Ich hatte mir die Zeit genommen, mal wieder
einen Tag ausschließlich für mich zu haben. Ich schlief bis acht Uhr oder so
und frühstückte dann ausgiebig.
Ich hatte keinen Plan. Was sollte ich an
diesem Oktobertag tun? Ich könnte einfach wieder in die Falle klettern und den
lieben Gott einen guten Mann sein lassen, dachte ich so bei mir, während ich
mir eine weitere Tasse Kaffee eingoss.
Es wäre in diesem Jahr wohl auch die letzte
Gelegenheit, noch einmal Angeln zu gehen, sich einen Hecht in die Küche zu
holen. Verdammt, immer diese Entscheidungen zwischen zwei Brötchenhälften.
Der Tag war klar und würde bis zum Abend wohl
auch nicht allzu kalt werden. Der Wetterbericht im Radio hatte was von zehn bis
zwölf Grad verlauten lassen. Also entschied ich mich, mal wieder einige Stunden
in der Natur zu verbringen. Aber es würde nichts mit dem Angeln werden. Ich nahm
mir vor, mal wieder die Gegenden meiner Kindheit zu durchstreifen.
Ich wohne seit vielen Jahren in einer größeren Stadt, in der die
meisten Menschen in weitgehender Anonymität vor sich hin vegetieren. Augen auf,
Duschen, Frühstück, zur Arbeit, Mittag, nach Hause, Abendessen, Fernsehen,
Duschen, ab ins Bett. Auch die meisten meiner Tage verliefen nicht anders. Die
wenigen Abweichungen machten meine Existenz auch nicht gerade spannender. Es
war an der Zeit, meinen Alltag mal wieder etwas zu verdünnen, meinem Atem etwas
Sauerstoff zu gönnen.
Ich verließ die Stadt, fuhr mit dem Bus
Richtung Norden und ließ mich um etliche Jahre zurück in meine Kindheit fallen.
Eine halbstündige Fahrt und ich war in einer
völlig anderen Welt. Realität und Erinnerungen vermischten sich zu einem Traum,
der mich wie ein Blatt über die Gegend trug. Ich ging an Gärten vorbei,
betrachtete kleine Häuschen, alte Villen und genoss die klare Herbstluft.
Vom Zentrum des Ortes aus machte ich mich auf
den Weg zu meinem früheren Zuhause. Die Straßen waren mir nicht mehr sehr
vertraut, es hatte sich in all den Jahren zu viel verändert. Felder, auf denen
ich früher Drachen steigen gelassen hatte, waren inzwischen Neubausiedlungen
gewichen, deren Anblick regelrecht wehtat. Ich kam an längst verlassenen,
völlig verwilderten Grundstücken vorbei, die aufgegeben worden waren, als auch
hier der Exodus einsetzte und die Menschen in die Städte flohen.
Früher gab es hier unzählige Wochenendhäuser,
ein paar Herbergen und auch Ferienlager. Während der Schulferien fanden viele
Familien hier Ruhe und Erholung. Die Strände am See waren überfüllt und die
Luft roch nach Sonnenöl und Wald.
Die Sommer meiner Kindheit verbrachte ich
praktisch am Strand oder in den Wäldern der Umgebung. Morgens kam ich zum
Angeln an den See oder ich breitete meine Decke auf dem noch menschenleeren
Strand aus und aalte mich in den ersten wärmenden Strahlen der Sonne.
Heute war mir hier alles fremd. Ich zog durch
die Straßen und versuchte krampfhaft, tief vergrabene Erinnerungen zu wecken.
Gut, es waren seither viele Jahre vergangen, doch so wenig wiederzuerkennen,
damit hatte ich nicht gerechnet.
Dann stand ich am Tor meiner alten Schule.
Aus meinem Mp3-Player sickerte mir irgendein trauriger Song der Counting Crows
in die Ohren und die Musik verstärkte diese seltsamen Gefühle, welche die
Bilder auslösten.
Die beiden großen Pappeln begrenzten noch
immer den alten Schulhofzaun, das war es auch schon. Das alte Schulhaus, eine
ehemalige Villa aus rotem Backstein, war nicht wiederzuerkennen. Man hatte
willkürlich links und rechts Garagen daran gebaut. Ich konnte mir irgendwie
nicht vorstellen, hier einmal viele Jahre lang zu Schule gegangen zu sein.
Wohin ich auch blickte, all das sah falsch aus, fremd, ohne jeglichen
Erinnerungswert.
Als ich meinen Weg fortsetzte, ging ich ohne
Hoffnung. Zwei Kilometer lagen vor mir.
Die große Tour war vergessen. Ich wollte nur
noch das Haus sehen, in dem ich aufgewachsen war. Irgendwas musste doch meinen
Geist in die Vergangenheit tragen können.
Ich mied die neu befestigten Straßen, nutze
kleine, direktere Wege. Von einem bewaldeten Hügel blickend, sah ich plötzlich
auf ein hoch umzäuntes Grundstück, das früher anders aussah, aber ganz anders.
