Paul Rehle

Delilah

Hier sitze ich nun und weiß nicht weiter. Vor mir nur ein Name, in mir ein Meer aus Erinnerungen und Gefühlen, tobend, schwellend, stürmend. Wer bin ich, mir anzumaßen ihren Namen zu denken und dabei zu trauern? Ich war immer schwach im Gegensatz zu ihr und jetzt bin ich es, der die Geschichte schreibt.
Doch womit soll ich beginnen? Wie kann ich dieses tosende Meer bändigen und einen klaren Gedanken fassen? Ich fühle mich machtlos und erschöpft. Ich bin schwach. Ich lasse zu, dass meine Gedanken wandern und fliegen. Wie oft? Sie fragten, was passieren würde, wenn sie nicht mehr da wären, ob ich weinen würde. Ob ich ihrer gedenken würde. Ob die ganze Welt Trauer tragen würde. Ich wusste nie, was sie hören wollten. „Ja, die Welt wird in sich zusammenfallen. Du bist was Wichtiges, was Besonderes. Du bist einzigartig und nicht einer unter Milliarden!“ Das war es vermutlich. Das war, was sie hören wollten, doch ich sagte es nie. Ich war nie wie einer von ihnen. Doch sie. Ich fragte mich immer, was ich für eine Rolle für sie spielen würde. Sie war mein Leben und ist es immer noch. Und so sitze ich nun hier. Ich glaube ich weiß nun, wie ich beginnen werde. So wie das Leben, beginne ich mit der Geburt.

Ich war da, als sie geboren wurde. Ich erinnere mich an das Licht, an die Wärme. Ich erinnere mich an ihren ersten Schrei, an ihren ersten Atemzug. Ich erinnere mich wie klein sie war und wie zart sie wirkte. Doch schon damals wusste ich, dass sie anders war. Das sie stark war. Anders als die Menschen, die nicht wussten wer sie sind, war dieser kleine Mensch der dort lag, in den Händen ihrer Mutter, etwas Besonderes, etwas Einzigartiges. Sie war etwas, wofür es sich lohnen würde sein Leben zu geben. Das wusste ich. Das wusste ihre Mutter. Das wussten alle im Raum, als sie dort standen und ihr ins Gesicht sahen. Ich war dort und ich erinnere mich an jede Sekunde. Ich hörte ihr leises Atmen Ich spürte die Wärme, die ihr Körper ausstrahlte, und roch den Geruch des Lebens. Ich schmeckte das Wunder und sah dort einen Engel liegen, der vom Himmel gefallen war. Und ich dachte, etwas so wunderschönes, wundervolles, ist bestimmt zu fallen. Immer und immer wieder. Ich sprach nie über ihre Geburt, denn ich hielt es für Zeitverschwendung. Um zu verstehen, musste man sie mit allen Sinnen wahrgenommen haben. Niemand der dort war, sprach jemals über diese Geburt, denn alle wussten, dass sie etwas Wundersamen, etwas Unglaublichem beigewohnt haben.

