade schief gegangen, schlugen ihnen zur Strafe die Köpfe ab und zogen
anstatt ihrer nun den Himmel zu Rate. Der Himmel sagte ihnen: „Schlagt von
neuem Holz und glaubt nur fest daran. Der Winter kommt und er wird mit dem
Frost, den er Euch bringt, das Holz mit harter Hand zusammenhalten.“ Dies klang
zwischen den Ohren der Dorfobersten noch viel vernünftiger, als der Rat der
alten Frauen, und so sandten sie eine recht stattliche Zahl an Männern aus, von
Neuem Holz zu schlagen.
Bald schon türmten sich auf
beiden Seiten der Schlucht von Neuem große Berge Holz, dass sie den Himmel
schier verdunkelten. Und obwohl der Frost im Wald zweimal so viele Leben
gekostet hatte, wie der Bär zuvor, schien ihnen der Preis hierfür gerecht. Es
dauerte jedoch nicht lange, da war auch dieses Holz samt einer vierfachen
Portion an Arbeitern in der Schlucht verschwunden. Der Frost hatte die
Holzstücke porös gemacht, so dass sie leicht entzweibrachen und der Halt
zwischen den Stücken, worin der Himmel nicht gelogen hatte, keinen Nutzen
brachte.
Es ging noch lange so –
ungezählte Stapel Holz - und auch wenn es den Obersten nicht möglich war, dem
Himmel den Kopf abzuschlagen, so segneten neben den Bären und den Arbeitern
auch Ochsen, Ameisen und bald die beiden Wälder selbst das Zeitliche. Am Ende
aber, als nur noch der Oberste im Osten und der Oberste im Westen, die
melonengroßen Zitronen und die ungezählten Ziegen übrig waren, da war die
Schlucht so voll von Holz, dass es ein Leichtes wurde, einfach über sie hinweg
zu wandern. Das taten beide dann und trafen sich in der Mitte.
„Es freut mich sehr,“ sagte der
Dorfoberste aus dem Westen, „dass wir unser Ziel für unser Volk nun endlich
erreicht haben,“ und überreichte seinem Gegenüber eine besonders schöne Ziege.
Vom Volk jedoch war nichts mehr übrig.
„Ebenso, mein Freund,“ entgegnete
der Oberste des Ostens, lächelnd, und vermachte seinem neuen Freund die
zweitgrößte Zitrone. Auch von seinem Volk war nichts mehr übrig. Ebenso vom
Wald und von den Ameisen und Bären und dem Honig und den Ochsen und der
ururalten Schlucht. Nichts gab es mehr, außer dem Himmel, Ziegen und Zitronen,
zwei Obersten und einer Unmenge an Pfeffer, den keiner mehr gebrauchen konnte.
Doch so ist’s nun mal im Leben, die Obersten haben nur Ziegen, Pfeffer und
Zitronen zwischen den Ohren, und dies und alles andere sollte uns weder
verwundern noch bekümmern.
Jedoch aus Ziegen, Pfeffer und
Zitronen – das lasst Euch eine Lehre sein, ihr dort unten in der Schlucht –
lässt sich ein feiner Braten machen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.11.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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