Heike Riedel

Ein letzter Brief


Es ist üblich, dass bei Beerdigungen diverse Grabreden von Hinterbliebenen an den Verstorbenen gehalten werden. Dies ist meine Grabrede, die ich an die Hinterbliebenen richte:

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Liebe Familie, liebe Freunde,

im Allgemeinen beginnt man solche Reden die dem Gedächtnis des Verstorbenen dienen mit Worten wie: Er oder sie war immer gut, immer froh, immer nett ... denn wir haben alle gelernt, dass man über Verstorbene nicht schlecht zu reden hat. Ich möchte lieber über die guten Seiten meiner Familie und meiner Freunde, also der Lebenden sprechen.

Erst einmal danke ich euch, dass ihr euch hier und heute zusammengefunden habt, um meine sterbliche Hülle auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Ich bin überzeugt, dass meine Seele ihren Weg bereits gegangen ist und hoffe, dass sie den richtigen Weg einschlagen durfte.

Ich habe lange überlegt, in welcher Reihenfolge ich zu euch sprechen soll, aber ich konnte und mochte nicht den einen über den anderen setzen, deshalb habe ich mich entschlossen, Alphabetisch vorzugehen, damit sich niemand benachteiligt fühlen soll.

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Liebe Anne,

unser Weg führte uns über viele Jahre die gleiche Straße entlang. Und auch wenn wir uns hier und da mal aus den Augen verloren hatten, so haben wir uns doch immer wiedergefunden und konnten immer feststellen, dass wir weiterhin gute Freundinnen sein konnten.

Leider habe ich es dir nie gesagt, aber ich habe dir viel zu verdanken.
Wenn ich mal wieder mich und meine diversen Erkrankungen nicht ernst genommen habe warst du da und hast mich ernst genommen. Mich. So wie ich war. Mit meinen Fehlern, meinen Schwächen, meinen Wehwehchen.
Als ich damals die Diagnose Borderline bekam, warst du die Erste, die sich über diese Krankheit kundig gemacht hat. Dein Wille mich zu verstehen hat mich damals wie heute gerührt und vor allem berührt. Du hast mir damit gezeigt: Hey, du bist meine Freundin und mir ist wichtig zu verstehen, was mit dir los ist ... Du bist mir wichtig.
Diese Botschaft hat mir oft geholfen und mich aufgerichtet, wenn ich mal wieder down war.

Jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, verliere ich mich in Erinnerungen ... weißt du noch, zu Anfang unserer Freundschaft, als wir uns einmal richtig in die Haare gekommen sind? Es muß in der 5. oder 6. Klasse gewesen sein (ich denke eher in der 6. da wir da erst richtig befreundet waren). Ich weiß nicht mehr, worüber wir uns gestritten haben, aber ich weiß noch, dass du mich verhauen wolltest und ich bin über den ganzen Schulhof geflüchtet!
Wie haben wir später über diese Situation gelacht!!!!
Wenn  eine Freundschaft so beginnt, kann sie doch nur von langer Dauer sein, oder?

Liebe Anne, natürlich gibt es noch viele, viele gemeinsame Erinnerungen, die es wert wären, hier angesprochen zu werden, aber ich glaube, das würde den Rahmen sprengen. Aber sei dir gewiss, dass ich all die Jahre sehr froh war, dich als Freundin haben zu dürfen. Dafür und für all die schönen Erinnerungen danke ich dir.

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Liebe Mama,

ich weiß, kein Wort der Welt könnte dich wirklich trösten, wo du nun schon dein zweites Kind zu Grabe trägst. Aber wenn du mich, genauso wie Manfred und natürlich auch Papa, in lebendiger Erinnerung behälst, werde ich nie ganz von dir fortgegangen sein. Du wirst mich immer in deinem Herzen finden.
Und auch die Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse wird dir niemand nehmen können. Denk doch nur an unseren Ausflug nach Amsterdam. Wieviele Jahre hast du die Zigarettenschachtel, die du dir dort gekauft hattest, wie einen Augapfel gehütet!
Oder weißt du noch, wie wir in Wesselburen in der Dämmerung auf der Bank saßen und die Kühe beim weiden beobachteten?
Es gibt noch viel mehr schöne Erinnerungen, du trägst sie alle in deinem Herzen, so wie mich.
Ich weiß, du bist traurig, dass ich von dir fortgegangen bin, aber vielleicht tröstet es dich ja, dass ich nun bei meinem Papa und meinem großen Bruder bin, die ich beide sehr geliebt und ebenso sehr vermisst habe. Ich bin nun zu ihnen gegangen; was bleibt, ist meine Liebe zu dir.