Ich erinnere mich, dass damals alles noch schön war. Sie wuchs auf und lernte schnell zu laufen und zu sprechen. Niemals verlor sie auch nur eine Träne, selbst wenn sie fiel. Sie stand auf und lachte und ging weiter. Immerzu sah man sie lächeln und immer wenn sie das tat, leuchteten ihre Augen und man wusste, dass es einfach nichts Reineres gab. Ihre Mutter war glücklich aber ihr Vater verstand das Glück nicht, das ihn durchfloss, ihn umgab. Heute denke ich, dass es das Licht war. Es war das Licht, dass die Dunkelheit vertrieb, die hintersten Ecken unserer Räume beleuchtete und zeigte, was dort verloren und vergessen geglaubt war. Ihrer Mutters Raum war gefüllt mit Liebe und Verständnis. Ihr Vaters Raum war gefüllt mit Hass und Wut. Heute denke ich, dass er Angst hatte. Angst vor dem, was er nun sehen konnte und die Angst machte ihn schwach. Wenn Menschen Angst haben, versuchen sie ihr zu entfliehen, sie zu vertreiben. Ihm gelang es gut. Doch er wusste nicht, dass er mit jedem weiteren Schluck die Tür zu seinem inneren Raum ein wenig weiter öffnete, bis schließlich die Tür aufsprang und raus ließ, was vergessen worden war. Ihre Mutter sagte nichts. Heute denke ich, dass auch sie Angst hatte. Nicht Angst um sich, sondern Angst um das Leben und die Unschuld ihrer Tochter. Als er eines Nachts nach Hause kam und anfing auf ihre Mutter mit einer Bierflasche einzuschlagen, verstand sie mit einem Mal, was sie tun musste. Sie konnte den Gedanken noch nicht richtig fassen, als er ihr mit der Flasche die Nase zerschmetterte. Es wurde deutlicher als mit dem letzten Schlag auf ihre Stirn die Flasche zerbrach und ihr das linke Augenlicht nahm. Doch erst als er sich umdrehte und auf ihre Tochter zuging, sah sie es genau vor sich. Angst verwandelte sich in Zorn, Zorn verwandelte sich in Kraft und sie griff nach dem Kerzenständer und hörte nicht mehr auf zu schlagen bis sie nur noch auf den Boden schlug. Sie schrie, sie schrie und alles brannte. Doch zwischen den Schreien und dem Brennen und dem Geräusch von berstenden Knochen glaubte sie weit weg ein Lachen auszumachen. In der Dunkelheit ihrer Gedanken erschien sie und lächelte und auf einmal war da wieder Licht, wieder Hoffnung. Später sagte sie mir, dass sie in diesem Moment wusste, dass alles gut werden wird. Dass immer alles gut gehen wird, solange sie lacht und niemand ihr Lachen bricht. Ich wusste, dass sie Recht hatte, doch bis jetzt war mir nie klar wie wichtig es war.

Ich starre auf dieses Stück Papier und ich starre in die Unendlichkeit. Ich verstehe nicht, wie etwas Simples, etwas Schlichtes ein Leben vollkommen aus der Bahn werfen kann. Es war nur ein Satz und ein Name und alles was ich bis jetzt getan habe war zu starren. Keine Träne, kein Zittern. Nur ungläubiges Starren. Ich sehe nach draußen und kann erkennen, wie alles noch steht, wie alles noch geht, wie sich alles bewegt und seinen Gang geht. Es geht weiter. Ich werde es ändern und ich werde alles wieder gut machen. Ich verspreche es dir mein Licht. Alles wird wieder gut. Ich reiße mich los und schreibe weiter.

Ihre Mutter wurde fortgebracht. Ich war dabei, als sie zu ihr nach Hause kamen. Sie saß da, stundenlang, und sagte nichts. Sie regte keinen Muskel und blickte stumm auf die Wiege ihrer Tochter. Sie schlief, als es an der Tür klopfte. Sie schlief immer noch, als sich ihre Mutter leise verabschiedete. „Lebe mein Licht. Lebe und verlerne niemals zu lachen. Ich werde immer für dich da sein. Ich werde dich immer lieben. Leb wohl.“ Sie küsste sie liebevoll auf die Stirn und als sie ihre Tochter lächeln sah, kam die erste Träne. Doch noch bevor diese den Boden berührte, drehte sie sich um und verschwand für immer aus ihrem Leben.
Ich habe mich häufig im Nachhinein gefragt, warum sie nicht wiedergekommen ist. Warum sie nicht dabei sein wollte, wenn ihre Tochter aufwächst. Ich dachte häufig, dass dann vielleicht alles anders geworden wäre. Vielleicht hätten wir uns nie kennen gelernt. Vielleicht wäre es niemals so weit gekommen. Es gab eine Zeit, in der ich sie gehasst habe. Dafür, dass sie einfach weggelaufen ist. Geflohen vor ihrer Verantwortung, geflohen vor ihrem Schmerz. Doch jetzt verstehe ich. Sie ist nicht weggelaufen. Sie hat sich ihrer Verantwortung gestellt und den gesamten Schmerz über sich ergehen lassen. Nicht nur ihren eigenen, sondern auch den ihrer Tochter. Sie ist nicht weggelaufen. Sie wollte nur ihrer Tochter die grausamen Erinnerungen ersparen. Gar keine Frage, sie wollte dabei sein, wie ihre Tochter aufwächst, doch sie gab ihr Leben, um dieses Lächeln, dieses einzigartige Lächeln zu bewahren. und für diese Entscheidung werde ich sie ewig lieben. Fast genauso sehr, wie ihre Tochter.

