„Mr. Lenhardt? Hören Sie mich? Mr.
Lenhardt? Bitte versuchen Sie, die Augen zu öffnen…!“
Wer, in Gottes Namen, ist dieser verdammte Mr. Lenhardt? Und wieso muss man
mich stören, weil dieser Mr. Lenhardt nicht aufwachen will? Soll man ihn doch
einfach schlafen lassen! Ich will jetzt auch noch schlafen!
„Sie müssen gegen das Gefühl ankämpfen, weiterschlafen zu wollen, Mr. Lenhardt!
Bitte geben Sie sich Mühe und öffnen Sie Ihre Augen. Mr. Lenhardt? Mr.
Lenhardt? Wachen Sie bitte auf! Sie müssen jetzt wach werden…!“
Schwachkopf! Soll man diesem Lenhardt eben einen Eimer kaltes Wasser über den
Kopf gießen, damit ich endlich weiterschlafen kann. Ist ja nicht zum Aushalten!
Ist das jetzt klar? Machen Sie diesen Idioten wach und verpissen Sie sich! Ich
bin müde, verdammt noch mal!
„Ich weiß, dass Sie mich hören können, Mr. Lenhardt! Ich werde Ihnen nun etwas
spritzen, damit Sie wach werden. Gleich werden Sie ein kaltes Kribbeln in den
Armen spüren. Vielleicht ist’s ein bisschen unangenehm, aber es geht schnell
vorbei, Mr. Lenhardt!“
Was geht’s mich an? Spritzt ihm doch meinetwegen Eiswasser in die Venen, wenn
er unbedingt aufwachen soll!
„Gleich sind Sie wieder bei uns…!“
Was soll das denn jetzt? Was, zum Henker, ist das? Ich möchte jetzt eine Decke
haben, hören Sie mich? Eine Decke! Mir ist kalt! Ihr könnt mich doch nicht so
frieren lassen! Ich verlange, dass man mir umgehend…
„Er kommt zu sich, Dr. Brown. Seine Werte sind okay und ich denke, dass er in
ein bis zwei Minuten die Augen öffnen wird.“
„Das will ich auch hoffen, Schwester! Sie wissen ja, was davon abhängt, dass
unser Mr. Lenhardt klar bei Verstand ist.“
„Natürlich, Doktor. Sehen Sie? Er versucht schon, die Augen zu öffnen!“
Verfluchter Mist! Jetzt werde ich aber mächtig sauer! Das Gequatsche über
diesen Lenhardt geht mir auf den Geist! Und mir ist immer noch kalt! Jetzt
reicht’s! Jetzt können Sie mal erleben, wie ich Sie zur Sau machen werde!
„Er sieht ganz schön mürrisch aus, Doktor!“
„Von mir aus kann er aussehen wie ein Zombie, der Appetit auf Menschenfleisch
hat, Schwester, solange er seine Tiefschlafphase beendet. Wir brauchen unseren
Mr. Lenhardt jetzt und zwar hellwach! Hätte nie gedacht, dass unser Schicksal
mal von einem einzigen Menschen abhängen wird!“
„Niemand hätte das gedacht, Doktor! Sehen Sie? Er hat die Augen geöffnet!“
Mr. Lenhardt
„Hallo, Mr. Lenhardt, wie geht es Ihnen? Können Sie mich verstehen, Mr.
Lenhardt? Mein Name ist Dr. Marcus Brown. Sie sind hier im Rice Memorial
Krankenhaus. Wenn Sie mich verstehen können, bewegen Sie bitte die Finger Ihrer
rechten Hand.“
Was für eine unsympathische Visage! Ein Arzt? Ich hasse Ärzte! Und wer,
bitteschön, ist diese Schnepfe neben ihm? Eine Krankenschwester? Na ja,
wenigstens ist die nicht so hässlich wie dieser Doktor!
„Wir wissen, dass Sie uns hören und sehen können, Mr. Lenhardt! Vielleicht
können Sie die Situation nicht richtig einschätzen und verstehen nicht, wieso
Sie hier sind und was mit Ihnen geschehen ist, aber wenn Sie versuchen, mit uns
zu kommunizieren, werden wir Ihnen alles erklären!“
Der spricht mit mir! Der nennt mich ‚Mr. Lenhardt‘! Aber mein Name ist doch…,
mein Name ist…! wieso weiß ich nicht, wie ich heiße? Heiße ich wirklich
‚Lenhardt‘? Hört sich irgendwie deutsch an. Bin ich ein Deutscher? Quatsch!
