Jürgen Berndt-Lüders

Schwester E.'s Wunsch nach einem Birkenspanner

Zu ihrem zweiundfünfstigsten Geburtstag  hat sich Schwester Evigenie einen Birkenspanner gewünscht. Der schwarz-weiße Schmetterling, Birkenspanner (Biston betularia) genannt, den ihr der Herr Pfarrer daraufhin schenkte, steckt heute aufgespießt neben den Andenken an die wichtigsten Ereignisse ihres Lebens, die im Grunde alle nichts mit ihr selbst zu tun hatten.

 

Die Nonne wollte keinen Schmetterling. Sie leidet in Wirklichkeit zunehmend unter der Vorstellung, dass sie in späteren Jahren einmal diese Erde verlassen wird, ohne jemals einem Mann beigewohnt zu haben. Aber sie darf nicht darüber reden. Die Gesellschaft würde ihre Wünsche einfach nicht akzeptieren.

 

Ihr ist bekannt, dass die Lebenserwartung einer Schwester überdurchschnittlich hoch ist, weil sie keinen Stress mit Männern hat. Die Zeit des Entbehrens würde sich also noch über die normale Lebenszeit eines weiblichen Menschen hinaus verlängern.

 

Dieser Gedanke schmerzt sie immer wieder, denn wenn sie während des Entkleidens mit der Hand an ihrem Körper herunter fährt und dabei erschaudert, wird ihr jedes Mal schmerzlich bewusst, dass sie das letzte Mal ein Mann berührt hat, als sie sechzehn war. Doktor Schneider hat ihr damals rechtzeitig vor dem Durchbruch den Blinddarm entfernt. Und wegen der Betäubung hat sie diese Berührung noch nicht einmal spüren und genießen können.

 

Zwischenzeitlich hat Evigenie immer wieder zutiefst bedauert, so gesund zu sein. Und als die  Mandeln dran waren, hatte ausgerechnet eine HNO-Ärztin Dienst gehabt. Ihren damaligen Einspruch gegen diese patientenunfreundliche Entwicklung hatte die Klinikleitung verständnislos ignoriert.

 

Ein einziges Mal, wobei dieser Vorfall auch schon wieder Jahre her ist, war sie mit einem Mann kollidiert. Möbelpacker hatten das neue Klavier des Herrn Pfarrers hoch tragen wollen. Einer der Herren war ins Stolpern gekommen, und für Evigenie, die eben die Treppe nach oben kam, war es fast zu spät gewesen, dem Manne auszuweichen. Nur mit äußerstem Geschick war es ihr gelungen, ihm in die Fallrichtung zu springen.

 

Weil vor Evigenies Zimmer im Schwesternwohnheim eine Birke steht, hatte sie sich nun einen Birkenspanner gewünscht. Genussvoll hätte sie sich auskleiden und dabei beobachtet fühlen mögen. Wieder war sie bitter enttäuscht worden. Keiner hatte ihre wahren Wünsche begriffen.

 

Zu Weihnachten, als der Studentenservice einen jungen Mann, als Weihnachtsmann verkleidet, auf die Kinderstation geschickt hatte, nahm Evigenie allen Mut zusammen und sprach ihn an. Was sie denn zahlen müsse, wenn er abends um Viertel vor zehn auf der Birke hocken und in das hellerleuchtete Fenster  starren würde.

 

Den Feldstecher würde sie stellen.

 

Der Student, der an eine detektivische Observation von möglichen Einsteig-Dieben glaubte, hatte einen günstigen Preis gemacht.

 

Jetzt war es so weit. Die Nacht der Nächte war gekommen. Die Geburtstags-Lieder waren gesungen und Evigenie hatte sich auf ihr Zimmer im ersten Stock zurück gezogen.

 

Evigenie vergewisserte sich, dass der Student in einer Astgabel jener Birke Platz genommen und den Feldstecher am Auge hatte.

 

Schwester Evigenie entledigte sich ihrer Haube. Der junge Mann sah unverwandt zu ihr hinüber.

 

Schwester Evigenie knöpfte ihren gestärkten Kragen ab. Der Mann schien den Blick nicht von ihr lassen zu wollen.

 

Voller Genugtuung nahm Evigenie zur Kenntnis, dass er sich auch noch für sie zu interessieren schien, als sie nur noch in ihrer wärmenden Angora-Unterwäsche passend zur Blickrichtung stand.

 

Im freudige Erwartung aber geriet sie, als ihm der Feldstecher aus den Händen fiel und er – in offensichtliche Erregung versetzt – vom Baum stieg, beinahe vom untersten Ast gefallen wäre und zum Haus hinüber lief.

 

Evigenie war überglücklich. Aber sie fragte sich, „wie will er ohne Leiter zu mir hinauf?“ Sie lief, so wie sie die Natur geschaffen hatte, auf den Balkon und beugte sich hinunter.

 

„Komm hinten rum, ich öffne dir“, flüsterte die Novizin im Erdgeschoss, ehe Evi etwas sagen konnte.

 

Am kommenden Tag bat sie den Herrn Pfarrer, die Birke fällen zu lassen. Wenn sie schon keinen Birkenspanner haben konnte, sollte die Novizin auch keinen haben. Was der Pfarrer aber aus Naturschutzgründen ablehnte.

 

Schließlich konnte sie ihm nicht die Wahrheit sagen.

 

Jetzt sitzt die arme Evigenie Abend für Abend auf der Birke und sieht den beiden zu. Das muss nun für den Rest ihres ereignisarmen Lebens reichen.

 

Ich hoffe, ihr seht in meiner kleinen Geschichte keine BlasphemieJürgen Berndt-Lüders, Anmerkung zur Geschichte

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