Damals war dort eine Laubenkolonie. Enge
Wege, kleine, gepflegte Beete und kleine Lauben aus Holz zur Erholung für
manche Menschen aus der Stadt. Es roch im großen Umkreis schwer nach den Blumen
aus den Gärten. Manchmal roch es nach frischer Farbe oder Teer und an vielen
Sommerabenden nach gegrilltem Fleisch. Ich hatte ein paar Freunde in dieser
Kolonie, meine damaligen Sommerfreunde.
Es ist schon seltsam, dache ich jetzt so bei
mir, wie einem das Erinnern an Gerüche Bilder in den Kopf zurückholen kann.
Aber diese Bilder waren nicht stark genug um
von dauerhafter Kraft zu sein. Ich sog mir die frische Oktoberluft durch die
Nase, sah auf das Gelände hinunter und ein kalter Schauer zog mir über den
Nacken. Ich blickte auf einen Schrottplatz, auf Unmengen aufgetürmten Metalls
und es roch überhaupt nicht wie die alten Schrebergärten, es roch einfach nur
dumpf nach verrottendem Eisen.
Schließlich erreichte ich mein ehemaliges
Zuhause. Die Enttäuschung hätte nicht größer sein können. Das Haus war
abgerissen, Hof und Garten verwildert.
Nach der Wildnis auf dem Grundstück zu
urteilen, war das Haus bestimmt nicht lange nach unserem Wegzug abgerissen
worden. Das Fundament war von undurchdringlichem Dickicht überwuchert. Überall
standen große Bäume, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Nur ein wuchtig
ausladender Mirabellenbaum stand da noch, an den ich mich erinnern konnte, mehr
war da nicht.
Gut dreißig Jahre sind sehr lang, manchmal
sind sie einfach zu lang.
Ich machte mich wieder auf den Weg, diesmal
wollte ich zum See. Vielleicht hatte ich dort mehr Glück. Mit Veränderungen von
solchem Ausmaß hatte ich nicht gerechnet. Vielleicht würden mich die
Erinnerungen am See für die bisherigen Enttäuschungen entschädigen. Ich
verbrachte früher etliche Tage meiner Ferien an den Stränden dieses Sees,
angelte dort in den Morgen– und Abendstunden, badete tagsüber mit Freunden, Urlauberkindern oder Kindern aus nahe gelegenen
Ferienlagern oder lag faul in der Sonne herum. Ja, dieser See war für viele
Geschichten aus meiner Kindheit der Hintergrund, der See und die Wälder und
Felder in seiner Umgebung.
Um zum See zu gelangen ging ich die alten
Wege durch die Wälder im Westen der Ortschaft. Hier hatte sich wenig verändert.
Der Wald war dichter, als ich ihn in Erinnerung hatte, doch die alten Pfade gab
es noch. Ich kam an Gärten vorbei, deren Zäune noch genau so aussahen wie
damals.
Als der Wald sich lichtete, lag der See vor
mir und ich blickte auf das vom Wind gekräuselte Wasser. Es lagen gut fünfzig
Meter zerzauste Grasfläche zwischen mir und dem größten Strand des Sees. Direkt
am Wasser stand ein älteres Pärchen. Der Mann streckte den Arm aus um der Frau etwas, scheinbar am
gegenüberliegenden Ufer des Sees, zu zeigen. Ich versuchte den Blicken der
beiden zu folgen, konnte aber nichts in dem dünnen Streifen Wald am Horizont
gegenüber entdecken. Die Sonne begann unterzugehen und zeigte sich als matter,
satt orangener Ball über dem See und färbte den fast wolkenlosen Himmel in ein
irgendwie seifiges Türkis. Nun war mir klar, was das Pärchen am Strand
betrachtete.
Kurze Zeit später verließen die beiden den
Strand, verschwanden auf dem Uferweg in Richtung Waldrand.
Ich sah mich etwas genauer um und merkte, daß
ich nun allein war. Der Wind hatte aufgefrischt und trug einen schmalen
Streifen schmutzige Gischt an den Strand. Es roch würzig nach Wasser und Wald,
das Rascheln vom Schilf und der Blätter in den Pappeln mischte sich mit dem
Plätschern der am Strand brechenden Wellen.
Es war Herbst, die Badesaison war längst
vorbei und so vermißte ich etwas die Aromen von Sonnencreme und Bratwurst in
der Luft. Der alte Steg war längst nicht mehr da und auch der Sprungturm war
irgendwann verschwunden. Klar, der Turm war schon in meinen Kindertagen
ziemlich verwittert gewesen, es war logisch, daß er all diese Jahre nicht
überstanden hatte. Aber warum wurden Steg und Sprungturm nicht wieder neu
aufgebaut? Solche Dinge machten einen Strand, der über den Sommer von tausenden
Menschen besucht wurde, um einiges attraktiver.
Aber was ging das mich an? Zwar war es sehr
schön am Ufer dieses Sees zu stehen, mir den Wind um die Nase wehen zu lassen
und mir diese beeindruckende
Sonne anzusehen, aber die Erinnerungen aus
meiner Kindheit berührte das wenig.