Oder vielleicht doch?
„Sie sind jetzt wach, Mr. Lenhardt! Wir brauchen Ihre Hilfe. Bitte antworten
Sie jetzt! Ich will, dass Sie jetzt sofort antworten, Mr. Lenhardt!“
„Ist das mein Name? ‚Lenhardt‘? Wieso bin ich hier? Bin ich krank? Hatte ich
einen Unfall? Sagen Sie mir sofort, was passiert ist!“
„Wie schön, Mr. Lenhardt, dass Sie wieder unter uns sind! Wir hatten schon
angefangen, uns ernsthaft Sorgen um Sie zu machen. Schwester Claire wird Sie
gleich waschen und dann können wir uns in aller Ruhe unterhalten. Ist das okay
für Sie? Schwester Claire kümmert sich um Sie!“
„Ich kann mich kaum bewegen, Doktor! Ich fühle meine Beine nicht! Ich will
jetzt sofort wissen, was mit mir passiert ist! Und wieso kann ich mich nicht
erinnern, wer ich bin? Lassen Sie also diese beschissene Wascherei sein und
beantworten Sie meine Fragen, Doktor!“
„Tut mir leid, Mr. Lenhardt, aber das geht noch nicht. Nicht jetzt. Aber ich
verspreche Ihnen, dass Sie auf jede Frage eine Antwort erhalten werden.
Ehrenwort! Als Ihr Arzt muss ich aber darauf bestehen, dass Sie jetzt tun, was
ich verlange! Alles geschieht nur zu Ihrem Besten, Mr. Lenhardt!“
Brian Lenhardt wog vielleicht noch sechzig Kilo. Die Schlafphase, die fast drei
Monate andauerte, hatte aus dem fast zwei Meter großen, einst kräftigen Mann
ein körperliches Wrack gemacht. Sein völlig geschwächter Körper wies überall
Wundmale vom langen Liegen auf und tiefe schwarze Ränder unter seinen
eingefallenen Augenhöhlen ließen ihn tatsächlich wie einen Zombie aussehen.
„Ich fühle mich verdammt schwach, Doktor!“
„Schwester Claire weiß genau, was jetzt zu tun ist! Wenn Sie erst einmal
gewaschen sind, wenn Sie wieder Nahrung aufnehmen können und versuchen, langsam
Ihre Muskeln wieder zu aktivieren, wird es Ihnen sehr schnell besser gehen! Ich
werde Sie jetzt mit Schwester Claire alleine lassen, Mr. Lenhardt. Wir sehen
uns ja in ein paar Stunden wieder, okay?“
„Ich mag dieser Wort ‚Okay‘ nicht, Doktor! Ich glaube auch, dass ich Sie nicht
mag!“
„Ist schon ok… ‚in Ordnung‘, Mr. Lenhardt! Sie sind schlecht gelaunt, weil Sie
nicht wissen, was geschehen ist. Haben Sie noch ein kleines bisschen Geduld und
überlassen Sie sich solange unserer Schwester Claire. Wir sehen uns ja
später…!“
Lenhardt war viel zu schwach, weiter zu widersprechen. Er fügte sich in sein
Schicksal und nahm sich fest vor, bei seinem nächsten Treffen mit dem Doktor
erst Ruhe zu geben, wenn er erfuhr, was geschehen war.
Die Wahrheit
„Er schläft nun wieder, Doktor.“
„Sie haben ihm noch nichts gesagt?“
„Kein Wort, Doktor!“
„Haben Sie ihm das Selodizin gespritzt?“
„Ich habe ihm gesagt, dass es ein Mittel zur Verbesserung der Regeneration sei.
Wahrscheinlich war er einfach zu schwach, sich zu widersetzen.“
„Gut. Wir sollten nun bei ihm sein, wenn er aufwacht.“
„Natürlich, Doktor! Meinen Sie, er wird die Wahrheit verstehen? Wie wird seine
Reaktion sein? Ich bin mir nicht sicher, ob er nicht …“
„Ob er sich umbringen will? Vielleicht will er auch uns umbringen?
