Maria Thermann

Es wird langsam Zeit

 

      „Sarah Hall, Alter 15 Jahre. Todesursache: Erhängen. Selbstmord, 28. Juli 1690.“ John Cook setze seinen Namen über das Wort Gerichtsmediziner und schloss die Akte. Er steckte seine Gänsefeder zurück in das bekleckste Tintenfass und schob seinen Schemel zurück. „Schon der dritte Fall diesen Monat“ bemerkte er kopfschüttelnd. „Und alle noch so jung, was für eine Verschwendung!“

 

        „Ja, seit wir die eingewanderten Hugenotten aufgenommen haben, geht es den hiesigen Webern schlecht“ sagte der Wirt Joseph Moore mit einem Blick auf das leere Glas des Pfarrers. „Dann kommen noch die billigen Einfuhren aus den Kolonien dazu. Manch einer vergisst, was er dem Herrn schuldet und stellt sein leibliches Wohl über das der Seele.“ Der Pfarrer nickte zustimmend und Joseph füllte das Glas schleunigst bis zum Rand, bevor der Pfarrer es merkte.

 

        „Bei der Familie Hall gibt es noch vier andere Kinder. Weiß Gott, wo die armen Leute das Geld finden, um die kleinen Mäuler zu füttern.“ John Cook steckte die Akte in seine schwarze Ledertasche und wandte sich zum Gehen.

 

        „Ich bin allerdings bei der kleinen Sarah etwas verwundert“ warf der Wirt ein. „Man sagte, sie habe eine gute Anstellung in der Küche vom Seething Manor gefunden. Am Sonntag kam sie noch in die Kirche. Ganz hinten stand sie und flüsterte mit dem jungen John Inman, Sie wissen schon, dem Sohn vom alten John Inman in der Parmentergate.“ Joseph sah den Gerichtsmediziner erwartungsvoll an. „Zum Abschluss noch ein Gläschen vom besten Ale, Sir?“

 

        „Nein Danke, Joseph, heute nicht. Muss noch zum Hafen gehen, Kapitän Bradley hat einen Unfall auf der Good Intent gemeldet. Einer seiner Leute scheint sich das Bein gebrochen zu haben.“ John Cook fuhr sich mit den Fingern durch das blonde Haar, setze seinen schwarzen Hut auf den Kopf und nahm seinen Stock. „Sagen Sie mal Joseph, war die kleine Sarah nicht auch mit dem jungen Rob Palmer befreundet, den wir erst letzte Woche beerdigt haben?“

 

        „Auch den kleinen George Mackley hat sie gekannt, von Kindheit an. Ja, der ist schon drei Wochen im Grab und seine Mutter heult sich noch immer die Augen aus.“ Joseph wischte nachdenklich mit einem Lappen über den Tisch, während die anwesenden Zeugen – oder Stammgäste, wie Joseph sie im Stillen nannte – sich langsam aus dem stickigen Hinterzimmer des Wounded Hart Inn in die kühle Schankstube verzogen.

 

        „Die drei armen Kinder waren dicke Freunde. Eigentlich waren’s ja fünf Gören, die bei St. Peter immer die Parmentergasse unsicher gemacht haben. Jetzt ist der John Inman der letzte der Bande, der noch durch die Gasse streift!“ Joseph rollte den Lappen zusammen und warf ihn in einen Kübel unter dem Fenster. John Cook nickte ihm zu und wandte sich ohne ein weiteres Wort ab. Joseph sah dem jungen Gerichtsmediziner nach, als er die Schankstube durchquerte und durch die bleiverglaste Eichentür in die Gluthitze der Stadt verschwand.

 

        „Ehrgeizig, ohne Frage. Aber nicht gefühllos, nein das ist er nicht“ murmelte Joseph und kippte die Reste aus den Gläsern in einen Krug. Er stellte den nun fast vollen Krug neben einen Korb, in dem noch ein halber Laib Brot lag, nahm einen Rest Käse vom Teller des Magistrats Absolon, der sich jetzt in der Schankstube mit der rothaarigen Bedienung Charlotte Perfect vergnügte, und legte den Käse zu dem Brot in den Korb. Mit einer schwungvollen Bewegung zog er ein nicht mehr ganz sauberes Taschentuch aus seiner Hosentasche und breitete es über dem Korb aus. Witwe Mackley würde heute Abend mal nicht allein sitzen. Ein bisschen Abwechslung und eine Unterbrechung vom Weinen würden ihr gut tun. Na ja, so ein Stück Brot und Käse mit einem Schluck Ale herunterzuspülen würde ihr auch nicht schaden. Joseph seufzte und eilte schwitzend in den Trubel der vollen Schankstube. Es wurde langsam Zeit, dass es Abend wurde!

