Hannis Eriksson

Die Zeit des Drachen – Aufbruch der Stämme

Endlich standen sie sich gegenüber. Er hatte lange darauf gewartet. Seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten war so viel Zeit vergangen. Er lächelte sie an.

     Sie lächelte zurück. Auch sie hatte den Moment herbeigesehnt, allerdings aus einem anderen Grund als er. Heute war es soweit, sie würde ihn bloßstellen, ihm sein Herz und seine Seele brechen. Das war nun mal ihr Auftrag und sie würde ihn erfüllen, auch wenn ihr Herz inzwischen etwas anderes sagte. Sie hatte sich in ihn verliebt. Aber er war ja auch ein Ekwinocs. Mit seinen Pheromonen hatte er sie dazu gebracht, da war sie sich sicher, nicht zu hundert Prozent, aber doch zumindest zu siebzig, achtzig und das reichte ihr vollkommen.

     »Hallo mein Schatz«, begrüßte sie ihn. »Ich hab dich so sehr vermisst.«

     Sie gingen aufeinander zu und umarmten sich. Er machte es ihr wirklich leicht. Sie konnte in seinen Augen erkennen, dass er es ernst meinte. Die künstlichen Pheromone hatten ganze Arbeit geleistet. Und ihre Verführungskünste waren auch nicht von schlechten Eltern. Sie triumphierte innerlich. Lass es langsam angehen, sagte sie zu sich selbst. Er soll leiden.

     Er sah ihr in ihre Augen. Sie waren wunderschön, so unschuldig. Wahrscheinlich hatte ihn das auf die Idee gebracht, denn sie konnte sonst gut lügen, sehr gut sogar, aber ihre Augen hatten sie verraten.

     Er hatte das Ganze nicht weiter hinterfragt, hatte die Träume nur als Träume gesehen. Aber in letzter Zeit hatten sie sich gehäuft. Irgendetwas musste das doch bedeuten. Und jetzt wusste er es, oder er glaubte es zu wissen, denn getan hatte sich bis jetzt nichts. Vielleicht musste er es erst aus ihrem Mund hören, aber so, wie sie vor ihm stand, konnte er eigentlich jeden Moment damit rechnen.

     »Ich liebe dich«, sagte sie zu ihm.

     »Und ich liebe dich«, entgegnete er. Im Gegensatz zu ihr brauchte er nicht einmal zu schauspielern. Er liebte sie wirklich und sie hatte ihm das Herz gebrochen. Aber das war ihm jetzt egal. Wenn sie dieses Wort sagen würde, dann würde sich alles ändern.

     »Was möchtest du denn heute machen?«, fragte er sie.

     »Einfach nur ein bisschen spazieren gehen«, erwiderte sie. »Du weißt doch, dass ich nicht einfach nur rum sitzen kann.«

     »OK. Dann gehen wir ein Stückchen.« Du bist ganz schön nervös, dachte er und blickte sie an.

     Sie gingen, nebeneinander her, so eine ganze Weile. Er wollte ihre Hand nehmen, mehr um ihre Reaktion zu testen, als dass er sie wirklich spüren wollte. Sie zog sie weg, aber damit hatte er schon gerechnet.

     Er hatte etwas getan, was er normalerweise für falsch hielt, aber das Ergebnis hatte ihm Recht gegeben. Er hatte ihr hinterher spioniert und sie gesehen mit diesem Typen, jenem Typen den er auch in seinen Träumen gesehen hatte, ohne ihn vorher jemals wirklich gesehen zu haben. Danach wusste er nun, wer er war, was er war, wozu er gemacht worden war, von ihnen.

     Plötzlich blieb sie stehen, drehte sich um und blickte ihn an. Sie lächelte, aber es war nicht mehr das Lächeln, mit dem sie gesagt hatte: Ich liebe dich, es war eher ein Lächeln, so als würde sie sich über ihn lustig machen. Jetzt ist es also soweit, dachte er.

     »Du hast doch nicht wirklich geglaubt, ich könnte etwas für dich empfinden?«, sagte sie zu ihm. »Du bist ein Ekwinocs! Such dir lieber eine aus deinem eigenen Volk!«

     Sie drehte sich um. Mit dem einen Auge lachte sie triumphierend, doch aus dem anderen ran eine Träne.

     Er schloss seine Augen und lächelte. Jetzt spürte er diese unbändige Energie. Auf diesen Moment hatte er solange gewartet. Nun konnte ihn nichts und niemand mehr aufhalten. Er öffnete seine Augen wieder und blickte in seine Handflächen. Der Drache war erwacht, nun würde er sich rächen. Die Lowé würden bald nicht mehr existieren.

     »Du denkst also, ich bin ein Woramtschi?«, sagte er zu ihr, ohne jegliche Gefühlsregung in seiner Stimme.

     Sie blickte auf den Boden und drehte sich dann erschrocken um. Würde ein Ekwinocs sich selbst so nennen? Sie wusste es nicht. Vielleicht hatte Arvid ja recht gehabt, vielleicht war er doch kein Ekwinocs, sondern der Kohen. Nur wenn dem so war, dann …

     »Wer bist du?«, fragte sie ihn.

     »Du hast doch gerade selbst gesagt, dass ich ein Ekwinocs bin«, erwiderte er und lächelte sie an. Dann fügte er hinzu: »Sorry, aber du hast deinen Auftrag nicht zu hundert Prozent ausgeführt. Du hast mir mein Herz gebrochen, aber nicht meine Seele. Die Lowé werden echt unzufrieden mit dir sein.« Danach drehte er sich um und ging.

     »Warte«, rief sie ihm hinterher. »Ich habe mich geirrt.«

     Wie Recht du doch hast, dachte er, ging aber ohne anzuhalten weiter.

     »Es tut mir leid! … Bitte warte.« Sie brach in Tränen aus. Sie fühlte sich schuldig. Was habe ich bloß gemacht, dachte sie. Ich würde alles tun, um ihn nicht zu verlieren.

     Für einen Moment blieb er stehen, etwa fünfzig Meter von ihr entfernt. Dann zog aus dem Nichts dichter Nebel auf und legte sich um ihn wie ein Mantel. So schnell, wie dieser Nebel aufgezogen war, verschwand er dann auch wieder und mit dem Nebel verschwand auch er, so als wäre er niemals hier gewesen.