Ratlosigkeit, Zorn, Schmerz und auch das Bewusstsein um die Ausmaße der vollen
Wahrheit werden heftiger sein, als jeder Schock, den wir uns vorstellen können,
denn immerhin hatten wir die nötige Zeit, uns mental auf die Wahrheit
einzustellen. Mr. Lenhardt hat diese Zeit nicht. Wie er reagiert, ist absolut
unkalkulierbar, Schwester Claire.“
„Wir werden keine zweite Chance bekommen, nicht wahr, Doktor?“
„Wir haben niemals eine zweite Chance bekommen! Es geht also nicht ums
Überleben – es geht um Mr. Lenhardt, Claire! Sie und ich sind leider
Vergangenheit!“
Das letzte Gespräch
„Mr. Lenhardt? Alles in Ordnung?“
„Es geht so, Doktor. Nett, dass Sie auf das ‚okay‘ verzichtet haben!“
„Kein Problem.“
„Und nun sagen Sie mir die Wahrheit, Doktor?“
„Wenn Sie das wollen, werde ich Ihnen die Wahrheit sagen. Aber, Mr. Lenhardt,
die Wahrheit ist manchmal viel grausamer als die Lüge. Und manchmal, Mr.
Lenhardt, kann es besser sein, mit der Lüge zu sterben, als mit der Wahrheit
leben zu müssen!“
„Gab es einen Autounfall? Ich hatte also eine Familie? Sind alle tot? So war es
doch, oder? Sagen Sie’s schon!“
„Nein, Mr. Lenhardt, so war es nicht. Es gab einen Unfall, aber es handelt sich
um einen Unfall mit einer viel größeren, einer globalen Auswirkung.“
„Global? Es gab einen atomaren Angriff?“
„Lassen Sie mich alles von Anfang an erzählen, Mr. Lenhardt. Ich würde Sie
übrigens gerne Brian nennen, wenn ich darf!“
„‘Brian‘? Das ist mein Vorname?“
„Das ist Ihr Vorname, Brian. Sie werden jetzt etwas hören, das Sie nicht
verstehen werden. Sie werden nicht glauben wollen, was ich Ihnen sage. Und,
Brian, Sie werden die Welt und selbst Gott danach verfluchen. Sind Sie bereit hierzu?
Möchten Sie vorher etwas zur Beruhigung, Brian?“
„Ich möchte jetzt die Wahrheit hören! Sofort!“
„Einverstanden, Brian. Lassen Sie mich damit begonnen, wo Sie sind und warum
Sie hier sind. Sie befinden sich im Rice Memorial Krankenhaus, in dem einmal
216 Menschen, Ärzte, Schwestern, Pfleger und Verwaltungsmitarbeiter beschäftigt
waren. Wir sind hier in Emerson City, einer relativ kleinen, aber einst sehr
hübschen Stadt in Montana.“
„Montana?“
„Montana, ja, Brian. Man hat sie, als Ärzte in Ihrer Heimatstadt Sheffertville
Ihre Erkrankung feststellten, hierher zu uns gebracht. Diesem Umstand verdanken
Sie, dass Sie noch am Leben sind, Brian!“
„Was genau geschah mit mir?“
„Mit Ihnen? Die korrekte Frage muss lauten: Was geschah mit der ganzen Welt? Von
den 216 Mitarbeitern im Krankenhaus sind noch vier Menschen am Leben. Die
Patienten, fast 800 Kinder, Frauen und Männer, sind alle tot. Emerson City ist
tot, Brian. Montana ist tot und der Rest dieser verdammten Welt ist ebenfalls
tot. Man rechnet damit, dass noch ungefähr 10 bis 20 Tausend Menschen weltweit
überlebt haben. Verstehen Sie? Von den knapp 7 Milliarden Menschen, die unsere
Erde bevölkerten, leben noch nicht einmal mehr 20 Tausend Menschen…!“
„Das glaube ich nicht!“
„Natürlich glauben Sie das nicht, Brian. Aber Sie werden es glauben, wenn Sie
wieder ein wenig zu Kräften gekommen sind und sich hier umsehen. Die Welt ist
ausgestorben, mein lieber Freund! Und, um Ihnen mit einer Antwort Ihrer Frage
zuvor zu kommen: Ja, Claire und ich werden das Ende dieser Woche nicht mehr
erleben. Es gibt noch einen Arzt, der im Nebenraum vor sich hinsiecht, aber
spätestens in ein oder zwei Stunden wird er ebenfalls tot sein!“
„Dann lebt immer noch ein Mensch, Doktor…!“
„Genau, Brian, das sind Sie!“
„Ich? Warum? Was ist, um Gottes Namen, passiert?“
„Was passiert ist, wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass es vor einem knappen
halben Jahr anfing. Zuerst breitete sich die Krankheit in der Dritten Welt aus.