 

Es war wirklich ein heißer Tag. Wer konnte es der Versammlung verübeln, wenn der Durst das Schicksal der kleinen Sarah Hall in Vergessenheit geraten ließ und die Zeugen statt dessen lieber über das neue Fass Ale redeten, das Magistrat Absolon gestiftet hatte. John Cook rieb sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und machte sich auf den Weg zur Good Intent.

 

Der Hafen von King’s Lynn war schon immer Johns liebster Ort in der ganzen Stadt gewesen. Als Junge hatte er davon geträumt, Seemann zu werden und in einem der großen Segelschiffe die Welt zu erkunden. Er sah auf sein lahmes Bein herunter und lächelte. Wenn er den Reitunfall nicht gehabt hätte, dann wäre er Seemann geworden…und was für eine Verschwendung wäre das erst gewesen!

 

John überquerte die staubige Strasse und dachte an die Zwillinge, die seine erste Aufgabe als Arzt gewesen waren. Die Hebamme war überfordert gewesen und hatte ihn hinzu gerufen. Neun Stunden hatte die Geburt gedauert und die Mutter wäre fast verblutet. Aber er hatte sie alle am Leben erhalten. Wie viele Geburten er seit dem entbunden hatte, wusste er nicht. Aber jedes tote Kind brannte in seinem Gedächtnis. Sarah Halls Eltern waren zu arm, um ihrer Tochter ein Begräbnis zu bezahlen. Sarah Halls Eltern waren vermutlich zu arm, um ihren Tod zu betrauern. Ein Kind weniger im Haus, das vor Hunger nachts nicht schlafen konnte.

 

Er ging an den mittelalterlichen Lagerhäusern der Hanse vorbei und steuerte auf den Hafen zu. Als er beim Zollhaus angekommen war, wehte ihm eine kühle Brise entgegen. Er saugte die kühle Luft gierig ein. Seetang, der Geruch verschwitzter Seeleute, Tabakrauch und Schafsdung vermengten sich und bereiteten ein unwiderstehliches, wenn auch etwas überwältigendes Aroma. Der Trubel auf dem Kai zwang John, sich mit den Ellenbogen einen Weg zu bahnen.  Das Geschwätz der Händler und der Schiffseigentümer, das Blöken der Schafe und Schnattern der eingepferchten Gänse, die Befehle der grimmigen Kapitäne und die Antwortrufe ihrer Leute war ohrenbetäubend. Johns Augen schweiften über den Trubel hinweg und suchten nach dem Schiff Good Intent. Er entdeckte es zwischen zwei Hering Drifters, den in Norfolk üblichen Fischerbooten. John musste warten, bis eine Herde Schafe entladen wurde, bevor er an Bord gehen konnte.

 

Es war mühselig mit seinem lahmen Bein und dem Gehstock auf den Planken zu laufen. John brauchte jedoch nicht lange, um Kapitän Bradley zu finden. Der brüllte gerade einen Befehl und ein Schiffsjunge beeilte sich, das Deck vom Schafsdung zu befreien. John beobachtete, wie die roten, aufgesprungenen Hände des Jungen eine Bürste eifrig über die Planken scheuerten. Die dünnen Arme des Jungen, der vielleicht nicht älter als 14 oder 15 Jahre alt war, stachen aus seinem verlumpten Hemd hervor. Seine graue Hose war mit einigen bunten Flicken besetzt. Er sah flüchtig auf und John blickte in ein sommersprossiges Gesicht mit intelligenten, blauen Augen und einem strubbeligen, rotblonden Haarschopf. Auf der Stirn des Jungen war eine frische Narbe. Sein linkes Auge war blutunterlaufen und geschwollen. Als er Johns Entsetzen wahrnahm, zwinkerte der Schiffsjunge John mit seinem guten Auge zu und begann, noch eifriger zu schrubben, wobei er eine Melodie vor sich hin pfiff.

 

Johns Finger umklammerten seine Arzttasche etwas fester und er steuerte auf Kapitän Bradley zu. Er wich einem Haufen Schafsdung aus, stolperte fast über den Wassereimer des Jungen und konnte sich gerade noch vor einem peinlichen Sturz retten, als Bradley ihn anbrüllte, was er auf dem Schiff zu suchen hätte. John gestand sich in diesem Augenblick, dass er doch die richtige Berufswahl getroffen hatte. Wahrscheinlich wäre er ohnehin seekrank geworden!