 

Er war wieder zu Hause. Von nun an würde sich sein Leben grundlegend verändern. Es war nur eine Frage der Zeit bis er alle seine Fähigkeiten beherrschte. Doch was würde das aus ihm machen? Er blickte auf den Boden und sah dann in den Spiegel. Er konnte ein Held sein, oder ein Dämon. Doch lag es wirklich in seiner Macht, darüber zu entscheiden? Hatten nicht die Lowé oder die Wolba Aíra längst darüber entschieden. Sie hatte ihm nur den letzten Stoß versetzt.

     Er wurde aus seinen Gedanken gerissen. Sein Handy klingelte. Auf dem Display erschien ihr Name. Nachdem er sie verlassen hatte, war das jetzt schon ihr dritter Versuch ihn zu erreichen. Er drückte wieder auf Anruf ablehnen. Er liebte sie immer noch, aber momentan konnte er einfach nicht mir ihr sprechen und nachdem was sie ihm angetan hatte, wäre es wohl das Beste für ihn gewesen, sie so schnell wie möglich zu vergessen. Denk einfach an das, was jetzt vor dir liegt, sagte er sich selbst.

     Nur wenige Augenblicke später klingelte sein Handy erneut. Sie hatte ihm eine SMS geschickt. „Bitte verzeih mir! Ich hab mich wirklich in dich verliebt. Gib mir noch eine Chance!“

     Sollte er ihr nicht doch antworten? Er wusste es nicht. Vielleicht sollte er einfach auf seine Träume hören.

     Er nahm sein Handy und tippte ein: „Unter euch gibt es jemanden, einen Rekon, der einmal den Namen „Schlange von San Léon“ getragen hat. Die Übersetzung ist vielleicht nicht ganz exakt, aber derjenige wird wissen, dass er gemeint ist. Richte ihm aus, dass er sich mit mir treffen soll. Er soll noch eine Chance bekommen, das zu vollenden, was er an den Ufern des Jari nicht zu Ende gebracht hat. Wenn du das schaffst, kann ich dir vielleicht wieder vertrauen.“ Dann drückte er auf senden.

     Es dauerte nicht lange, da hatte er auch schon eine Antwort: „Ich werde deine Bitte erfüllen. Ich liebe dich.“

     Jetzt musste er erstmal schlafen, sich ausruhen für die Veränderungen, die ihm jetzt bevorstanden. Er schaltete sein Handy aus und legte sich ins Bett.

 

Obwohl es inzwischen nach Mitternacht war, hatte sie sich auf den langen Weg gemacht, um diesen Rekon ausfindig zu machen. Sie hatte einen Fehler begangen und den wollte sie unbedingt wieder gut machen. Sie brauchte ihn, liebte ihn und hatte ihn doch so sehr verletzt.

     Sie lief erst zu sich nach Hause. Dort setzte sie sich in ihr Auto und fuhr zu demjenigen, der ihr jetzt wohl am ehesten weiterhelfen konnte.

     Es war etwa zwei Uhr, als sie vor seiner Tür ankam. Sie klingelte. Erst ein Mal, kurz. Nachdem niemand öffnete klingelte sie erneut, diesmal Sturm, etwa eine Minute lang. Jetzt reagierte jemand. Das Licht im Flur wurde angeschaltet und einen Moment später öffnete Arvid schlaftrunken die Tür.

     »Du? Was ist denn los?«, fragte er mit halb zugekniffenen Augen.

     »Ich brauche deine Hilfe«, erklärte sie ihm.

     »Mitten in der Nacht? Was ist denn so wichtig?« Arvid sah sie an. Ihre Tränen waren noch nicht getrocknet. »Komm erstmal rein und erzähl mir, was passiert ist.«

     Die beiden gingen in die Küche des Hauses und sie setzte sich an den Tisch.

     »Wie wär’s, wenn ich uns erstmal einen Kaffee koche?«, fragte Arvid.

     »Klingt gut«, erwiderte sie.

     Arvid befüllte die Kaffeemaschine mit Wasser und Pulver und schaltete sie ein.

     »Also, was ist los?«, fragte er sie, nachdem er sich zu ihr gesetzt hatte.

     »Ich … Ich hab ihn einen Ekwinocs genannt«, begann sie.

     »Und? Wie hat er reagiert?«, wollte Arvid wissen.

     »Unerwartet«, erwiderte sie. »Ich glaube nicht mehr, dass er ein Ekwinocs ist.«

     »Und was hat dich dazu gebracht, deine Meinung zu ändern?« Gespannt wartete Arvid ihre Antwort ab.

     »Na ja, eigentlich mehrere Dinge. Erstmal hat er den Begriff Woramtschi gebraucht und dann, … es war richtig … wie soll ich das erklären? … Aus dem Nichts ist Nebel aufgezogen, hat ihn eingehüllt und als der Nebel verschwunden war, war auch er verschwunden.«

     »Und wozu genau brauchst du jetzt meine Hilfe?«, fragte Arvid nach.

     »Ich hab ihn gebeten, mir noch eine Chance zu geben. Ich hab mich in ihn verliebt.« Eine Träne rollte ihr über die Wange.

     »Was hat er geantwortet?« Arvid sah sie erwartungsvoll an.

     Sie reichte ihm ihr Handy. »Hier! Lies selbst.«

     Arvid nahm das Handy entgegen und überflog die Zeilen. Dann legte er das Handy auf den Tisch, stand auf, blickte auf den Fußboden und dann in ihr Gesicht.

     »Hatte ich mit meiner Vermutung doch recht«, erklärte er.

     »Er ist also der Kohen?«, wollte sie wissen.

     »Ja, ist er! Nur er konnte dir diese Nachricht schreiben.« Er drehte sich um, holte zwei Tassen aus dem Schrank, stellte sie auf den Tisch und goss den fertig gebrühten Kaffee ein.

     Sie nahm erstmal einen kräftigen Schluck Kaffee. Dann fragte sie: »Was bedeutet die Nachricht eigentlich? Und wer ist dieser Rekon?«

     Er atmete tief durch, blickte auf den Boden und dann in ihr Gesicht.

