Christiane Mielck-Retzdorff

Das Gespenst

Das Gespenst

 

 

 

Die gepflegte, feuchte Rasenfläche, die im sinkenden Sonnenlicht matt schimmerte, erstreckte sich bis zur hohen, undurchdringlichen Rhododendronhecke. Sein Bild spiegelte sich in der Scheibe. Tobias sah gut aus. Professionelle Designer hatten diesen Mann von dem Scheitel bis zur Sohle erschaffen und mit ihm genau die perfekte Illusion, die die Frauen von ihm erwarteten. Doch was Tobias sah, blieb ihm fremd. Wie ein Außenstehender hatte er der langsamen Veränderung beigewohnt und doch nicht verhindern können, dass sie auch Besitz von seiner Seele ergriff.

 

Während er das Stillleben seines monströsen Gartens mit den bunten Tupfen der ersten gefallenen Herbstblätter betrachtete, harrte er gleichermaßen ungeduldig wie ängstlich einer Erscheinung, die ihn seit Jahren begleitete. Es war das Gespenst einer Frau, das ihn heimsuchte, erschien, wann es ihm beliebte und seltsam unsichtbar blieb. Eine Ausgeburt seines Gewissens, wie er gedacht hatte. Doch es konnte unmöglich die Frau sein, die er bestohlen hatte, denn diese war blind gewesen.

 

Es hatte ihn damals so sehr geplagt, dass er meinte, er könne eine Art Absolution erhalten, wenn er mehr über sie erfahren würde. Tobias fand ihren einzigen Nachkommen, einen Neffen, der sich wenig für sie interessiert hatte. Bestimmt hätte er den Pappkarton mit seinem wertvollen Inhalt unbedarft auf den Müll geworfen. Nein, im seinetwillen musste sich Tobias nicht grämen. Aber er erfuhr, dass die verstorbene Tante seit ihrer Geburt blind gewesen war. So konnte sie also niemals die wirkliche Eigentümerin dieses Kartons und seines Inhalts gewesen sein. Wer also war diese gespenstische Frau die durch seine Tage und Nächte geisterte?

 

Tobias konnte sich noch genau an die kargen Tage erinnern, als er in einem schäbigen Container hausen musste und für einen Hungerlohn einem Trödelhändler bei der Räumung irgendwelcher Wohnungen behilflich war. Bis dahin hatte er so ziemlich alles hingeschmissen, was das Leben ihm geboten hatte: seine Familie, die Schule, zwei Ausbildungen und etliche Beziehungen. Es war beinahe Glück gewesen, dass der Händler ihn bei seinem ersten Diebstahl erwischte und zu seinem Sklaven machte. Tobias fügte sich, aller Kraft durch Drogen und Alkohol beraubt, diesem streng geregelten Leben. Heute empfand er es als eine Art Rettung.

 

Es war eine schäbige, kleine Wohnung gewesen, die sie besenrein zu übergeben hatten. Der Händler war ausgesprochen schlechter Laune gewesen, ob der mageren Ausbeute bei den Hinterlassenschaften der Verstorbenen. Bevor Tobias mit der schweren Arbeit, die Möbel aus der dritten Etage nach untern zu tragen, beginnen konnte, hatte der Händler alle Schubladen und Schränke nach Wertsachen durchstöbert, ohne fündig geworden zu sein. Es kam durchaus vor, dass sie noch Goldschmuck oder Bargeld in irgendwelchen Verstecken fanden. Aber hier war wirklich nichts zu holen, was nicht in dem Sperrmüllcontainer gehörte.

 

Nachdem der Container abgefahren war und Tobias die Räume gereinigt hatte, kam der Hausmeister zur Kontrolle und entdeckte in einer Ecke noch einen Pappkarton. Der vermeintliche Herrscher über das Haus reagierte überzogen wütend, drücke Tobias den Karton in die Arme und verwies ihn des Hauses. Der Karton war sehr schwer und sofort auf der Straße stellte Tobias ihn ab, um seinen Inhalt zu begutachten. Es war Papier, lauter DinA4- Seiten eng beschrieben mit zierlichen Buchstaben. Tobias schob den Karton mit dem Fuß in eine Ecke und wollte sich davon machen, als der Hausmeister ihn anfauchte, er solle gefälligst alles mitnehmen, sonst würde er sich bei seinem Chef beschweren. Also schleppte Tobias den schweren Karton in seinen Container und vergaß ihn in einer Ecke, wo er langsam von schmutziger Wäsche begraben wurde.

 

Als Tobias die fürsorgliche Elfi kennenlernte, begann sie sich auch bald um seine Wäsche zu kümmern. So stand eines einsamen Abend der Karton wieder nackt und auf unerklärliche Weise herausfordern von Tobias. Er nahm einen Stapel Papier heraus und begann zu lesen.