 

        „Sie haben einen Unfall beim Hafenmeister gemeldet…ein gebrochenes Bein?“ John sah dem Kapitän fest in die Augen. Mit einem bisschen Brüllen lies er sich noch lange nicht einschüchtern.

 

        „Ach ja, Sie hatte ich bei dem Ärger mit den Schafen fast vergessen. Der Kranke ist unten in der Kajüte. Ist vom Mast gefallen. Wir haben ihn auf einer Bahre nach unten getragen.“ Bradley deutete auf eine Luke.

 

Am Ende einer schmalen Treppe befand sich ein dunkler Gang, von dem mehrere Türen in diverse Räume führten. John öffnete die erste und wurde von dem dortigen Schiffskoch zum Ende des Ganges gewiesen.

 

        „In die Kapitäns Kajüte? Sind Sie sicher?“ fragte John erstaunt.

 

        „Ja doch, Kap’tn Bradley hat befohlen, wir sollen es dem armen Thomas so bequem wie möglich machen“ sagte der Koch und warf eine geschälte Wurzel in einen Kübel Wasser, das es nur so spritzte. „Brüllt wie ein Löwe, aber er hat ein Herz wie eine Nonne!“ kicherte der Koch, nachdem er sich versichert hatte, dass Bradley nicht mit dem Arzt unten im Gang stand.

 

In der Kapitäns Kajüte flackerten zwei Kerzen in Ruß verschmutzten Laternen. Auf einem Tisch lagen ein Sextant und eine große Gänsefeder, mit der Bradley die letzte Eintragung in das Logbuch gemacht hatte.

 

„Thomas Blythe kletterte auf Befehl auf den Mast um eine kleine Reparatur am Segel vorzunehmen. Rutschte an und fiel von etwa 6 Meter Höhe auf das Deck. Brach sich das Bein. Gott sei ihm gnädig. 28. Juli 1690“ las John mit etwas Mühe, denn die Handschrift des Kapitäns war sehr schnörkelig.

 

Es roch nach Rum. Bradley hatte befohlen, dem Unfallopfer etwas zur Schmerzstillung zu geben.  In der Koje lag Thomas Blythe, Steuermann und rechte Hand des Kapitäns. Jemand hatte dem Kranken dort einen notdürftigen Verband angelegt, wo der Knochen aus dem Bein hervorstand und das Blut heraus quoll.

 

        „Muss das Bein weg?“ stöhnte Thomas. Die Angst stand dem Mann im blassen Gesicht.

 

        „Nein, ich glaube nicht. Ich kann es richten, aber es wird lange Zeit dauern, bis die Knochen geheilt sind. Zur See fahren werden Sie erstmal nicht“ beruhigte John den Mann.

 

        „Werde ich ein Krüp…ich meine, werde ich nachher wieder laufen können?“ sagte Thomas mit einem Blick auf Johns lahmes Bein.

 

        „Das kann ich noch nicht versprechen, aber ich werde mein Bestes versuchen.“ John lächelte und reichte Thomas einen Becher voll Rum. „Hier, jetzt wird’s ein bisschen wehtun!“

 

Er hatte den Knochen gerichtet, hatte einen frischen Verband angelegt und das Bein mit einer Schiene aus Haselnusszweigen geschützt, dann mit Lehm vom Flussbett der Great Ouse versehen. Wenn der Lehm getrocknet war, würde er einen wundervollen Halt für die zusammenwachsenden Knochen bieten. John trocknete sich gerade die Hände, als der Schiffsjunge die Tür einen Spalt öffnete und schüchtern in die Kajüte äugte.

 

        „Wie steht’s mit Thomas? Ist er…?“ fragte er mit einem Blick auf den Kranken, der regungslos in der Koje lag.

 

        „Komm nur herein. Thomas schläft seinen Rausch aus! Eine Flasche Rum und einen Eimer Lehm später hat er nun endlich Gelegenheit, sich einmal auszuruhen. Es ist ganz schön anstrengend mein Patient zu sein!“

 

        „Was wird jetzt aus ihm werden?“ fragte der Schiffsjunge mit großen Augen.

 

        „Genesen wird er und dann wird er wohl wieder zur See fahren. Er sagte mir, was anderes kenne er nicht. Wie ist denn dein Name?“

 

        „Giles Gimingham zu Ihren Diensten!“ Der Junge salutierte mit einem Grinsen. Die Erleichterung machte sich über sein sommersprossiges Gesicht breit.