     »Dieser Rekon bin ich«, erklärte Arvid.

     »Und was sollst du zu Ende bringen? Was meint er damit?«, wollte sie wissen.

     »Ich hab damals, vor sehr langer Zeit, einen Fehler gemacht, den ich mir bis heute nicht verzeihen kann.«

     »Was meinst du?«, fragte sie nach.

     »Ich war damals Söldner und sollte von meinen Auftraggebern ziemlich viel Geld bekommen, wenn ich ihn umbringe. Erst als ich ihn getötet hab, habe ich erkannt, wer er ist. Deswegen sagt er jetzt, dass ich es nicht zu Ende gebracht habe«, erklärte Arvid.

     »Aber, wenn du ihn getötet hast, dann hast du es doch zu Ende gebracht?!« Sie verstand nichts von dem, was Arvid zu erklären versuchte.

     »Er und ich, … wir sind beide sehr alt, unsere Seelen zählen zu den ältesten im ganzen Universum. Ich weiß nicht mehr, wie wir uns genannt haben, vielleicht wäre Premaner eine mögliche Bezeichnung.« Er setzte sich wieder und trank auch erstmal einen Schluck Kaffee. »Wir verfügen über besondere Fähigkeiten, nicht nur die, die du schon von mir, ihm oder einigen anderen Rekon kennst, er und ich sind in der Lage, die Seele eines anderen zu absorbieren, so, dass diese Seele aus dem ewigen Kreislauf von Tod und Wiedergeburt herausgelöst wird. Allerdings ist das sehr gefährlich, aber dir das jetzt zu erklären, wäre zu langwierig.«

     »Und das erwartet er jetzt von dir? Du sollst seine Seele absorbieren?« fragte sie bedrückt nach.

     »Er hat es dir geschrieben, aber ich bin mir nicht sicher, ob es das ist, was er wirklich will. In den Leben, die bis jetzt hinter ihm liegen, hat er sich immer für andere eingesetzt, musste allerdings auch immer viel einstecken. Nur, jetzt … er wurde im Prinzip von seinem ganzen Volk verraten. Ich kann mich nicht in ihn hineinversetzen, aber es wäre auf jeden Fall denkbar, dass er, … na ja, sauer auf uns ist.« Er sah sie an und versuchte zu lächeln.

     »Er ist auf jeden Fall sauer auf mich, oder?«, fragte sie immer noch bedrückt.

     »Wenn er dich liebt, wird er dir verzeihen«, antwortete Arvid. »Du solltest jetzt erstmal nach Hause fahren und dich ausruhen. Schalt ab und … denk einfach erstmal nicht mehr an ihn.«

     »Du sagst das so einfach! Ich liebe ihn!« Sie sah Arvid verstört an.

     »In den nächsten Wochen könnte etwas passieren, was, … na ja, gefährlich für alle Beteiligten werden dürfte … und es wäre besser, wenn du dich aus der ganzen Sache raus hältst«, bat Arvid.

     »Wieso?«, wollte sie wissen. »Ich dachte ich hätte eine Gabe, dass ich auch über große Fähigkeiten verfügen könnte.«

     »Das ist das Problem. Du könntest, aber du tust es momentan eben nicht«, erklärte Arvid. »Deswegen sollst du dich raushalten. Und halte dich von den Lowé fern, vorerst zumindest.«

     »OK. Ich werde mich raushalten«, erklärte sie. Vergiss es, ich kann nicht einfach daneben stehen und abwarten. Ich muss etwas tun, dachte sie allerdings.

     Sie stand auf und verabschiedete sich von Arvid, verließ das Haus und machte sich auf den Heimweg.

 

Er wachte auf und schaute sogleich auf die Anzeige seines Radioweckers. Er hatte gerade einmal vier Stunden geschlafen, fühlte sich aber trotzdem hellwach. Er stand auf und ging ins Bad. Als er in den Spiegel sah, erschrak er. Seine Augen leuchteten in einem grellen Gelb, sein ganzes Gesicht wies deutliche Spuren der Transformation auf. Seine Aírata-Gene zeichneten sich auf seiner Stirn ab, seine autarkischen Gene hatten ihm zu auffallenden Eckzähnen verholfen und abgesehen von der gelblichen Augenfarbe hatten seine Acan-Gene auch dafür gesorgt, dass er wieder klar und deutlich sehen konnte.

     Er drehte sich, um seinen Rücken im Spiegel zu betrachten. Dort konnte er allerdings keine Anzeichen einer Veränderung feststellen. Er schloss die Augen und stellte sich vor, wie er nach einer solchen Transformation aussehen könnte. Als er die Augen wieder öffnete, stand sein ganzer Körper in Flammen und er krümmte sich vor Schmerzen. Einen Augenblick später waren die Flammen allerdings auch wieder erloschen und sämtliche Schmerzen verschwunden. Er sah erneut in den Spiegel. Die Transformation war jetzt abgeschlossen.

     Er versuchte seine Flügel, die nach der letzten Verwandlung aus seinen Schulterblättern herauskamen, auszubreiten, aber in dem kleinen Bad stieß er an beiden Seiten an die Wände, weswegen er sie gleich wieder einzog. Jetzt musste er erstmal versuchen, die Verwandlung umzukehren. So wie er jetzt aussah konnte er sich tagsüber unmöglich vor die Tür wagen. Eigentlich durfte er so sowieso nicht aus der Wohnung gehen. Wenn er sich verwandelte, dann dort, wo ihn niemand sah und auch nach der Verwandlung niemand der ihn kannte darauf kommen konnte, dass er etwas mit diesem Wesen zu tun hatte, dass ihm jetzt aus dem Spiegel entgegen blickte.

     Er konzentrierte sich erneut, schloss die Augen, öffnete sie wieder und stand erneut in Flammen. Einen Moment später war er wieder der Alte, einfach nur ein Mensch, so wie jeder andere auf diesem Planeten, zumindest äußerlich.

     Dann blickte er in seine Handflächen. Seine Kräfte hatte er auch in dieser Form, zumindest die, die nicht in direktem Zusammenhang mit seiner Transformation standen. Seine Sehschärfe hatte er auch wieder verloren, was ihn allerdings auch nicht störte, da es doch auffallen würde, wenn er ohne seine Brille vor die Tür ging.