 

Tobias hatte noch nie ein ganzes Buch gelesen, aber diese Worte, so wohl gefeilt, begannen in seiner Seele zu tanzen. Die zarte Spannung von Gefühlen und die Wellen der schicksalhaften Handlung zogen ihn mit sich. Auch wenn nichts von dem etwas mit seinem tatsächlichen Leben zu tun hatte, genoss er es doch, sich dem Leben und Empfinden auf diesen Seiten hinzugeben. Er fühlte sich eins mit der Geschichte.

 

Später meinte er, das Schicksal persönlich hatte ihn am folgenden Tage vorbeigeführt an der von ihm bis dahin unbemerkten Buchhandlung, die gerade Werbung für einen neuen Bestseller machte. Er kannte den Namen des Autors, seine Erfolge, seine Berühmtheit und seinen damit verbundenen Reichtum. Elfi lieh Tobias, ohne zu ahnen warum, ihre Schreibmaschine und er begann zu schreiben, abzuschreiben.

 

Die folgenden Ereignisse überrollten Tobias. Es war als hätte er eine Schleuse geöffnet und das sich nun ergießende Wasser wäre ein lang erwarteter Segen nach endloser Dürre. So empfand nicht er, sondern die Leser seines ersten Buches, die Kritiker und die Presse. Sein Verlag setzte nun alles daran, auch den Autor seinem Erfolg anzupassen. Und mit jedem neuen Buch wurde seine Wohnung größer und die Einladungen elitärer. Dabei wandelte sich sein Wesen wie von selber vom unreifen jungen Mann zum erfolgreichen, erwachsenen Autor.

 

Doch das Gespenst erschreckte den noch jungen Mann schon bei seiner ersten Auszeichnung, als er unsicher auf der Bühne von dem vom Verlag verfassten Zettel seine Dankesrede ablas. Es huschte so vorbei und ließ ihn stottern, was die Damenwelt im Publikum für ein entzückendes Zeichen von Schüchternheit hielt. Aber Tobias glaubte sofort in der Gestalt die verstorbene Besitzerin des Kartons zu erkennen.

 

Heute würde das letzte der fünf Manuskripte aus dem Pappkarton als sein neues Werk präsentiert werden. Fünf Bücher in acht Jahren, drei Verfilmungen, sechs Literaturpreise, seitenweise Presseberichte und Kritikerlob waren die Ernte gewesen eines Feldes, das er nicht bestellt hatte.

 

Vorsichtig hatte er weiter Nachforschungen nach der Verfasserin angestellt, denn die Schrift und auch die Sensibilität der Beschreibungen und Worte ließen auf eine Frau schließen. Es war geradezu Ironie, dass die Welt nun ihn als Mann dafür pries. Sein Ruhm begründete sich auf dem Irrtum, dass diese offensichtliche Feinfühligkeit männlichen Gedanken entsprungen und damit besonders bemerkenswert war.

 

Was eigentlich trieb ihn, die wirkliche Urheberin dieser Texte zu finden? Wollte er, dass seine Lüge enthüllt wurde? Wollte er sein Geld mit ihr teilen? Wollte er nachträglich ihre Erlaubnis einholen? Wollte er sich strafen? Wenn Tobias nachdachte, traf nichts von dem zu. Er fühlte sich wohl, aber in seinem Leben klaffte eine Lücke, die nur diejenige zu schließen vermochte, die diese Texte geschrieben hatte. Sie beide verbanden tausende von Worten von ihr erdacht und von ihm als seine eigenen angenommen. Mit den Jahren war er eins geworden mit den Geschichten und damit auch mit ihr. Und seit er wusste, dass es keine alte Frau gewesen war, die all dies aufgeschrieben hatte, wandelte sich die fremde Verfasserin in seiner Phantasie zu einem freundlich verführerischen Wesen, einer unsichtbaren Begleiterin durch die Einsamkeit.

 

Tobias fragte sich, wann sie heute erschienen würde, denn es war ja auch ihr Tag. Aber er fragte sich auch, woher er nun das nächste Buch nehmen sollte, dass man von ihm erwartete. Die alte Schreibmaschine von Elfi war lange durch einen Computer ersetzt worden und stand nun als Relikt auf einer Anrichte. Tobias betrachtete sie versonnen. Was war eigentlich aus Elfi geworden? Er suchte nach einem Blatt Papier und spannte es ein. Ob das Farbband noch funktionieren würde? Zaghaft schlug er auf die Tasten und tippte „Elfi“.           

 

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Trug und Wahrhaftigkeit: Eine Liebesgeschichte von Christiane Mielck-Retzdorff



Zum wiederholten Mal muss sich die Gymnasiastin Lisa-Marie in einer neuen Schule zurechtfinden. Dabei fällt sie allein durch ihre bescheidene Kleidung und Zurückhaltung auf. Schon bei der ersten Begegnung fühlt sie sich zu ihrem jungen, attraktiven Lehrer, Hendrik von Auental, der einem alten Adelsgeschlecht entstammt, hingezogen. Aber das geht nicht ihr allein so.
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