An ihrem zweiten Geburtstag wurde sie in ein Heim gebracht. Schon nach kurzer Zeit liebten sie alle in ihrem neuen zu Hause und sie wurde warmherzig in die Familie aufgenommen. Sie erlebte einen wunderschönen Geburtstag und wundervolle Tage. Es dauerte auch nicht lange bis von ihr gesprochen wurde, als Kind mit dem göttlichen Lächeln, das niemals zu brechen schien. Doch wo Licht ist, wird es auch immer Schatten geben und das Licht, das sie warf, war so groß, dass es große Mengen an Neid und Hass erweckte. Manche der Kinder fühlten sich unbeachtet und ihrer Daseinsberechtigung beraubt und schworen sich, das Lächeln doch zu brechen. Sie zogen an ihren Haaren, schubsten und traten sie, stahlen ihre Sachen und rissen Witze über sie, doch keiner ihrer Versuche fruchtete und nicht eine Träne rann ihr Gesicht herab. Stattdessen lachte sie und nicht ein Mal strafte sie die neidvollen Kinder mit Wut oder Hass. Getrieben vom Frust beschloss eines der Kinder sich durch Gewalt seinen Platz in der Mitte aller zu sichern und ihr das Lächeln herauszuschneiden, wenn sie es schon nicht brechen konnten. Das Kind schlich sich in ihr Zimmer und beugte sich über ihr Bett und gerade als es den ersten Schnitt setzen wollte, ging das Licht an und eine der Betreuerinnen stürzte sich auf es, um dem Kind das Messer zu entreißen. Vom Schreck und von Angst getrieben, drang die Klinge durch das Herz der Betreuerinnen und beendete sofort ihr Leben. Aller Hass verflog und Panik regierte nun das Herz des Kindes, als ein Schrei das gesamte Heim weckte. Die Panik übermannte das arme Kind und mit dem Messer riss es sich das eigene Leben aus dem noch jungen Leib. Ich sah wie sie erwachte und sich aufrichtete. Noch als alles um sie in einem einzigen Entsetzensschrei erhallte, ging sie auf die beiden leblosen Körper zu und strich mit ihrer Hand über ihre Gesichter und alles was blieb waren ruhige, selige Mienen. Noch während alle um sie herum in Tränen ertranken, lächelte sie hingebungsvoll und flüsterte: „Ruht nun und schlaft. Wenn ihr erwacht, sollen aller Hass und alle Furcht euch fremd sein und kein Leid wird euch je erreichen.“ Mit einem Mal wurde es ruhig im Zimmer und alle Gesichter blickten sie an und dieses kleine zweijährige Mädchen blickte hoch und offenbarte ihr Lächeln und alle von Trauer und Schrecken zerfetzten Gesichter um sie herum, erhellten sich und sie sprach: „Sie ruhen und schlafen nun. Wenn sie erwachen, wird aller Hass und alle Frucht ihnen fremd sein. Schickt ihnen nicht euren Schmerz. Lasst sie gehen und lasst sie erwachen. Euer Schmerz bindet sie, darum lasst sie gehen. Sie werden es euch danken.“