     Als nächstes stieg er unter die Dusche und ließ das kalte Wasser seinen Körper herunter laufen. Danach zog er sich an, frühstückte und ging zur Arbeit.

     Heute Nacht würde er sich wieder verwandeln und dann seine Fähigkeiten ausprobieren und trainieren. Lange würde es nicht mehr dauern, bis er zum Angriff auf die Lowé übergehen konnte.

 

Sie hatte die ganze Nacht kein Auge zubekommen. Sie fragte sich die ganze Zeit, was sie jetzt tun sollte. Arvid hatte zwar gesagt, sie solle sich aus der ganzen Sache raushalten, aber das konnte sie gleich aus mehreren Gründen nicht tun. Erstmal liebte sie ihn und wollte nicht, dass ihm etwas passiert. Zum zweiten wollte sie aber auch nicht, dass irgendjemand anderer zu Schaden kam, immerhin hatte sie auch unter den Lowé einige Freunde, auch wenn sie selbst nicht mehr zu den Lowé gehörte.

     Sie musste ihn irgendwie davon überzeugen, seiner Rache abzuschwören, wie sie das anstellen sollte wusste sie allerdings noch nicht, aber da würde sich schon etwas ergeben. Wenn sie doch bloß über ihre Kräfte verfügen würde. Es musste doch einen Weg geben, sie zu aktivieren?!

     Sie schloss die Augen. Eigentlich hätte sie jetzt aufstehen müssen, doch jetzt wurden ihr die Glieder schwer und sie schlief ein.

 

Dymar stieg gerade aus dem Shuttle, dass ihn zur Station gebracht hatte, als ihm einer der Techniker entgegengelaufen kam.

     »Wir haben die Nacht einen heftigen Energiestoß auf der Erde verzeichnet«, brachte der Mann völlig atemlos heraus.

     »Und? Irgendeine Explosion?«, fragte Dymar.

     »Nein. Die Energiesignatur gehört definitiv zu einem Lebewesen«, entgegnete der Techniker.

     »Einer von uns?« Dymar wurde jetzt hellhörig.

     »Definitiv: Nein!«, erklärte der Mann. »Dafür war die Energie einfach zu groß. Vor ein paar Minuten hat sich Arvid gemeldet und etwas geäußert, das hier für großen Aufruhr gesorgt hat.«

     »Was meinst du?« Dymar war total angespannt.

     »Arvid meinte, diese Energie könnte nur einem einzigen zugeordnet werden.« Der Mann hatte jetzt ein breites Grinsen im Gesicht.

     »Du meinst …?«, fragte Dymar.

     Der Techniker antwortete mit einem Kopfnicken.

     »Wissen wir, wer er ist?« Dymar sah den Mann erwartungsvoll an.

     »Nein! Das wissen wir leider nicht. Noch nicht! Aber wir gehen alle davon aus, dass er sich bald zu erkennen gibt.« Der Mann drehte sich um und wollte gerade wieder gehen. Doch bevor er Dymar verließ, blickte er noch mal kurz zu ihm und sagte: »Übrigens kommt Arvid heute im Laufe des Tages noch her. Er wollte dann unter vier Augen mit dir sprechen.« Danach verschwand der Mann.

     Dymar ging zielstrebig auf den Kommandoraum der Station zu. Sie mussten die Station für die Ankunft des Kohen vorbereiten.

     Bis jetzt hatten sie gerade zehn Prozent dieser riesigen Raumstation erkundet. Um noch mehr Räume mit Strom zu versorgen, fehlte es momentan einfach noch an Generatoren. Zwar gab es einen großen Energiekern, der die ganze Station mit Energie versorgen könnte, aber einige der notwendigen Teile zur Inbetriebnahme waren nicht vorhanden, was diesen Energiekern für sie unbrauchbar machte.

     Soweit Dymar wusste, verfügte jeder der Stämme über ein wichtiges Teil des Kerns, doch da die Stämme untereinander zu zerstritten waren, hatten diese Teile bisher nicht zusammengefunden. Bis jetzt hatten nur vier der acht Stämme überhaupt Zugang zur Station und der Kontakt mit den übrigen vier Stämmen war er sporadischer Art.

     Das größte Problem bei einer Zusammenführung der Stämme stellten immer noch die Lowé dar, die sich als die alleinigen Führer der Stämme betrachteten und eine Aufnahme der Puaro komplett ausschlossen. Doch jetzt hatten sie den Kohen gefunden, und irgendwie würde er die Stämme schon zusammenführen und die Lowé in die Schranken weisen.

 

»Sie hat versagt«, meldete Gerio, als er den Raum betrat. »Jetzt stellt er erst recht eine Bedrohung für uns dar.«

     »Redest du von dem Energiestoß, den die Sensoren letzte Nacht aufgenommen haben?«, wollte Tibion wissen. »Was ich gehört hab, halten ihn die anderen für den Kohen.«

     »Weil sie keine Ahnung haben, dass er ein Ekwinocs ist«, erklärte Gerio.

     »Aber, was ist, wenn er doch kein Ekwinocs ist«, fragte Joana, die gerade eingetroffen war.

     »Deine Schwestern, und in erster Linie du, habt doch behauptet, dass er ein Ekwinocs ist, worauf erst eine intensive Überprüfung stattgefunden hat«, erklärte Gerio.

     Joana erwiderte nichts darauf. Sie setzte sich und lauschte dem Gespräch der anderen.

     »Wir müssen ihn ausschalten«, sagte Gerio und schlug demonstrativ mit der Hand auf den Tisch. »Entweder er oder wir.«

     Gerio und einige andere zogen sich zurück, um einen Plan zu ersinnen, wie sie den Ekwinocs aus dem Weg räumen konnten. Auch die restlichen Lowé verließen den Versammlungsraum. Joana blieb allein zurück. Sie hatte doch nie gewollt, dass er umgebracht würde. Sie hatte sich damals nur nicht anders zu helfen gewusst. Nachdem sie mit ihm Schluss gemacht hatte, hatte sie einfach Angst gehabt, ihn wieder zu sehen. Nur wenn er doch der Kohen war? Sie ging in den Kommandoraum. Vielleicht war Arvid heute hier und konnte ihr weiterhelfen.