 

        „Gimingham? Gibt’s da nicht eine Witwe Gimingham beim Trumpet Inn im Stadtteil St. Stephen?“

 

        „Die Frau meines Onkels. Haben Sie meinen Onkel James gekannt? Er war der Wirt.“

 

        „Ich glaube ja. Der Wirt sagst du? Die Tante führt das Geschäft allein weiter?“ John Cook putzte seine medizinischen Instrumente und musterte den Jungen. „Wie hast du denn die Narbe und das Veilchen bekommen?“

 

        Giles scharrte mit dem großen Zeh auf dem Boden und zog eine Grimasse. „Eine kleine Meinungsverschiedenheit unter Männern kann schon mal passieren. Schwamm drüber.“

 

        „Lass mich das mal sehen.“ John zog den Jungen näher ans Licht. „Worum ging’s denn da bei dem Streit? Dich hat jemand ganz schön zugerichtet, mein Junge.“

 

        „Ach, dass ist doch gar nichts! Sie sollten erstmal das Gesicht von Henry Tailor sehen!“

 

        „Noch ein Patient! Ich muss euch ja bald Mengenrabatt einräumen! Nun mal raus mit der Sprache, wie kam’s zu der Prügelei? Ging’s ums Essen? Gibt der Kapitän euch genug Verpflegung?“

 

        „Ach der Bradley ist doch ein toller Kerl! Nein, nein. Uns geht’s beim Kap’tn doch sehr gut.“ Giles hockte sich auf einem Schemel vor John nieder und ließ sich untersuchen.

 

        „Also jetzt spann mich nicht länger auf die Folter, raus mit der Sprache. Wirst du hier schlecht behandelt von den anderen Matrosen, mein Junge?“ John besah sich die frische Narbe und staunte, dass bereits jemand die Wunde fachgerecht gereinigt hatte.

 

        „Der Henry hat etwas gesagt, was er später bereuen musste!“ Platzte Giles heraus. „Große Klappe hat er, aber ein Feigling ist er doch!“ Giles hieb mit der Faust auf den Tisch. „Dem hab ich’s beigebracht keine Lügengeschichten mehr über Sarah zu verbreiten!“

 

        „Ist Sarah eine Freundin von dir?“ John lächelte, als Giles’ Ohren plötzlich im Kerzenlicht rot aufglühten.

 

        „Meine Cousine. Meine Tante hat Richard Hall geheiratet. Bitter bereut wird sie’s haben! Einen wohlhabenden Händler hätte sie heiraten können, aber der Weber Richard hatte es ihr halt angetan.“

 

        „Die kleine Sarah Hall ist deine Cousine? Ach, das tut mir aber…sieh mal, den Webern geht es sehr schlecht. Es gibt viel Not unter den armen Leuten in der Stadt.“ John seufzte. Um Zeit zu gewinnen, legte er einen kühlen Wickel auf Giles’ blutunterlaufenes Auge. „Bist du mit der Kleinen gut befreundet?“

 

        „Ach, wir waren doch schon als kleine Kinder immer zusammen. Sie ist mehr wie ne Schwester. Wenn’s bei der Tante Hall an Geld mangelte, dann ist die Sarah immer mal bei uns durchgefüttert worden. Bei uns wird kein Familienmitglied sitzen gelassen, egal ob’s nun die armen Weber sind oder die fette Tante Gimingham in ihrer Kneipe!“ Giles sah auf und bemerkte die Trauer in Johns blauen Augen. „Ist was passiert?“ fragte er leise.

 

        „Giles, heute morgen fand man Sarah tot im Hause ihrer Eltern. Es tut mir so leid.“ John legte seine Hand auf Giles’ Schulter. Der Junge schien wie erstarrt.

 

        „Tod?“ wiederholte Giles nach eine Weile. „Aber wie denn…“ Seine Stimme versagte und eine Träne stahl sich langsam aus seinem guten Auge und lief die Wange herab.

 

        „Ach Giles, man fand sie erhängt. Selbstmord“ sagte John betreten.

 

        „NIEMALS! Nein, dass hätte sie nie getan!“ Giles wischte die Träne wütend mit dem Handrücken weg und warf die Kompresse auf den Boden.

 

 

        „Sie haben ja nichts zu Essen und da muss sie wohl die Verzweiflung gepackt haben.“ John hob die Kompresse auf und wollte den kalten Wickel wieder auf Giles’ geschwollenes Auge legen, aber der Junge wies ihn ungeduldig ab.

 

        „Unsinn! Ich sagte Ihnen, meine Familie kümmert sich um alle, da kommt keiner vor Hunger um. Irgendwie schaffen wir es immer, dass alle mit vollem Bauch zu Bett gehen. Niemals, sage ich! Nie und nimmer hat die Sarah sich was angetan!“

 

        „Aber Giles, ich habe doch alles untersucht, den Strick um ihren Hals…den Balken im Dachstuhl…es tut mir leid, so zu reden, aber wenn die Sarah nicht Selbstmord begangen hat, wer um alles in der Welt sollte ihr denn ein Leid zufügen wollen?“

 

        „Das werde ich herausfinden! Mit meinem Freund John Inman werd ich sprechen und George Mackley wird mithelfen und Rob Palmer wird sich umhören! Wir finden den Schuldigen, keine Sorge!“ Giles prang auf und hieb mit seiner mageren Faust auf den Tisch. „Sie werden es erleben!“

 

        „Oh Giles, mein lieber Junge, wie soll ich es dir nur sagen…deine Freunde…alle bis auf den John Inman…wir haben sie in den letzten Wochen begraben!“ John Cook legte seinen Arm um Giles’ Schultern.

 

        „Alle…tot?“ Giles starrte den Gerichtsmediziner an und sank auf den Schemel zurück.

 

        „Viel ist in der Stadt geschehen, seit die Good Intent zuletzt im Hafen war! Es gibt viel zu viel Armut. Die Weber wissen nicht ein noch aus.“ John zögerte, mehr zu sagen. Er war sich nicht sicher, wie viel er dem Jungen zumuten konnte.

 

Im schwachen Licht der Kerzen sah John wie der Junge versuchte, diese furchtbare Nachricht zu erfassen. Die Stille in der Kajüte wurde nur vom Schnarchen des Kranken unterbrochen.

 

        „Ich glaube es einfach nicht“ stieß Giles plötzlich hervor. Er stand wieder auf und begann, in der Kajüte auf und ab zu laufen. Giles raufte sich die Haare, fegte das Logbuch vom Tisch und gab dem Papierkorb einen so heftigen Tritt, dass er durch die Luft flog und vor Thomas Blythes Koje landete.

 

Giles bückte sich, um den Korb aufzuheben und an seinen Platz beim Tisch des Kap’tns wieder aufzustellen. Als er sich aufrichten wollte, stieß er sich an der Laterne über Thomas’ Koje so heftig den Kopf, dass es nur so krachte und die Laterne fast vom Haken gefallen wäre. Giles rieb sich den Hinterkopf und John wollte gerade sagen, er solle mehr Acht auf seine Gesundheit geben, als Giles plötzlich laut aufschrie.

 

       

       

„Hah! Sie haben den Tod untersucht, haben Sie gesagt? Sarah mit einem Strick im Dachstuhl? Völlig ausgeschlossen!“ Giles sah den Gerichtsmediziner herausfordernd an. „Nie und nimmer wäre sie auf der schmalen Hühnerleiter in den Dachstuhl geklettert. Sie hatte panische Angst – sie bekam schon Höhenangst, wenn sie auf der Brücke stand und uns beim Angeln zugeschaut hat!“

 

        „Aber weißt du, was du da sagst? Vielleicht hat sie in der Verzweiflung ihre Höhenangst überwunden? Wenn die Kleine sich nicht selbst den Strick um den Hals gelegt hat –

 

„…dann waren es andere Hände und ich werde den Mörder finden! Hängen soll er!“ Giles rannte aus der Kajüte, stürzte die Treppe hinauf und an Bradley vorbei. Der Junge verschwand im Gewühl des Hafens, bevor John Cook seine Worte so richtig begriffen hatte und Kap’tn Bradley wieder brüllen konnte.

 

Ende von Teil Eins / Fortsetzung folgt…

Meine erste deutschsprachige Geschichte in fast 25 Jahren! Puh, anstrengend ist es mit den vielen Umlauten...hier ist also eine vierteilige Abenteuergeschichte. Die Namen der Leute sind alle wirkliche Namen. Als ich die Zusammenstellung der alten Gerichtsmedizinischen Reporte von Norfolk las, wurde ich sehr traurig, da so viele Kinder sich erhängten oder ertränkten, um der Not zu entkommen. Ich beschloß, ihre kurzen Leben zu ehren, in dem ich sie in einer etwas längeren Abentuergeschichte auftreten ließ. Ich hoffe, es wird Ecuh gefallen!Maria Thermann, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.11.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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