Anfangs versuchten die Behörden, die Seuche totzuschweigen. Als dann die ersten
Betroffenen in Frankreich, Australien, hier bei uns und überall sonst in der
Welt starben, gab’s nichts mehr totzuschweigen, Brian. Sie müssen von den
Anfängen der Seuche alles mitbekommen haben, aber wir nehmen an, dass Sie die Geschehnisse
verdrängt haben. Mittlerweile wissen wir auch, dass Ihre Familie…“
„Sie sind tot?“
„Sie hatten eine Frau und zwei Kinder, Brian.“
„Ich erinnere mich nicht…!“
„Das ist gut so, Brian! Ab einem gewissen Maß blockiert die Schmerzempfindung,
wehrt sich das Gehirn mit Bewusstseinsverweigerung, weil die Realität so
unvorstellbar grausam ist, dass sie nicht verarbeitet werden kann.“
„Also geht die Welt unter?“
„So sieht’s wohl aus, Brian! Die Welt ist bereits untergegangen, denn die
Leichenberge zeugen davon, dass wir jede Chance verloren haben, irgendetwas zu
ändern. Es ist einfach zu spät!“
„Wieso lebe ich dann noch, Doktor?“
„Wieso leben außer Ihnen, noch ungefähr fünftausend Menschen relativ
unbeschadet? Wieso sind an diesen fünftausend Menschen keinerlei Spuren der
Seuche festzustellen? Wieso scheinen Sie und weitere fünftausend Menschen immun
zu sein? Wieso, Brian? Die Antwort ist, dass wir es nicht wissen! Die
Wissenschaft hatte keine Chance, etwas gegen die Seuche zu unternehmen. Alle Versuche,
ein Antiserum zu entwickeln, scheiterten kläglich. Wir Mediziner waren
verdammt, dem größten Sterben aller Zeiten hilflos zuzusehen!“
„Es gibt also kein Amerika, kein Europa, es gibt also keine Welt mehr, wie ich
sie kannte?“
„Das ist richtig, Brian. Es gibt nur noch den Tod, zumindest für die meisten
der jetzt noch Lebenden, wie Claire und mich. Wir können nichts dagegen tun.
Der Ablauf ist immer der gleiche, das heißt, sobald der Körper erste Anzeichen,
wie nässenden Ausschlag am ganzen Körper und platzende Kapillargefäße aufweist,
sind es noch maximal drei Tage, bis der Tod eintritt. Bei mir traten die
Symptome vor zwei Tagen auf, Brian…!“
„Gott…!“
„Gott? Nun ja, vielleicht betrifft der Plan Gottes ja nur die etwa fünftausend
Menschen, die scheinbar immun sind? Aber, Brian, welcher Gott lässt mehr als
sieben Milliarden Menschen sterben, um Platz für lächerliche fünftausend
Menschen zu schaffen?“
„Wo ist Schwester Claire?“
„Bei ihr begann das Unheil vor drei Tagen, Brian. Sie liegt ein paar Zimmer
weiter und stirbt!“
„Das alles ist nicht wahr, oder? Alles ist nur ein Spaß, ja? Irgendwo ist eine
versteckte Kamera und beobachtet, wie ich reagiere…!“
„Das wäre schön, Brian, aber so ist’s leider nicht. Sie gehören offenbar zu den
Auserwählten der Welt. Keine Ahnung, wieso, aber so ist’s nun mal. Bin schon
ein wenig neidisch auf Sie, mein Freund…!“
„Und jetzt? Was geschieht jetzt? Was soll ich tun?“
„Wenn Sie diesen Raum verlassen, Brian, finden Sie auf dem Flur rechts, eine
Tür mit der Aufschrift ‚PC-Raum‘. Ich habe Ihnen alles so eingerichtet, dass
Sie dort über jeden PC direkten Kontakt zu einer Stelle haben, die alle
Auserwählten miteinander kommunizieren lässt. Nach meinem Tod wird diese
Kommunikation Ihre einzige Möglichkeit sein, Informationen zu erhalten. In
spätestens zwei Tagen werden die letzten fünfzehntausend Menschen weltweit
sterben, die nicht immun sind. Dann, Brian, gibt es nur noch Sie und weitere
fünftausend Menschen auf dem Planeten.“
„Was ist mit den Tieren, Doktor? Sind sie alle tot?“
„Die Seuche trifft nur den Menschen. In vielen Städten herrschen längst die
Tiere. Es gibt ja reichlich Nahrung für die Tiere!“
„All unsere Technik, all unser Wissen…“
„…ist nichts wert, Brian. Wahrscheinlich haben wir uns irgendwie selbst getötet
und werden es wohl niemals erfahren. Und jetzt, Brian, werde ich zu Schwester
Claire gehen und ihr sagen, dass ich schon immer in sie verknallt war. Was kann
mir schon passieren, hm?“
Das war das letzte Gespräch, das ich von Angesicht zu Angesicht mit einem
menschlichen Wesen führte. Bereits am Abend waren Schwester Claire und Doktor
Brown tot. Ich hätte ihm nicht sagen sollen, dass er mir unsympathisch war. Ich
denke, dass man den letzten Menschen, den man sieht, immer lieben sollte, egal
wie und was er ist und was er tut!