 

Arvid hatte endlich die Station erreicht. Der Flug durch den Asteroidengürtel hatte heute extrem lange gedauert. Er stieg aus dem Shuttle aus, zusammen mit einigen anderen Autarki und zwei Whengi, die für die kommende Woche als Wachmannschaft für die Station eingeteilt waren. Er schulterte seinen kleinen Rucksack auf und begab sich in Richtung Crewquartiere. Nachdem sie bei ihm gewesen war, hatte er kein Auge mehr zubekommen. Wie würde sich der Kohen verhalten und vor allem, was würden die Lowé jetzt unternehmen? Eins war auf jeden Fall sicher: Die Lowé wussten, zu wem die Energiesignatur gehörte, die die Sensoren in der vergangenen Nacht aufgezeichnet hatten.

     Nachdem er seine Sachen in seinem Quartier verstaut hatte, ging er zum Kommandoraum, wo er Dymar vermutete. Dymar und er waren jetzt die einzigen, die eventuell in der Lage waren, sowohl den Kohen, als auch die Lowé davon abzubringen, einen Bürgerkrieg zu beginnen.

     Vor dem Kommandoraum begegnete Arvid Joana, die scheinbar nach irgendjemandem Ausschau hielt. Joana de Jong war damals diejenige gewesen, die direkt oder indirekt dafür gesorgt hatte, dass derjenige, der sich jetzt als Kohen entpuppt hatte, von den Wolba Aíra nicht aufgenommen worden war. Sie wirkte sehr nervös. Als sie Arvid kommen sah, ging sie ihm entgegen.

     »Gut, dass ich dich treffe«, sagte sie mit angespannter Stimme. »Die Lowé wollen ihn umbringen. Das müssen wir verhindern.«

     »Keine Sorge. Wir sind da schon dran«, erklärte Arvid und ging an ihr vorbei in den Kommandoraum der Station.

     Dort wartete Dymar bereits auf ihn. »Hallo Arvid«, wurde Arvid begrüßt.

     »Hallo«, gab der zurück. »Kann ich mit dir unter vier Augen sprechen.«

     Arvid und Dymar gingen in einen kleinen Raum, der direkt neben dem Kommandoraum lag und von innen abschließbar war.

     »Ich weiß, wer der Kohen ist«, erklärte Arvid.

     »Eine Vermutung hab ich auch«, entgegnete Dymar. »Aber ich bin mir nicht sicher.«

     »Dein ehemaliger Mitschüler«, sagte Arvid.

     »Stimmt meine Vermutung also.« Dymar blickte Arvid an. »Das könnte allerdings auch problematisch werden.«

     »Könnte nicht nur«, erwiderte Arvid. »Joana de Jong hat mich eben angesprochen. Die Lowé planen, ihn umzubringen.«

     »Ich wusste ja, dass die Lowé verrückt sind, aber die haben sie doch nicht alle«, brach es aus Dymar hervor. »Das gibt einen Bürgerkrieg.«

     »Das ist allerdings nicht unser einziges Problem«, ergänzte Arvid. »Womöglich sinnt der Kohen auf Rache, was schlussendlich ebenfalls zu einem Bürgerkrieg führen könnte.«

     »Und was schlägst du vor, das wir jetzt tun sollen?« Dymar blickte Arvid erwartungsvoll an.

     »Wir sollten sowohl auf den Kohen als auch auf die Lowé einreden, dass sie zur Vernunft kommen«, erklärte Arvid.

     »Das mag beim Kohen vielleicht möglich sein, aber bei den Lowé?«, erwiderte Dymar.

     »Wie gut kennst du ihn eigentlich?«, wollte Arvid jetzt wissen.

     »Nicht so gut, er war halt immer sehr ruhig und verschlossen«, antwortete Dymar. »Aber wir kennen jemanden, der uns eventuell mehr über ihn erzählen kann. Meine Cousine hatte ein bisschen mehr mit ihm zu tun als ich. Ich weiß halt nur nicht, wann ich sie erreichen kann.«

     »Ich hab sie auch schon länger nicht gesehen, aber soweit ich weiß, kommt sie nächste Woche mal wieder auf die Station.« Arvid blickte Dymar an.

     »Wenn du meinst, dass wir so lange Zeit haben?!«, entgegnete Dymar.

     »Ich hoffe zumindest, dass uns soviel Zeit bleibt«, erklärte Arvid.

 

Er kam wieder von der Arbeit nach Hause, hatte auf dem Heimweg noch eingekauft und setzte sich jetzt an seinen Rechner. Nachrichten hatte er keine neuen im Postfach, also schaltete er den Rechner auch gleich wieder aus. Dann machte er sich eine Kleinigkeit zu essen. Noch war es früh am Abend. Draußen war es noch einigermaßen hell. Erst, wenn die Sonne komplett verschwunden war, würde er aus dem Haus gehen und sich einen ruhigen Ort suchen, wo er sich transformieren und seine Fähigkeiten ausprobieren konnte.

     Das Wetter war den ganzen Tag schon sehr schlecht gewesen. Fast den ganzen Tag hatte es geregnet und jetzt zog Nebel auf. Vielleicht konnte er doch schon früher losgehen. Er beendete sein Abendbrot, nahm einen kleinen Rucksack mit, indem er später seine Sachen verstauen konnte und verließ das Haus. Vor der Haustür angekommen, zog er den Nebel um sich und rannte los. Wenige Minuten später hatte er sein Ziel erreicht.

     Er legte Jacke, Pullover und Hemd ab und verstaute alles in dem kleinen Rucksack. Dann schloss er seine Augen, öffnete sie wieder und verwandelte sich unter großen Schmerzen in das Wesen, dass er zuerst am heutigen Morgen gewesen war.

     Er breitete seine Flügel aus, nahm den Rucksack hoch und hob dann ab. Es war so einfach, so als hätte er das schon immer gekonnt, so als wäre es nie anders gewesen. Er flog zurück in Richtung Stadt, hielt sich dabei aber immer hoch genug, damit ihn von unten niemand sehen konnte und er einen guten Überblick hatte. Auch wenn er bei diesem Nebel wenig mit seinen Augen sehen konnte, hatte er durch seine Aírata-Gene eine gute Alternative. So oder so ähnlich mussten auch Fledermäuse sehen, dachte er.