Es begann langsam zu dämmern und ich
beschloß, mich wieder auf den Heimweg zu machen. Dieser Tag war zwar keine
gedankliche Reise in meine Kindheit, aber dieser Ausflug hatte sich trotzdem
gelohnt. Jetzt hatte ich Hunger, jetzt hatte ich Durst, jetzt war ich müde. Ich
wollte wieder zurück in die Stadt, wieder nach Hause.
Ich machte mich auf direktem Weg zur
Bushaltestelle und die alten Straßen durch den Ort. Ich ging die Wege, die ich
kannte, vorbei an Gärten und Häusern, die sich kaum verändert hatten.
Der Mp3-Player gab mir den richtigen Sound
für den Weg und so ging ich mit „Shadow Play“ von Rory Gallagher in den Ohren
Richtung Ortskern.
Meinen Blick auf die unbefestigte Straße
gerichtet marschierte ich an bunten Zäunen vorbei, hob dann den Kopf um nicht
die nächste nach links abgehende Straße zu verpassen. Ich sog tief die
frühabendliche Luft durch die Nase und blieb erstaunt stehen. Verdammt, dachte
ich, das kann doch nicht wahr sein…
Irgendwie wirkte die Straße plötzlich wie in
dünnen Nebel gehüllt. Aber die blassen, grauen Gespinste in der Luft waren kein
Nebel, dem leicht beißenden Geruch nach waren es Rauchschwaden. Ich ging zügig
weiter die Straße hinunter und bog dann links in eine Kastanienallee. Dann sah
ich sie, diese typischen Relikte aus meiner Kindheit. Jemand hatte zwischen den
Kastanienbäumen heruntergefallenes, trockenes Laub zusammengekehrt und die
Laubhaufen dann angezündet.
Dann passierte es urplötzlich, ich war wieder
zwölf Jahre alt. Eine genetisch bedingte Pyromanie verschleierte meinen Blick,
als sich diese kleinen züngelnden Flammen im Laub im Glanz meiner
tränenden Augen spiegelten. Ich weinte
friedlich vor mich hin und starrte verzückt ins Feuer. Es hatte nicht viel
gefehlt und ich hätte angefangen, herumliegende Kastanien für meine
Kastanienschleuder aufzusammeln. Mit zwölf hatte das durchaus Sinn gemacht, mit
vierundvierzig machte es das nicht mehr, also ließ ich es.
Ich atmete tief die rauchige Luft ein und
fühlte mich unbeschreiblich frei. Dieses Gefühl hatte ich den ganzen Tag
gesucht und dann war es da. Ich war glücklich und auch gleichzeitig ein kleines
bißchen wehmütig. Als ich den Kopf hob, meinen Blick wieder vom Feuer löste,
bemerkte ich, daß mir gegenüber ein Mann stand und mich beobachtete. Er stützte
sich auf einen Rechen, hatte einen glimmenden Zigarrenstumpen im Mundwinkel und
sah zu mir herüber. Als sich unsere Blicke trafen, nickte ich ihm leicht zu und
er nickte um meinen Gruß zu erwidern. Niemand von uns sprach ein Wort, trotzdem
hatte ich das Gefühl, daß er irgendwie begriff, warum ich da mit tränenden
Augen vor einem seiner Laubfeuer stand. Dann kauerte ich mich nieder, nahm ein
glimmendes Kastanienblatt, streifte die Glut vom Blattrand und steckte es in
eine Tasche meiner Jacke. Ich nickte dem Mann noch einmal grüßend zu und machte
mich wieder auf den Weg zum Bus.
Der Geruch der Feuer wurde schwächer, blieb
aber weiter in der Luft. Selbst einige Straßen weiter, als ich wieder an der
Haltestelle stand, roch ich noch immer den Rauch. Der Bus ließ noch etwas auf
sich warten, also setzte ich mich auf die Bank, schloß meine Augen und
schnüffelte etwas von der kühlen Abendluft ein.
Dann hörte ich doch den nahenden Bus. Ich sah
ihn, als er gerade in die Straße einbog, also drückte ich die Knie durch und
stand auf. Über der Straße lag noch immer ein dünner Schleier von Rauch. Ich
sog noch einmal die Luft ein und stieg lächelnd in den Bus, zahlte den
Fahrschein und setzte mich ganz nach hinten auf die Rückbank. Der Bus war fast
leer, nur wenige Leute saßen noch im vorderen Teil, daher hatte ich reichlich
Platz auf der hinteren Sitzreihe. Ich stöpselte mir wieder gute Musik in die
Ohren und lümmelte mich in die äußere Ecke des Sitzes.
Lächelnd döste ich vor mich hin, lauschte den
Stones, die ihr „Wild Horses“ in nicht endender Widerholung sangen und genoß
die Melancholie dieses Songs. Ich holte das angesengte Kastanienblatt aus der
Jackentasche und roch daran.
Am Morgen war ich losgezogen um irgendwie
Erinnerungen an meine Kindheit zu aktivieren, doch meine anfänglichen
Hoffnungen gingen über den Tag verloren. Ich war enttäuscht und traurig, zu
viel hatte sich in all den Jahren verändert.
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Holger Wobst).
Der Beitrag wurde von Holger Wobst auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.11.2009.
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