Nicole Fröhlich

Eigentlich wollte ich es dir nur sagen

Eigentlich wollte ich es dir nur sagen.

“Lass die Türe etwas offen. Tommy ist noch nicht da.” Anna wollte die Türe nicht offen lassen, Carolin sollte ihr endlich zuhören. Leise ließ sie das Schloss einschnappen. Caro war schon die Treppe hinaufgeeilt und Anna rannte ihr hastig hinterher. Erschöpft ließ sie sich neben ihre Schwester auf das braue Velourssofa fallen. Gerade war sie noch auf der verrotteten Holzbank unter den riesigen Bäumen gesessen und hatte in die Umgebung gestarrt. Sie hatte gedacht, dass die Welt in Wirklichkeit viel schöner aussah als auf Gemälden. Auf Bilder können eben keine Autos im Hintergrund vorbeihuschen.

Dann war es Abend und kälter geworden und Anna hatte sich auf den Weg zu Carolin gemacht. Sie wollte ihr alles erzählen. Seit sie nebeneinander wohnten waren sie so was wie beste Freundinnen geworden. Ihre verstorbenen Eltern hatten ihnen einen Häuserblock vererbt. Jede hatte nun eine eigene Wohnung und die restlichen der insgesamt zwölf Wohnungen hatten die Schwestern vermietet und teilten sich die Einnahmen.

“Willst du was trinken? Ich hab heute eine neue Sorte Fanta gefunden.”

“Ja gerne.”

Wenig später kam Carolin mit zwei vollen Gläsern aus der Küche. Anna probierte die hellgelbe Flüssigkeit.

“Schmeckt wie normale Diätlimo. Was ist das für ein Geschmack?”

“Zitrus. Musst du morgen arbeiten?”

Anna wusste, dass Carolin das nur fragte, weil sie sie bald loswerden wollte.

“Nein, ich hab jetzt eine Woche Urlaub.”

Sie starrte ins Zimmer. Es schien, als wurden die Möbel immer näher an sie heranrücken. Sie wollte es ihrer Schwester sagen, jetzt.

Carolin sprang auf.

“Hat da nicht Tommy geschrieen?”

Sie eilte nach unten, kam aber gleich wieder zurück.

“Ich hab mich getäuscht.”

“Carolin ich geh jetzt, mir geht es nicht gut.”

“Wieder Kopfweh?”

“Ja.”

“Warst du schon beim Arzt?”

“Ich hab es noch nicht geschafft.”

Das war gelogen. Anna war beim Arzt bevor sie auf ihren Lieblingsplatz, der verrotteten, alten Bank unter den riesigen Bäumen, war.

“Anna, du solltest wirklich mal gehen.”

Für Anna klang dieser Satz wie eine leere Phrase.

“Also, Caro, mach’s gut.”

“Tschüß. Schau mal ob du Tommy siehst.”

Anna war es egal ob Tommy da war. Ihr wäre es sogar lieber gewesen wenn er nie mehr auftauchen würde. Seit er zu Carolin gekommen war hatte sie nur noch Augen für ihn. Sie schien gar nicht zu merken, wie es ihrer Schwester ging.

Anna war froh morgen nicht zur Arbeit zu müssen. Ihre Arbeit als Krankenschwester auf der Intensivstation forderte steht’s ihren vollen Einsatz, doch in letzter Zeit fiel es ihr schwer die geforderte Leistung zu erbringen, obwohl ihr die Arbeit wirklich Spaß machte. Nun wusste sie Bescheid. Sie hatte es bereits geahnt. In den letzten Jahren hatte sie viele Patienten mit Gehirntumor betreut. Jetzt war sie eine von ihnen.

Zuhause riss sie das Schlafzimmerfenster weit auf. Es war sehr heiß drinnen und sie wollte noch etwas kühle Luft hereinlassen, bevor sie ins Bett ging. Es war erst acht, doch seit einigen Wochen ging Anna immer sehr früh schlafen. Sie war froh, wenn der Tag vorbei war.

Da sie noch Hunger hatte nahm sie die Lasagne aus dem Gefrierfach des Kühlschranks und steckte sie in die Mikrowelle. Während ihr Essen warm wurde, fragte sie sich, wie oft sie wohl noch Lasagne essen würde.

Da hörte sie ein helles Miauen. Sie drehte sich um und sah Tommy aus dem Schlafzimmer auf sie zu kommen.

“Verschwinde!”

Tommy blieb stehen und sah Anna mit großen Augen an. Dann miaute er wieder.

“Hau, ab.”