     Aus einiger Entfernung hörte er jemanden leise um Gnade bitten. Er flog in die entsprechende Richtung, landete etwa hundert Meter entfernt an einer Stelle, wo niemand ihn sehen konnte und ging dann, in seiner aktuellen Form auf die wimmernde Stimme zu. Durch den Nebel hindurch konnte er mehrere Leute ausmachen, ein halbes Dutzend junger Männer prügelte auf einen einzelnen Mann ein, der zusammengekauert am Boden lag.

     »Lasst ihn in ruhe!«, schrie er wütend durch den Nebel.

     »Halt dich da raus!«, wurde ihm entgegen gerufen.

     »Oder willst du auch ein paar auf die Fresse?«, fügte eine andere Stimme hinzu.

     Jetzt trat er aus dem Nebel. Seine Augen leuchteten in dem grellen gelb auf und seine Flügel hatte er ausgebreitet.

     »Ich sagte, ihr sollt ihn in ruhe lassen!«, sagte er konsequent.

     Jetzt drehten sich zwei der Männer zu ihm um. Die ganze Truppe schien noch relativ jung zu sein und so wie sie gekleidet waren, schienen sie alle irgendeiner Rechten Gruppierung anzugehören.

     Als die beiden Männer ihn erblickten, erschraken sie. »Verdammte Scheiße! Was bist du denn für einer«, fragte der eine.

     »Euer schlimmster Alptraum«, erwiderte er.

     Jetzt sahen auch die anderen vier Männer auf.

     »Halloween ist erst noch«, sagte einer der vier anderen.

     Jetzt trat er endgültig aus dem Nebel heraus, so dass die Männer nicht nur seine Umrisse, sondern seine ganze Gestallt sehen konnten.

     »Leute, das ist kein Kostüm«, sagte einer der jungen Männer zu den anderen.

     Als er dann seine Handfläche öffnete und ihnen eine grelle Flamme entgegenschlug, suchten die Männer das Weite und ließen ihn und den Mann, den sie zuvor verprügelt hatten allein in der nebeligen Nacht zurück.

     »Danke«, klang es leise von unten.

     Er kniete sich nieder und beäugte den jungen afrikanisch aussehenden Mann. Der hatte einige deutlich erkennbare Prellungen davongetragen.

     »Du bist ein Aírata!«, sagte der und sah ihm dabei ins Gesicht.

     »Dann kann ich wohl davon ausgehen, dass du ein Traken bist?«, fragte er.

     »Ja, bin ich«, erklärte der Mann. »Kannst du mir hoch helfen?«

     »Du bist verletzt. Bleib erstmal liegen!«, bat er den Mann. »Vielleicht kann ich da was machen.«

     Er streckte seine Hände aus und konzentrierte sich. Seine Acan-Gene fingen an zu wirken. Nach kurzer Zeit hatte er allerdings keine Kraft mehr und musste aufhören, seine Heilerfähigkeiten einzusetzen.

     »Tut mir leid. Ich bin halt nur zu einem kleinen Teil Acan«, versuchte er sich zu rechtfertigen.

     »Ist doch in Ordnung. Es geht schon wieder. Danke.« Der Mann erhob sich aus eigener Kraft und reichte ihm die Hand.

     »Roket Scitra«, erklärte er. »Und wie heißt du?«

     »Cono«, brach es aus ihm heraus. »Einfach Cono.«

     »Hat das irgendeine Bedeutung?«, fragte der Traken. »Ich hab mit den Bareth noch nicht allzu viel zu tun gehabt. Eigentlich bist du der erste, dem ich begegne.«

     »Ich bin kein Bareth«, erklärte er. »Ich bin eigentlich eher das, was die Autarki einen Nabani nennen und ich trage auch keine Bareth-Gene in mir. Die Spezies, von der ich meine Aírata-Gene hab, gilt offiziell als ausgestorben.«

     »Bist du ein …? Wie nennen es die Autarki …?« Der Mann überlegte einen Moment. »Rikon?«

     »Du meinst Rekon? Ja, bin ich«, erklärte er.

     »Und zu welchem Stamm gehörst du?«, wollte der Traken wissen.

     »Zu keinem.« Er sah den Mann an und wartete auf die nächste Frage.

     »Bist du der …«, doch bevor der Mann das Wort Kohen ausgesprochen hatte, verschwand er wieder im Nebel.

     Er flog auf einen der Wohnblocks und setzte sich dort an einer von außen schlecht einsehbaren Stelle nieder. Konnte er wirklich gegen die Lowé angehen? Würde er damit nicht auch den anderen schaden? Die hatten ihm doch nichts getan. Was sollte er jetzt machen? Vielleicht konnte er ihnen ja doch verzeihen. Er würde einfach noch eine Nacht darüber schlafen.

 

Roket ging nach der Begegnung mit dem Kohen, zumindest war es für ihn eindeutig, dass dieser Aírata der Kohen war, direkt zu seinen trakischen Freunden.

     »Wie siehst du denn aus?«, fragte ihn Worshak.

     »Ich bin von einer Gruppe jugendlicher angegriffen worden«, erklärte Roket.

     »Und wie bist du da wieder rausgekommen?«, wollte Begæt wissen.

     »Der Kohen«, entgegnete Roket.

     »Du bist dir ganz sicher?«, vergewisserte sich Worshak.

     Roket nickte.

     »Dann ist es also wahr«, sagte Worshak in die kleine Runde. »Die Wolba Aíra haben durchsickern lassen, dass die Sensoren der Station in der letzten Nacht eine große Energiespitze aufgezeichnet hat.«

     »Zu welchem der Stämme gehört er?«, erkundigte sich Begæt.

     »Wenn ich es richtig verstanden hab, zu keinem«, entgegnete Worshak.

     »Genau dass hat er mir auch gesagt, als ich ihn danach gefragt hab«, ergänzte Roket.

     »Es gibt da wohl Differenzen zwischen ihm und den Lowé«, fügte Worshak hinzu.

     »Einen Krieg unter den Stämmen können wir nicht wirklich gebrauchen.« Roket sah in die Gesichter der anderen. »Die Situation ist schon schwierig genug.«

     »Das ist schon richtig, aber was stellst du dir vor? Was sollten wir da unternehmen können?« Worshak sah ihn fragend an.