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Lieber Norbert,

als wir uns damals auf der 15 kennenlernten, war mein erster Gedanke nicht gerade positiv. Ich hielt dich für eingebildet, dabei warst du nur schüchtern.
Als die Ärzte hörten, dass wir ein Paar sind, gaben sie unserer Liebe keine Chance ... sie meinten, das könne nicht gut gehen. Tatsächlich ging es aber 14 ½ Jahre gut. Das ist weit mehr, als manch „gesundes“ Paar gemeinsam schafft und ich war stolz, dass wir es damals allen gezeigt haben.

Ich danke dir, dass du mit mir den Schritt gewagt und aus dem Ruhrgebiet weg nach Schleswig-Holstein gezogen bist.
Die Jahre an der See haben mir psychisch sehr geholfen und ich hatte endlich Zeit reifer und gelassener zu werden.
Ich muß mich auch bei dir bedanken, dass du es überhaupt mit mir ausgehalten hast. Besonders die Anfangsjahre dürften nicht immer leicht für dich gewesen sein – wenn ich mal wieder die für mich so typischen Stimmungsschwankungen hatte oder wenn ich sauer war und alles an dir ausgelassen habe. Besonders für letzteres möchte ich dich um Verzeihung bitten.
In den Jahren mit dir habe ich gelernt, mich zu entschuldigen – auch dafür möchte ich dir danken.

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Lieber Peter,

wie schnell doch die Zeit vergeht ... manchmal hatte ich das Gefühl, dich erst ein paar Monate zu kennen, weil ich noch immer so verliebt in dich war – und manchmal kam es mir so vor, als würden wir uns schon unser ganzes Leben lang kennen. Wie oft haben wir das gleiche gedacht und auch oft genug ausgesprochen. Wir haben manchmal Witze gemacht, dass wir gar nicht mehr miteinander reden bräuchten, denn wir würden ja eh das gleiche denken.
Wenn es das ist, was die Leute meinen, wenn sie von Seelenverwandten sprechen, dann kann ich mit Gewissheit sagen: Ja, du warst mein Seelenverwandter!
Du hast mich verstanden, wie kein Anderer. Du hast mir geholfen, weiter an mir zu arbeiten und mich zu finden. Nachdem die FSHD festgestellt worden war, hast du mir alle Freiheiten gelassen und mich in allem unterstützt – egal was es war!
Und mit am wichtigsten: du hast mir geholfen, meine Schuldgefühle abzubauen, so dass ich das Leben besser genießen konnte – auch wenn ich eingeschränkt war.

Ich danke dir, dass du mir das Gefühl gegeben hast, dass du dich bei und mit mir Wohl fühlst und dass du mich brauchst. . Ich danke dir für die Liebe, die du mir gegeben und gezeigt hast.
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Liebe Petra,

danke, dass du all die Jahre eine so gute Freundin warst, dass du meine Freundin warst. Du hast mir unendlich viel gegeben.
Ich kann mich noch gut erinnern, dass du einmal zu mir gesagt hast, du würdest mich bewundern – für meinen Glauben und auch für meine Kraft.
Ich fand das ein bisschen absurd, denn genau dafür bewunderte ich dich!
Obwohl dir das Leben so manchen Knüppel in den Weg gelegt hat, findest du immer einen Weg darüber oder drumherum. Und dabei geht deine Warmherzigkeit nie verloren.
Auch wenn ich manchmal Fehler gemacht habe, warst du immer da und hast dich nie von mir abgewendet. Wenn ich dich brauchte, warst du immer zur Stelle.
Und wenn du mir gesagt hast, dass du dich bei mir wohl fühlst und dich geben kannst wie du bist, dann konnte ich dir das glauben und es machte mich von Herzen glücklich.
Ich danke dir für die vielen schönen Stunden und Tage die wir miteinander verbracht haben. Für die vielen Gespräche über den Glauben und ich danke dir dafür, dass mich manchmal mit in den Gottesdienst genommen hast – ich habe mich immer darüber gefreut und es hat mir auch jedes Mal viel gebracht.