Der PC-Raum
Brian Lenhardt überzeugte sich davon, dass alles, was der Doktor gesagt hatte,
der Wahrheit entsprach.
Soweit es seine Kräfte zuließen, wanderte er langsam durch die Flure und Zimmer
des Krankenhauses. Überall sah er Leichen in den Betten, die offenbar vom
Doktor und Schwester Claire in verschließbaren Kunststofffolien ‚eingelagert‘
wurden. „Was für ein Irrsinn!“ dachte sich Lenhardt, denn ihm war bewusst, dass
es nichts mehr gab, das verseucht oder infiziert werden konnte.
Noch immer schützte ihn sein Verstand, das monströse Ereignis, dieses globale
Massensterben, voll und ganz begreifen zu können. Lenhardt sah zwar, was seine
Augen ihn sehen ließen, aber er konnte unmöglich das Ausmaß der Katastrophe
verstehen.
Auch die Leichen von Doktor Brown und Schwester Claire fand Lenhardt.
Eigentlich hätte Lenhardt wie ein kleines Kind weinen müssen, hätte angesichts
des Untergangs der Welt seinen Verstand verlieren müssen und hätte in seiner
Verzweiflung daran denken müssen, seinem verlorenen Leben ein Ende zu setzen.
Es gab nichts mehr, für das es sich zu leben lohnte. Es gab Milliarden Tote,
keine Hoffnung, keine Chance auf einen Neuanfang. Die Welt hatte aufgehört, zu
existieren!
Brian Lenhardt betrat das Zimmer mit der Aufschrift ‚PC-Raum‘.
Im Zimmer standen vier Schreibtische. Auf jedem der Schreibtische waren ein PC
und Monitor, sowie jeweils eine Tastatur platziert. Jeder der Monitore zeigte
das gleiche Bild.
>Bildkommunikation starten durch Drücken Taste ‚T‘<
Lenhardt setzte sich an einen Arbeitsplatz und drückte das ‚T‘ auf der
Tatstatur.
>Kommunikation wird hergestellt<
Ein paar Sekunden später konnte Lenhardt auf dem Bildschirm lesen:
„Kommunikationszentrale Beta. Alle folgenden Nachrichten werden als Audio- und
visuelle Nachrichten übermittelt. Bitte nennen Sie nun Ihren Namen und Ihren
Standort, damit die Kommunikation vollständig eingerichtet werden kann. Heute
ist Montag, der 23. September 2010. Kommunikationszentrale Standort London.“
Brian Lenhardt sagte seinen Namen in das Mikrofon auf dem Tisch und nannte den
Namen des Krankenhauses, in dem er sich befand.
„Hallo, Mr. Lenhardt. Wir wurden von Dr. Brown informiert, dass Sie sich melden
würden. Leider hören Sie jetzt eine Bandaufzeichnung und eine direkte
Kommunikation ist nicht möglich. Die Tatsache, dass Sie versuchen, zu diesem
Zeitpunkt mit uns zu kommunizieren, beweist, dass Sie leben. Sicher hat Sie Dr.