Seit diesem tragischen Zwischenfall, war nichts mehr wie vorher. Bereits am nächsten Tag verließ sie das Waisenhaus, um mit ihren Pflegeeltern zu leben, die sie adoptiert hatten. An diesem Tag war es still im gesamten Haus. Selbst als sie sich bei jedem einzeln verabschiedete, vermochte keiner ein Wort zu sagen. Sie lächelte jedem einzelnen ins Gesicht und keine einzige Träne verließ auch nur ein Auge. Erst als sie sich umdrehte, sagte jemand ganz leise „Danke.“ Und dann ging sie. Niemand aus diesem Heim sollte je wieder ein Wort sagen. Niemand sollte je wieder weinen, niemand sollte je wieder hassen oder sich fürchten. Das Licht blendete sie und nahm ihnen die Fähigkeit zu sprechen, dass habe ich mittlerweile verstanden. Nie hatten sie die Möglichkeit von dieser Nacht oder von ihr und ihrem einzigartigen Lächeln zu reden und doch lebten sie noch zwei weitere Jahre ein glückliches und unbeschwertes Leben, fernab aller Trauer. Bis eines Tages, durch bisher ungeklärte Umstände, das Waisenhaus in sich zusammenbrach und alle unter sich begrub. Von all dem erfuhr sie nichts. Auch nicht, dass wenn ich die Ruinen besuche, manchmal der Wind leise und kaum hörbar das letzte Wort des Waisenhauses durch die Blätter der Bäume trägt.                 

Ich war dabei, als sie zum ersten Mal ihr neues zu Hause betrat. Sie strahlte übers ganze Gesicht und das Glück erfüllte die Seelen ihrer neuen Eltern. Sie dankten oft Gott, dass er sie mit diesem Wunder gesegnet hatte und sie schworen ihm und sich, sie wie die leibliche Tochter zu lieben, die die Natur ihnen für immer verwehren würde. Ihr neuer Vater baute ihr ein wunderschönes Zimmer. Ihre neue Mutter kochte für sie ein wundervolles Festmahl. Alles war in Ordnung damals und nichts auf der Welt konnte ihr Glück zerstören. Bevor sie schlafen gingen, beteten ihre neuen Eltern zu Gott und dankten ihm wieder und wieder für ihr großes Glück. Damals dachte ich auch, dass nur ein Gott so viel Freude und Sinnlichkeit gewähren konnte, doch nun bin ich der Meinung, dass es der Teufel gewesen sein musste. Denn nur er konnte so ein boshaftes Spiel spielen, in dem er Glück gab, nur um es mit aller Gewalt wieder zu entreißen.

Es war so um diese Zeit, als in allen Medien darüber berichtet wurde, dass in einem Krankenhaus ein katastrophaler Brand ausgebrochen war. Keiner der Menschen, die sich zurzeit im Gebäude befanden, kamen mit dem Leben davon. Man sprach von knapp siebenhundert Toten. Im Fernsehen sah man Bilder von trauernden Menschen. Eine Frau schrie und brach in Tränen aus, bevor sie kraftlos zu Boden sank. Ein Mann flüsterte immer wieder „Warum?“ und einem Feuerwehrmann fehlten die Worte vor der Kamera, als ihm die Trauer den Ruß vom Gesicht wusch. Noch Tage später weinten die Leute. Bereits nach kurzer Zeit bestätigen Polizisten das Gerücht, dass es sich um Brandstiftung gehandelt haben muss. Der Täter wurde bis heute nicht gefunden.

Ich war dabei, als sie friedlich und wohlbehütet aufwuchs. Sie erlebte sorgenlose zwei Jahre in denen ihr und ihren Eltern alles zu Teil wurde und jeder Tag wie ein Geschenk Gottes erschien. Ihre Eltern wurden nie von Sorgen oder Trauer gepeinigt. Sie entwickelte sich schnell und war anderen Kindern in ihrem Alter weit voraus und erfüllte ihre Eltern mit Stolz. Nur einmal fragten sich ihre Eltern, wo sie wohl geboren wurde und warum man sie aufgegeben hatte. Seitdem schlossen sie diese Personen, die sie nie kennen würden, in ihre Gebete ein und hofften innständig, dass es ihnen gut gehen würde, denn auch sie wussten, dass des Einen Glück des Anderen Leid ist. Und so schürte ihr gewaltiges Glück ein gewisses Gefühl des Unbehagens, welches sie niemals loswerden sollten.