Anna packte Tommy und hob ihn hoch. Er wehrte sich nicht, würgte aber etwas. Anna befürchtete er würde sich übergeben, weil sie ihn auf den Bauch gedrückt hatte, und beeilte sich mit ihm zum offenen Fenster zu kommen. Dort warf sie Tommy hinaus. Er landete zwar auf den Füßen, überschlug sich aber dann doch. Er war noch zu klein, um sich sicher halten zu können. Anna zuckte zusammen.

“Oh, hast du dir wehgetan.”

Tommy aber war schon wieder aufgestanden und auf die Fensterbank gesprungen. Ehe Anna ihn aufhalten konnte war er wieder in der Wohnung.

“Hau, ab!”, schrie sie ihn an. Dann packte sie ihn noch mal und hob ihn hoch. Tommy reagierte mit einen kläglichen Miau und tretelte mit den Vorderpfoten in der Luft. Anna empfand plötzlich tiefes Mitleid. Sie lehnte das kleine Kätzchen gegen ihre Brust und flüsterte: “Okay, ein bisschen darfst du bleiben.”

Schnell stellte sie Tommy ein Schälchen mit Milch auf den Boden und er begann sofort gierig zu lecken. Immer wieder sah er sich ängstlich um und jedes Mal tropfte ihn Milch vom Mäulchen.

Anna hatte plötzlich keinen Hunger mehr. Sie schaltete die Mikrowelle aus und stellte die Lasagne in den Kühlschrank. Dann zog sie sich aus, ging ins Schlafzimmer und öffnete ihren Kleiderschrank. Eine Weile betrachtete sie ihre Schätze: Das rosa Abendkleid, ihr langes, schwarzes Abschlussballkleid, das apricotfarbene Dirndl, ihre zahlreichen Sommerkleider. Anna zog jedes Kleid an und drehte sich lange vorm Spiegel. Sie fand sich hübsch.

Das orange, trägerlose Kleid ließ sie an und ging ins Bad. Dort schminke sie ihr Gesicht und steckte sich die langen, braunen Haare hoch. Sie hat wunderschönes dichtes Haar, um das sie jeder beneidete.

Als sie fertig war legte sich Anna auf ihr Bett. Sie stellte sich vor wie sie einschlafen würde und Carolin würde sie morgen finden. Tot.

Sie stellte sich vor, sie wäre Dornröschen und ein Prinz würde kommen um sie zu retten. Draußen piepte ein Vogel und der Wind wehte durch das offene Fenster hinein wie ein leichter Vorhang.

“Ich kann frisch gemähtes Gras riechen”, dachte Anna, “ich liebe diesen Geruch.”

Wieder hörte sie dieses leise Miauen. Tommy saß vor ihrem Bett. Anna stand auf und nahm ihn in den Arm. Er sah sie neugierig an. Sein weißes Fell war von schwarzen Tupfen übersäht, doch am auffälligsten war der Punkt auf seiner Nase. Anna kraulte sein zierliches Köpfchen und flüsterte ihn zu: “Ich bringe dich heim.”

Hastig zog sie sich wieder um und machte sich mit Tommy auf den Weg zu ihrer Schwester. Als Carolin die Tür öffnete stürzte sie sich sofort auf Tommy und riss ihn Anna aus den Armen.

“Da bist du ja mein Süßer. Hast du mich vermisst?”

Dann sah sie Anna an.

“Wie siehst du denn aus?”

Erst jetzt merkte Anna, dass sie noch die Schminke im Gesicht hatte und ihre Haare noch hochgesteckt waren.

Carolin grinste.

“Hast du jetzt endlich angefangen auch mal was aus dir zu machen?”

“Ach, ich hab nur was ausprobiert.”

“Ich dachte du würdest schon schlafen.”

“Ich geh jetzt ins Bett. Tommy war noch bei mir.”

Carolin küsste ihr kleines Kätzchen auf die Nase.

“Danke, dass du ihn gebracht hast. Ich hatte schon Angst um ihn.”

“Wenigstens kümmerst du dich um ihn”, dachte Anna.

Sie verabschiedete sich von ihrer Schwester und ging wieder zurück in ihre Wohnung.

Nun zog sie ihr prächtigstes und teuerstes Kleid an, das Brautkleid ihrer Mutter. Sie steckte sich eine weiße Rose in ihr Haar und drehte sich vorm Spiegel. Sie war hübsch. Zufrieden legte sie sich auf ihr Bett. Der helle Stoff des Kleides schimmerte in der Dämmerung. Das Gras roch nicht mehr und in der Ferne bellte ein Hund. Anna fröstelte und sie beschloss das Fenster zu schließen. Doch noch nicht jetzt. Bald.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.12.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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