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Liebe Sandra,

unsere Freundschaft war noch nicht so alt, wie die anderen hier angesprochenen, aber ich denke ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass uns von Anfang an etwas Besonderes verbunden hat. Noch bevor wir wußten, wie ähnlich wir uns sind, hatten wir uns schon angefreundet.
Manchmal war es schon fast unheimlich, wenn wir wieder und wieder neue Parallelen zwischen uns entdeckt haben. Aber es hat uns noch näher gebracht.
Außenstehende können oft nicht verstehen, wie Menschen wie wir ticken – aber immer wenn ich mit dir geredet habe wußte ich, hier ist jemand, der mich wirklich versteht.
Die Freundschaft zu dir gab mir einiges an Selbstverständnis. Dinge, von denen ich immer dachte, ich wäre allein damit, konnten dank deiner Hilfe in ein anderes – meist weniger negatives – Licht gerückt werden. Wir konnten miteinander reden ohne uns verstecken oder verstellen zu müssen. Das tat so unendlich gut.

Und auch du, liebe Sandra, hast mir das Gefühl gegeben, ein besonderer Mensch zu sein.
Wie oft hast du mir erzählt, dass du nie jemanden zurückrufst ... bei mir hast du es – wenn möglich – immer getan. Du mochtest auch nicht gern telefonieren, aber wenn wir dann fast 2 Stunden an der Strippe gehangen hatten, konnte ich das kaum glauben.

Wenn dir die Freundschaft zu mir nur ein Zehntel dessen gegeben hat, was mir deine Freundschaft brachte, dann weiß ich, dass es auch für dich eine Bereicherung war.

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Liebe Sarah,

viel haben wir nicht voneinander gekannt, aber das wenige, das ich von dir wußte ließ mich sehr stolz sein auf dich.
Ich möchte, dass du weißt, dass ich dich nicht wegen mangelnder Liebe in deiner Pflegefamilie gelassen habe, sondern gerade weil ich dich liebte und nur dein Bestes wollte.
Ich weiß, das mit dem „Ich wollte immer nur dein Bestes“ sagen viele Eltern, aber ich denke du weißt, dass es in deinem Fall einfach der Wahrheit entspricht.
Du wurdest uns damals weggenommen, weil ich dir nicht weh tun wollte und als du bei deinen Pflegeeltern warst, ließ ich dich dort, weil ich dir nicht noch mehr weh tun wollte.
Ich hoffe du verstehst das und kannst mir vergeben, dass ich nicht stark genug für dich war.


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Liebe Familie, liebe Freunde und Weggefährten,

ich habe mich immer bemüht, sowohl in Menschen, als auch in meiner Umwelt das Positive zu sehen. In Bezug auf Menschen war ich dabei vielleicht manchmal etwas naiv und zu gutgläubig und manchmal ist mir daraus auch ein Schaden entstanden – jedoch meist nur materieller Natur, das konnte ich verschmerzen.
Ich war immer fasziniert von allem, was die Natur uns schenkt. Ich weiß nicht, wieviele Sonnenauf- und –untergänge ich fotografiert habe, weil ich nicht genug davon bekommen konnte. Auch wenn mir der Winter körperliche Beschwerden brachte, habe ich ihn doch gemocht, weil ich in dieser Zeit die Vögel füttern und mich dabei an ihnen erfreuen konnte. Staunend habe ich zugesehen, welche Gebilde der Frost auf die Bäume und die Wiesen zaubern kann. Und, und, und.

Ich habe das Leben geliebt – aber manchmal fiel mir das nicht leicht. Mal waren es die Schmerzen, mal die Depressionen, die mir den positiven Blick verleidet haben.
Ich habe oft darüber nachgedacht, meinem Leben ein Ende zu setzen, doch ihr alle – Familie und Freunde – habt mir immer wieder geholfen aufzustehen, weiter zu machen.

Nun bin ich doch endlich den letzten Weg gegangen.
Bei aller Trauer, die ihr empfindet, möchte ich euch noch einen - hoffentlich tröstenden - Gedanken mitgeben: Ich habe jetzt keine Schmerzen mehr und werde weder von Depressionen noch von Selbstzweifeln oder Schuldgefühlen gequält.
Und wenn ihr die Erinnerung an mich wach haltet, werde ich euch nie ganz verlassen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.11.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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