An ihrem vierten Geburtstag erreichte mich ein Brief, indem stand, dass ihre leibliche Mutter sich das Leben genommen hatte. Sie wurde in einem verwahrlosten Hotel nur zwanzig Kilometer vom Waisenhaus entfernt aufgefunden. Die Nachbarn hatten sich über den zunehmenden Gestank beschwert und die Verwaltung kontaktiert. Als man die Tür öffnete, fand man ihre Mutter auf den Knien und mit dem Gesicht gegen die Wand gelehnt in der hintersten Ecke des Raumes. Vor ihr eine leere Packung Tabletten und ein Brief in dem stand, dass sie es niemals verlernen dürfe. Die Versuche Verwandte oder Freunde zu kontaktieren scheiterten und so informierte man mich. Man bedauerte mir davon auf diesem Wege berichten zu müssen. Sie schrieben weiter, dass es scheinbar kein Motiv für den Selbstmord gab, doch ich wusste das Motiv. Es war der Schmerz. Sie konnte ihn nicht mehr tragen, allein. Sie erstickte unter der zu schweren Last und litt unter ihrer vermeintlichen Schwäche. Mit letzter Kraft versuchte sie sich für alles zu entschuldigen, bestrafte sich selbst und ging dann für immer. Heute weiß ich, dass nicht sie sich das Leben nahm sondern ein anderer. Es war kein Selbstmord, es war Mord.

Ich war dabei, als sie ihren ersten Schultag hatte. Als sie sich vor ihrer Klasse vorstellte, wischte sie jedem ihrer Mitschüler die Nervosität aus den Gedanken und es gab keinen, der sie nicht sofort als Freund betrachtete. Unter all den Menschen, die sie kennen lernte, gab es ein Mädchen, welches sie fortan als beste Freundin kennen würde. Beide lachten zusammen und weder ihre beste Freundin noch irgendjemand sonst in dieser Schule würde in den folgenden sechs Jahren jemals Leid erfahren. Lehrer lehrten mit Liebe und Wohlwollen und sahen, wie sich die Klasse schnell entwickelte. Niemand ahnte, dass schon zwei Wochen, nachdem sie die Schule wechselte, allen in einer verheerenden Flut das Leben geraubt werden würde. Ihre Eltern waren besorgt, dass es sie sehr mitnehmen würde, doch sie sagte nur: „Sie starben im Glück und dieses Glück wird sie fortan immer begleiten. Wo auch immer sie wandeln mögen.“ Ihre beste Freundin, war die einzige außer ihr, die das Unglück überlebte. Allerdings gelang es ihr nicht Abschied zu nehmen. Sie versank in den dunklen Emotionen und nicht einmal ihr Lächeln konnte die dunklen Gefühle ins Licht holen. In der neuen Schule veränderte ihre Freundin sich und lebte ein Leben geprägt von Kummer und Schmerz. Nicht einmal ihr Licht drang in die Dunkelheit vor, die das Herz ihrer Freundin gefangen hielt. Beide distanzierten sich und lebten ihre eigenen Leben. Obwohl sie wieder in dieselbe Klasse gingen, begingen beide von nun an unterschiedlich Wege.