     »Na ja. Zu uns wird er wohl nicht kommen. Außerdem sind wir hier zu wenige, um wirklich etwas bewirken zu können«, erklärte Roket. »Aber wenn wir dafür sorgen, dass er in einen der anderen Stämme aufgenommen wird.«

     »Und in welchen?«, wollte Begæt wissen. »Die Wolba Aíra werden ihn wohl kaum aufnehmen, wo ihn die Lowé nicht mögen.«

     »Aber vielleicht die Outsider?!«, sagte Worshak. »Ich werde mich mit ihnen in Verbindung setzen.«

     »Richtig! Die mögen die Lowé auch nicht«, stimmte Roket zu. »Allerdings könnten die Fronten dadurch noch verhärtet werden.«

     »Mag schon sein«, erklärte Worshak. »Aber ich denke auch, dass so niemand einen Krieg anzetteln wird.«

     »OK! Dann setz dich mit den Outsidern in Verbindung«, sagten die anderen zu Worshak.

 

Sie hatte den ganzen Tag verschlafen. Jetzt wachte sie langsam auf. Von draußen warf der Mond sein Licht in ihr Zimmer. Sie stand auf und reckte sich, ging zum Lichtschalter und schalte das Licht ein. Der helle Schein der Deckenlampe veranlasste sie, ihre Augen zuzukneifen. Nur langsam gewöhnte sie sich an diese Helligkeit.

     Ihr Mund fühlte sich trocken an. Auf dem Schreibtisch in der Ecke ihres Zimmers stand eine Wasserflasche. Sie wollte gerade darauf zugehen, als ihr die Flasche entgegen geflogen kam. Anstatt ihren Arm wegzuziehen öffnete sie ihre Hand und die Wasserflasche glitt wie von Geisterhand geführt in ihre Hand hinein.

     Ohne die Situation wirklich zu realisieren öffnete sie die Flasche und trank. Danach stellte sie sie wieder auf dem Schreibtisch ab. Erst da wurde ihr klar was passiert war. Sie ging einen Schritt zurück, sah die Flasche an, dachte daran, sie in der Hand zu halten, und sogleich kam sie wieder angeflogen. Ob dass auch mit anderen Dingen funktionierte? Sie stellte die Flasche wieder ab und richtete ihren Blick dann auf die Fernbedienung ihres Fernsehers. Es geschah dasselbe wie zuvor mit der Wasserflasche. Vielleicht kann ich ja nicht nur Dinge zu mir holen, sondern sie einfach von einem Ort zu einem anderen bewegen, dachte sie.

     Sie richtete ihren Blick wieder auf die Wasserflasche und dachte daran, wie diese im Raum umherfliegen würde: langsam, schnell, hoch, runter, rechts, links. Es funktionierte. Sie hatte ihre Fähigkeiten. Jetzt musste sie nur noch herausfinden, wie sie diese Fähigkeiten einsetzen konnte, um ihn zurück zu gewinnen und einen Kampf zwischen ihm und den Lowé zu verhindern.

     Vielleicht würde ihr Arvid auch dabei helfen. Jetzt wo sie über ihre Fähigkeiten verfügte, würde er ihr sicherlich gestatten, sich einzumischen. Oder doch nicht? Vielleicht sollte sie vorerst doch niemandem von diesen Kräften erzählen.

 

Christy holte ihr Handy aus ihrer Handtasche. Darüber musste sie die anderen sofort in Kenntnis setzen.

     „Der Kohen, er ist hier bei uns aufgetaucht. Bisher gehört er zu keinem der Stämme und er steht sich mit den Lowé nicht besonders gut. Vielleicht können wir ihn dazu bewegen, sich uns anzuschließen, zumindest, wenn wir ihn ausfindig machen können.“ Sie tippte gleich mehrere Empfängernummern ein und drückte dann auf senden.

     Einen Moment später hatte sie bereits die erste Antwort: „Wir sollten uns heute Nachmittag zusammensetzen und darüber sprechen“, hatte Tomé geschrieben.

     Eine weitere Nachricht kam nicht. Scheinbar hatte er die Nachricht auch gleich an sämtliche Leute weitergeschickt.

     Sie ging durch die Stadt in Richtung ihrer Wohnung. In der Einkaufsstraße lief ihr einer ihrer Freunde über den Weg. Er war ein Mensch, hatte von all dem keine Ahnung, so wie die meisten anderen auch.

     »Hallo! Wie geht’s?«, fragte er.

     »Gut! Danke!«, gab sie lächelnd zurück.

     »Wir sehen uns Montag?«, fragte er.

     »Wenn ich es schaffe«, erklärte sie. »Wenn nicht, grüß die anderen von mir.«

     »OK. Dann bis demnächst mal wieder.«

     Christy ging weiter. Irgendwie war er heute anders als sonst, dachte sie. Er hatte sich verändert. Sie kannten sich noch nicht allzu lang, trotzdem hatte sie das Gefühl, dass er sich verändert hatte. Er war ziemlich nett und wenn er einer von ihnen gewesen wäre, hätte sie sich vielleicht sogar eine Beziehung mit ihm vorstellen können, zumindest, wenn sie nicht schon vergeben gewesen wäre.

     Sie schaltete ab. Momentan gab es wichtigere Dinge, über die sie nachdenken musste. Sie mussten den Kohen auf ihre Seite ziehen, nur so konnten sie verhindern, dass, wenn die Stämme vereint würden, die Lowé die Führung für sich beanspruchen konnten.

 

Es war wieder Nacht geworden. Seine Armbanduhr zeigte inzwischen elf Uhr abends. Draußen war wieder Nebel aufgezogen und bedeckte die Straßen und Gassen der Stadt mit einem dichten Schleier.

     Heute ließ er Pullover, Hemd und Jacke gleich zu Hause. Er ging vor die Haustür, zog den Nebel um sich und lief los. Kurze Zeit später hatte er wieder einen ruhigen und uneinsehbaren Ort gefunden und er verwandelte sich dort.

     Um diese Uhrzeit waren die Straßen relativ leer und dank des Nebels konnte er sowieso fast unbemerkt durch die Straßen und Gassen ziehen. Mitten in der Stadt stieß er auf eine kleine Gruppe, die scheinbar auf jemanden wartete. Auf ihn? Mit seinen Augen konnte er durch den Nebel nur wenig sehen, aber auch mit seinem Ultraschall, den er seinen Aírata-Genen zu verdanken hatte, konnte er nicht mehr als die Umrisse der Leute sehen, und etwas, das einer von ihnen hinter seinem Rücken in den Händen hielt, etwas, das aussah, wie eine Schusswaffe.

     Er ging ein paar Meter zurück, erhob sich leise in die Lüfte und suchte sich einen erhöhten Aussichtspunkt. Dann formte er mit seinen Kräften eine in Größe und Statur ihm ähnliche Figur aus Eis und Nebel und schickte sie auf die Gruppe zu.

     »Na, wenn das mal nicht der Typ ist, der sich als Kohen ausgibt«, sagte einer aus der Gruppe und richtete sich dabei an die Eisfigur die aus dem Nebel auftauchte.

     Ein Sprachrohr aus Eis, verband seinen Kopf mit dem der Eisfigur. Dadurch sagte er: »Ich hab nie gesagt, ich wäre der Kohen«

     »Bist du ja auch nicht«, entgegnete ein anderer aus der Gruppe. »Du bist ein Ekwinocs!«

     »Ich dachte immer, die Ekwinocs zählen zu den Worascha«, sagte er und bewegte die Eisflügel der Skulptur hin und her. »Von einem Worascha bin ich ja wohl weit entfernt.«

     »Du trägst aber auch Ekwinocs-Gene in dir«, erklärte der, der ihm am nächsten stand.

     »Na ja, wenn man es so sieht. Ihr tragt ein paar Autarki-Gene in euch und nennt euch danach Autarki, dann muss ich ja ein Ekwinocs sein, weil ich einige wenige Ekwinocs-Gene in mir trage«, erklärte er gereizt. »Genauso gut könnte man mich auch als einen Autarki, einen Acan oder aus eurer Sicht als einen Bareth bezeichnen, wenn das letztere allerdings nicht auf mich zutrifft.«

     »Halt die Klappe«, schrie einer aus der Gruppe der Eisskulptur entgegen. »Du willst uns doch nur verwirren.«

     Derjenige mit der Waffe holte diese hervor und schoss auf die Eisfigur. Diese zerbrach in tausend Einzelteile. Doch fast genauso schnell, wie sie zerbrochen war, stand sie auch wieder aufrecht.

     »Was sollte das denn?«, fragte er in die Runde.

     »Was bist du?«, wollten jetzt gleich mehrere aus der Gruppe wissen.

     »Ich stamme vom Nordpol der ekwinokinischen Heimatwelt«, sagte er und lachte spöttisch. »Wir bestehen da alle aus Eis und sind unzerstörbar.«

     Aus einiger Entfernung kamen Stimmen auf ihn und die Gruppe der Lowé zu. Ein weiterer Schuss fiel aus der Waffe des Lowé und zerstörte die Eisskulptur ein zweites Mal. Jetzt kamen die Stimmen schnell näher.

     Als die Personen durch den Nebel kamen, rief jemand aus der neu eingetroffenen Gruppe: »Das sind Lowé! Schnappen wir sie uns.«

     Die Lowé flüchteten aufgrund der Übermacht der Neuankömmlinge.

     »Verdammte Outsider«, hörte er einen der Lowé noch rufen, bevor sie in der Nacht nicht mehr auszumachen waren.

     Inmitten der Outsider erhob sich ein drittes Mal die Figur aus Eis und Nebel.

     »Hallo!«, begrüßte er die Neuankömmlinge, die alle mit dem Rücken zu der Figur standen.

     Sie erschraken und drehten sich um.

     »Ihr seit auch auf der Suche nach mir?«, fragte er.

     »Hm, ja«, antwortete Christy.

     »Aber ihr wollt mich nicht auch umbringen, oder?«, wollte er wissen, obwohl er die Antwort kannte.

     »Nein«, entgegnete Tomé. »Wir wollten dich fragen, ob du einer von uns werden willst?!«

     »Ihr wollt den Aírata aufnehmen? Wie wäre es, wenn ihr anstatt ihm den Menschen dahinter aufnehmen würdet?«, fragte er.

     »Wenn du uns sagst, wer der Mensch dahinter ist«, erklärte Tomé.

     »Jemand unter euch kennt den Menschen dahinter«, entgegnete er.

     »Und wer von uns ist das?«, wollte Tomé wissen.

     »Diejenige von euch, die zurückbleiben wird, während die anderen von euch nach Hause gehen.« Er drehte die Skulptur in Christys Richtung.

     Christy nickte den anderen zu und die verließen den Ort. Er ließ die Eisskulptur im Nebel verschwinden und kam selbst auf den Boden herunter und ging auf Christy zu.

     »Hast du Angst?«, fragte er sie.

     »Ein bisschen«, gab Christy zu.

     »Halt dich fest!« Er legte seine Arme um sie, sie hielt sich an ihm fest und er flog mit ihr auf eines der Häuserdächer. Dort setzte er sie ab und setzte sich auf dem Flachdach nieder.

     »Wieso sagst du, ich wüsste wer du bist?«, fragte sie ihn.

     »Weil es so ist«, erklärte er mit sanfter Stimme. »Wir sind uns heute erst begegnet.«

     »Ich bin heute vielen Leuten über den Weg gelaufen und viele davon kenne … ich«, erklärte sie. Sie sah ihn an und fragte erstaunt: »Seb…?«

     »Ja, genau der«, entgegnete er.

     »Und? Kommst du zu uns?«, fragte sie nachdem sich ihre Überraschung gelegt hatte.

     »Sieht ganz danach aus«, entgegnete er. »Komm! Ich bring dich wieder runter.«

     Sie hielt sich an ihm fest und er flog sie wieder hinunter auf die Straße.

     »Wir sehen uns Montag, dann sprechen wir noch mal über die Einzelheiten«, sagte er. Sie nickte zustimmend, drückte ihn und küsste ihn auf die Wange. Dann verschwanden beide in der Dunkelheit der Nacht.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.12.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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