Brown darüber informiert, dass es außer Ihnen zirka fünftausend weitere
Überlebende gibt, die scheinbar immun gegen die Seuche sind. Diese Information
ist leider nicht korrekt, Mr. Lenhardt. Wenn Sie diese Nachricht abhören
können, sind Sie der letzte Mensch auf diesem Planeten, der nicht an der Seuche
gestorben ist. Jeder einzelne der sogenannten ‚Auserwählten‘ ist innerhalb der
vergangenen zwölf Stunden verstorben. Wir, die Ihnen als letzte Handlung
unseres Lebens, diese Nachricht zukommen ließen, sterben in der Gewissheit,
unser aller Tod selbst verschuldet zu haben. Wie und warum die Menschheit ausgerottet
wurde, können wir nicht beantworten, aber es ist unsere Überzeugung, dass nur
der Mensch dazu fähig war, sich selbst für alle Zeiten von diesem Planeten zu
verdammen. Sie, Mr. Lenhardt, werden, wann auch immer, der letzte Mensch sein,
der Luft atmet, den Himmel sieht und bis zu seinem Tod daran verzweifeln wird,
was geschehen ist. Die Menschheit ist tot – und Sie, wieso auch immer, sind der
letzte Zeuge unserer Zivilisation! Leben Sie lange, Brian Lenhardt!“
>Ende der Kommunikation<
23. September 2010. Keine Überlebenden. Die letzte Hoffnung auf einen
Fortbestand der menschlichen Rasse existierte nicht mehr.
Jetzt brach Lenhardt zusammen. Er weinte bitterlich, schrie, schluchzte, bettelte zu Gott und verfluchte die Menschheit.
Etwa eine Stunde später versuchte Lenhardt, das unmögliche, das unfassbare und
das unvorstellbare Grauen irgendwie zu begreifen. Sein Verstand quälte sich, er
zermarterte sich das Hirn, suchte nach Gründen und versuchte gar, sich an seine
Familie zu erinnern – aber letztendlich produzierte sein Verstand nur die
Aneinanderreihung von Millionen Fragmenten ohne jede Ordnung und ohne jede
Struktur.
„Die letzte Übertragung erfolgte also am 23. September 2010. Aber welches Datum
haben wir jetzt? Wie viel Zeit ist seitdem vergangen? Welcher Tag ist Heute?
WELCHER TAG IST HEUTE…?“
Brian Lenhardt hörte von irgendwo her Scheiben zerbrechen. Glas zersprang und
fiel auf den Boden. Noch bevor Hoffnung auf einen Überlebenden aufkommen
konnte, hörte Lenhardt das wütende Kläffen von Hunden.
„Nur Menschen sind betroffen, Brian. Tiere herrschen von nun an!“ hatte Doktor
Brown gesagt.
Schnell ging Lenhardt zur Tür, um sie zu verschließen. Von Weitem hörte er eine
Hundemeute, die offenbar auf Aas aus war. Lenhardt drehte den Schlüssel im Schloss
um und wollte zurück zum Tisch gehen, wollte ein letztes Mal die Nachricht
lesen, die er erhalten hatte, als er in einen Spiegel an der Wand sah.
„Das bist du, Brian!“ sagte er. „Du bist der letzte Mensch auf Erden und du
wirst niemals erfahren, wieso!“
Aber Brian Lenhardt sah nicht nur sein eigenes Ich. Das, was er noch sah, war
etwas Anderes, etwas Endgültiges und etwas Absolutes. Brian Lenhardt sah in
seinem Spiegelbild das wirkliche Ende der Welt. Er sah in seinem Spiegelbild
das Sterben des letzten Menschen. Er sah die aufplatzenden Kapillargefäße in
seinem Gesicht und in seinen Augen. Er sah seine Haut, die anfing, zu nässen,
als würde Körperflüssigkeit jede Pore nutzen, um auszutreten. Er sah sich
sterben, denn er wusste, dass ihm nur wenige Tage, vielleicht auch nur Stunden
blieben.
Ab dem 24. September 2010 gehörte der Mensch der Vergangenheit an.
Vielleicht würde die Evolution irgendwann, in ein- oder zweihunderttausend
Jahren wieder eine Spezies hervorbringen, die dem Menschen ähnelte. Jetzt aber
regierten andere Wesen diese Welt, in der der Mensch seine unendlichen
Möglichkeiten niemals verstanden hatte.
Brian Lenhardt war der letzte Mensch – und die Tiere des Planeten hatten ihren
ärgsten Feind verloren.
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Klaus-D. Heid).
Der Beitrag wurde von Klaus-D. Heid auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.11.2009.
- Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
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Sex für Motorradfahrer
von Klaus-D. Heid
Warum kann 69 bei 200 gefährlich sein? Was ist der Unterschied zwischen Kawasaki und Kamasutra? Wie kommt man am besten auf 18000 Touren? Was hat ein überfälliger Orgasmus mit kostenlosen Ersatzteilen für eine BMW zu tun? Die Welt der heißen Öfen steckt voller Fragen, auf die Ihnen Klaus-D. Heid und Cartoonistin Regina Vetter amüsant erotische Antworten geben.
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