Zwei Jahre später trat ich in ihr Leben. Wir sahen uns und sofort verband uns etwas, was außerhalb des Beschreibbaren lag. Ihr Blick schien mein Herz zu durchstoßen und es begann mit wahnsinniger Innbrunst zu schlagen. Meinen Blick von ihr zu wenden, erfüllte mich mit ungeheuren Schmerzen und alles in mir drehte sich, wenn ich meinen Blick wieder auf sie richtete. Keiner von uns fühlte jemals zuvor auf diese Art und Weise. Keiner von uns fühlte jemals wahre Liebe. Beschämt von meinen Gefühlen, gelang es mir nicht sie anzusprechen und auch sie schien zum ersten Mal in ihrem Leben von ihren Gefühlen übermannt zu sein, nicht im Stande ein Wort zu sagen. Es war dieser verhängnisvolle Moment, der meine Sicht benebelte und mich daran hinderte zu bemerken, dass ihre beste Freundin von ähnlichen Gefühlen bei meinem Anblick erfüllt wurde. Ihrer besten Freundin entging nicht die Spannung zwischen mir und ihr. Mit einem Mal breitete sich ein Gefühl in ihrer Freundin aus, welches von keinem ihrer Lächeln getilgt werden konnte. Ihre Freundin empfand tiefen, ungereiften und dunklen Hass. Sie und ich kamen uns näher. Wir redeten viel und lachten oft und ich war erfüllt von ihrem wunderschönen Lächeln, von ihrem wundervollen Wesen. Dennoch war es die Gesellschaft, die die Liebe zwischen uns nicht mit wohlwollen betrachtete. Es war demnach ein Leichtes für ihre Freundin diese Abneigung in Ablehnung und schließlich in Hass zu verwandeln. Sie verbreitete Lügen über uns und festigte die Meinung, dass unsere Liebe unrecht sei. Jedes ihrer Lächeln, jeder ihrer strahlenden Momente schienen vergessen und die Leute glaubten ihrer Freundin. Fortan strafte man uns mit Verachtung und noch ehe wir unseren ersten Kuss austauschen konnten, begegnete uns ihr Hass. Ihr Licht verschwand in der scheinbar endlosen Finsternis. Selbst meine Eltern wandten sich gegen mich und benannten mir gegenüber oft ihre Enttäuschung. Ihre Freundin war zufrieden und zum Ersten Mal seid ihre Freundschaft sich entzweite, fühlte sie das fast vergessene Gefühl von Glück. Dennoch war das Glück nicht vollkommen, solange unsere Liebe bestand. Dem wohl wissend, entsprang ihrem Kopf die alles zerstörende Lüge. Die Geschichte, dass sie von ihrer besten Freundin geschlagen wurde, verbreitete sich mit unglaublicher Geschwindigkeit und in absoluter Präzision, sodass sich die Schulleitung gezwungen sah Polizei und Eltern in die Sache einzuschalten. In all dieser Zeit, war es ihnen nicht gelungen ihr Lächeln zu brechen und uns unser Glück zu rauben, doch als meine Eltern und meine Freunde mich vor die absolute Wahl stellten, wurde mein Herz schwach. In der Entscheidung zwischen ihr und dem Rest der Welt, siegte mein Verstand über mein Herz und ich gab mich den Lügen und der Finsternis hin. Ich wurde schwach und erlag dem Druck der Welt. Ich war niemals so stark wie sie. Noch an diesem Abend beschloss ich mein Versprechen der Welt gegenüber - sie niemals wieder zu sehen - zu brechen und mich zu verabschieden. Es brach mir das Herz zu sehen, wie sie sich freute, als sie mich sah. Ich erzählte ihr von der Wahl, vor die ich gestellt wurde und ich erzählte ihr von meiner Entscheidung. Zum ersten Mal in ihrem Leben, verschwand das Lächeln von ihren Lippen. Zum ersten Mal in ihrem Leben rinn eine Träne ihre Wange hinunter. Zum ersten Mal in ihrem Leben erlosch ihr Licht und die Dunkelheit der Welt durchdrang sie, schändete sie und stahl ihr alles, was sie ausmachte. Ich sah es. Ich sah alles und war doch unfähig zu handeln. Ich wollte sie küssen. Ich wusste, dass das ihr Licht wieder aufleben lassen würde, doch ich konnte es nicht. Da stand sie. Bitterlich weinend und ich, ich blickte lediglich verlegen zu Boden. Nicht ein Mal, hatten wir uns geküsst, nicht ein Mal berührt. Es war die letzte Chance das zu ändern, doch ich tat es nicht. Ich konnte nicht. Ich war schwach. Schließlich sagte ich nur, „Es tut mir Leid“, drehte mich um und verschwand aus ihrem Leben in der Hoffnung, dass es ohne mich besser werden würde.

Nur wenige Tage später hörte ich, dass sie umgezogen ist. Wohin konnte, oder wollte mir niemand sagen. Für mich drehte sich alles zum Besseren. Alle Animositäten verflogen und doch verblieb ich in der Dunkelheit. Ich fand eine Liebe in ihrer Freundin und heiratete sie später, und doch verblieb ich allein. Ich will nicht abstreiten, dass ich gute Jahre hatte und ein gutes Leben geführt habe. Dennoch verging kein Tag in meinem Leben, in dem ich nicht an sie gedacht habe.

Nun sitze ich hier, alt, verbraucht und am Ende meiner Tage. Ich sitze hier fragend nachdem dem, was geschehen wäre, wenn ich mich anders entschieden hätte. Mit dem Brief vor mir begreife ich nun endlich, dass ich damals da war, als sie entbunden wurde. Ich war da, als sie ihre ersten Schritte ging und ihre ersten Worte sprach. Ich war dabei, als ihre Mutter allein auf der Couch saß und ich habe ihre Hand gehalten, als sie sich verabschiedet hatte. Ich war dabei, als sie adoptiert wurde und die glücklichste Zeit ihres Lebens hatte. Ich war da, als sie sich vorstellte, vor ihrer neuen Klasse und ich habe mich für sie gefreut. Ich verstehe nun, dass ich dabei war, als es ihr gut ging. Doch mit dieser Zuversicht, kommt das Verständnis. Ich verstehe nun, dass ich derjenige war, der ihrer Mutter den Kerzenständer reichte. Ich verstehe, dass ich die Polizei gerufen habe, um ihre Mutter abzuführen. Ich verstehe auch, dass ich den Brand im Krankenhaus gelegt habe und das Waisenhaus gesprengt habe. Ich verstehe, dass ich den Damm gebrochen habe, um die Grundschule zu fluten. Vor allem aber verstehe ich, dass ich mein Leben damals mehr wertschätzte als das Ihre und das tut mir Leid. Ich lese den Brief immer wieder und wieder und dennoch kann ich noch immer nicht weinen, obwohl jeder Teil meines Körpers von Trauer durchtränkt ist. Ich kann noch immer nicht glauben, dass sie tot ist. Ich frage mich, ob sie noch jemanden gefunden hat, den sie lieben konnte. Hat sie Kinder? Konnte sie wieder Lächeln? Nur eine Frage muss ich mir nie wieder stellen. Die Frage, ob sie mich immer noch geliebt hat. Und so lege ich diese Geschichte auf den Tisch und lege mich nun schlafen. Den Brief behalte ich in Händen und lese noch hundert Mal die paar Worte die dort stehen. Ich schlafe ein und der Brief entgleitet meinen Händen. Die in rot geschriebenen Worte zeigen zum Fenster und draußen beginnt es zu regnen. Meine letzten Gedanken bevor ist sterbe und die letzte Träne, die an meiner Wange trocknet, gehen nur an dich, mein Licht. Endlich, werde ich dich wieder sehen. Ich liebe dich auch.                

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Paul Rehle).
Der Beitrag wurde von Paul Rehle auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.11.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Paul Rehle als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Isidor was machst du da? von Karl-Heinz Fricke



Eine poetische Reise durch den Humor.
Ein Mutterwitz, der beabsichtigt nicht nur ein Lächeln auf das Gesicht des Lesers zu zaubern, sondern der die Bauch- und Gesichtsmuskeln nicht verkümmern lässt.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Liebesgeschichten" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Paul Rehle

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Die letzte gefrorene Träne von Paul Rehle (Trauriges / Verzweiflung)
Die zwei Bäume von Dieter Hoppe (Liebesgeschichten)
Pinkes von Lara Otho (Kinder- und Jugendliteratur)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen