Maria Thermann

Es Wird Langsam Zeit - Teil 2

 

John Cook sah auf Sarah Halls Leiche herab und seufzte.

 

        „Du armes Mädchen, was hätten wir dir für ein Unrecht angetan, wenn’s den Giles nicht gegeben hätte!“

 

Er beugte sich über den kleinen, mageren Körper und zog behutsam eine winzige Daunenfeder aus Sarahs Nasenloch. Es steckten noch mehr Daunen dahinter und John hatte keine Zweifel mehr.

 

        „Du bist ermordet worden. Giles hatte recht!“

 

Da Sarah des Selbstmordes angeklagt worden war, hatte der Pfarrer keinen Zutritt zum Kirchengelände gewährt. John hatte Sarahs Leiche in einen kühlen unbenutzten Weinkeller bringen lassen, damit ihr Körper in der heißen Sommerluft nicht zu schnell verfiel. Das flackernde Licht der Kerzen warf lange Schatten an die gewölbte Kellerwand und Joseph Moore, der seine Gaststube gerade hatte schließen wollen und sich eigentlich auf dem Wege zur Wittwe Mackley befand, war als Zeuge praktisch von John entführt worden.  Missmutig hatte er dem Geschehen zugesehen, aber jetzt leuchteten seine Augen auf.

 

        „Mord? Aber das ist ja…nicht zu fassen! Wer kann so etwas Furchtbares getan haben?“

 

        „Das werden wir herausfinden, Joseph! Ich schulde es dem Kind. Vor allen Zeugen habe ich sie beschuldigt, sich selbst ein Leid zugefügt zu haben. Ihre armen Eltern waren dem Gespött und Unmut der Nachbarn ausgesetzt, nicht einmal der Pastor wollte das arme Kind im Friedhof aufnehmen. Mein eigener guter Ruf steht mit Sarahs auf dem Spiel!“

 

        „Machen Sie sich keine Vorwürfe, Sir. Bei den vielen Selbstmorden diesen Monat ist es kein Wunder, dass wir alle getäuscht wurden.“

 

John Cook sah Joseph bedeutungsvoll an. Im gespenstischen Licht des Kellergewölbes bot Joseph trotz alledem eine komische Erscheinung dar. Sein rosiges, rundes Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen und dem offenen Mund ließ an ein Kind erinnern. Josephs braunes Haar stand ihm zu Berge und er hatte sich vor Erstaunen auf seinen Hut gesetzt.

 

        „Was denn, die anderen Kinder haben sich auch nicht selbst erhängt?“

 

        „Joseph, wir müssen das Schlimmste befürchten!“ John Cook breitete ein altes Laken über der Leiche aus und setzte sich neben Joseph auf die Holzbank. „Als Gerichtsmediziner ist es meine Pflicht, dieser Sache nachzugehen. Kennen Sie die Familien der beiden anderen Kinder?“

 

        „Die Eltern von Rob Palmer kenne ich nur flüchtig, aber die Witwe Mackley…erm…nun ja, die kenne ich halt ein bisschen besser.“

 

Selbst im Kerzenschein konnte John sehen, dass Josephs Wangen glühten. Also zur schönen Wittwe hatte Joseph in seinem besten Hemd und Hose heute Nacht eilen wollen!

 

        „Nun ja, da Sie die Witwe ein wenig kennen, möchte ich, dass Sie die arme Frau auf einen Schock vorbereiten. Wir müssen ihren kleinen George noch mal ausgraben. Ich werde persönlich zu den Palmers und den Halls gehen und sie darauf vorbereiten. Dann werde ich mir vom Richter und vom Pastor Genehmigung holen müssen!“ John stand auf und wusch sich die Hände in dem Wasserkübel, den der reiche Besitzer des Weinkellers vorsorglich bereitgestellt hatte.

 

Sie befanden sich in den weitläufigen Gebäuden des Händlers Thurston. Bereits im 14. Jahrhundert hatte seine Familie mit dem Bau der Warenlager und der Wohnhausanlage begonnen. John Cook mietete einige Räume vom Händler, der als ein moderner Mann Interesse an den sich entwickelnden Wissenschaften hatte. Die Medizin hatte es ihm besonders angetan, da er sich stets einbildete, an irgendeiner Krankheit zu leiden. John wusste, dass Händler Thurston kerngesund war und vermutete, dass Händler Thurstons wirkliche Krankheit aus zu viel Freizeit und viel zu viel Leidenschaft für eine gewisse Charlotte Perfect bestand. Die rothaarige Bedienung arbeitete in Josephs Gaststätte. Thurstons erste Frau war vor Jahren gestorben und da Thurston das Geschäft zum großen Teil seinem ältesten Sohn Samuel überließ, hatte Thurston Senior oft Gelegenheit im Wounded Hart Inn einzukehren und Charlotte bei der Arbeit zuzusehen.

 

        „Joseph, bis wir mit den Familien der Kinder gesprochen haben, darf niemand erfahren, was wir entdeckt haben. Ich verlasse mich auf Ihre Verschwiegenheit!“

 

Joseph legte einen dicken Zeigefinger auf seine Lippen und reichte John die Hand. John ergriff die Schaufelgrosse Hand des Wirtes und schüttelte sie dankbar. Sie trennten sich am Südtor des Händlerhauses. Joseph trug seine Liebesgaben, nämlich seinen Korb mit Brot, Käse und Ale, zur attraktiven Wittwe Mackley und John machte sich auf den Weg zur Familie Palmer.

 

        „Und…hatte ich recht?“ Eine nicht ganz unbekannte Stimme flüsterte ihm aus einer dunklen Gasse zu.

 

John hielt seine Laterne etwas höher und das blasse Gesicht von Giles Gimingham erschien wie aus dem Nichts. John nickte traurig.

 

        „Ich sah wie Sie Sarah auf einer Bahre hier hertragen ließen. Ich wette, der Mörder hat gedacht, er hat’s so einfach mit der Selbstmordgeschichte! Hah, da hat er sich aber verzettelt. Mich wird er schon noch kennen lernen!“

 

        „Giles, sei bitte vorsichtig. Überlasse es lieber mir, die Untersuchungen weiterzuführen. Wenn ich Recht habe, dann sind deine Freunde auch Opfer dieses Monsters geworden! Aber das muss ich erst noch beweisen.“ John legte seinen Arm um Giles’ magere Schultern. „Kannst du mich zu den Palmers führen? Ich muss mit ihnen sprechen.“

 

Nachdem alle Familien entsetzt und verstört ihre Einwilligung zur Öffnung der Gräber gegeben hatten, musste John den Richter und den Pastor von seinem Vorhaben unterrichten. Keiner der beiden Herren war sehr erpicht, wegen der armen Weberkinder so einen Skandal heraufzubeschwören. Eine Welle von Selbstmorden in der Stadt war schon schlimm genug, aber wenn’s herauskam, ein Mörder trieb sein Unwesen, wer würde nach King’s Lynn kommen, um Handel zu treiben? John brauchte lange, bevor er die Einwilligung beider Ehrenmänner erhielt.

 

Sie hatten sich auf einem Stück Land neben dem Friedhof versammelt. Ein Käuzchen schrie und der Wind frischte auf. Der 29. Juli 1690 war ebenso heiß wie der Vortag gewesen. Der Nachthimmel bewölkte sich und ein fernes Grollen erschall, als der Leichenbestatter und sein Gehilfe den ersten Spatenstich vornahmen. John Cook, Joseph Moore, die Palmers und Wittwe Mackley standen mit Pastor Piety in einiger Entfernung der Gräber. John musterte Joseph und vermutete, dass Joseph es viel besser gefunden hätte, wenn sich die Wittwe an seinen Arm und nicht an den des Pastors geklammert hätte.

 

Das Geräusch der emsigen Spaten brachte den Augenblick näher, an dem Johns medizinisches Wissen gefordert werden würde und ein Urteil über das Schicksal der Kinder notwendig sein würde. Das Grollen des Himmels schien ein schlechtes Zeichen zu sein.

 

John untersuchte beide Leichen und fand dieselben Daunenfedern in ihren Nasenlöchern. Alle drei Kinder waren mit einem Kissen erstickt worden, bevor sie aufgehängt worden waren. Die ersten Regentropfen fielen auf Johns zitternde Hände und er zwang sich zur Ruhe. Das Zittern hörte augenblicklich auf und er half den Leichenbestattern, die kleinen Körper zurück in die Särge zu legen. John wandte sich an die versammelten Leute und übermittelte die erschreckende Nachricht.

 

        „Wir haben einen Kindesmörder in der Stadt. In seiner Grausamkeit raubt er seinen Opfern sogar die letzte Ruhe und Seelenheil in geweihter Erde. Das soll ihm aber nicht gelingen, nicht wahr Pastor Piety?“ John sah den Pastor streng an.

 

Der Pastor räusperte sich und stammelte, dass die Leichenbestatter die Särge nebenan zum Friedhof bringen könnten. Er würde dafür sorgen, dass alle drei Kinder in der geweihten Erde der Kirche zur Ruhe gelegt werden würden. Die Leichenbestatter murmelten etwas von extra Bezahlung und John drückte ihnen einige Münzen in die Hände. Herr Palmer und Joseph halfen, die Särge zu tragen. John sah der traurigen Prozession nach und kratzte sich den Kopf. Was sollte jetzt geschehen?

 

Ein Blitz fuhr durch den Himmel und ein Donnerschlag schreckte John aus seinen Gedanken. Im grellen Licht sah er für einen Augenblick zwei Schatten hinter einer Buche hervor kriechen.

 

        „Das hätte ich mir denken können! Und wen hast du da mitgeschleppt, Giles?“ stöhnte John, als Giles mit einem anderen Jungen zusammen hinter einer mächtigen Eiche hervortrat.

 

        „John Inman Junior zu Ihren Diensten, Sir!“ grüßte John Inman förmlich und verbeugte sich vor ihm. Ein zweiter Blitz durchfuhr den Himmel und ein ohrenbetäubender Donnerschlag folgte.

 

        „Ich habe noch einen Spürhund mitgebracht!“ grinste Giles. „Gehen wir jetzt endlich auf Mörderjagd?“

 

Bevor John Cook antworten konnte, durchzuckte ein neuer Blitz die Nacht und erhellte für einen Moment den schaurigen Ort. John blinzelte und glaubte, im grellen Licht einen Mann fort schleichen zu sehen. Ein weiterer Donnerschlag krachte und John rieb sich die Augen. Der Mann war verschwunden. Was für ein Spuk, er sah schon Gespenster!

 

Der Himmel öffnete alle Pforten und Regen prasselte herab. John schob die beiden Jungen vor sich her und sie flüchteten sich unter das Dach eines kleinen Geräteschuppens, der an der äußeren Mauer des Friedhofs stand. Die Jungen schüttelten die Regentropfen aus ihren Haaren und Gesicht und schauten John Cook erwartungsvoll an.

 

Wo sollte er mit der Suche beginnen? Alle Spuren im Haus der Palmers und bei der Wittwe Mackley würden inzwischen verschwunden sein. Emsige Hände hatten die Böden gefegt, die Schemel wieder aufgestellt, die Stricke verbrannt. Er kratzte sich so heftig den Kopf, dass sein blondes Haar hoch stand und ihn jünger erscheinen ließ als er eigentlich mit seinen dreißig Jahren war. Eigentlich sollte er mehr auf seine Instinkte hören, dachte er. Wenn er Rob Palmers Tod nicht so schnell als Selbstmord abgetan hätte, wer weiß was für Spuren im Haus gefunden worden wären. Instinkt, nicht Wissen aus Büchern, darauf kam es bei einem guten Gerichtsmediziner an!

 

John drehte sich abrupt um und starrte auf die offenen Gräber. Er rannte in den Regen hinaus und suchte den Boden ab. An einer Stelle stand ein verfallenes altes Holzkreuz, dass man einem Kind gegönnt hatte, dass ohne Taufe verstorben war. Der Regen wusch bereits die tiefen Fußspuren fort, die hinter dem Kreuz zu sehen waren. John hob seine Laterne höher und folgte der Spur mit den Augen. Einige Meter weiter lag etwas im Schlamm. Er bückte sich und hob das kleine weiße Ding auf. Eine Ton Pfeife lag neben den Fußspuren. John Cook rieb den Matsch ab und besah sie. Sein erstes Beweisstück? Er steckte sie sorgfältig in seine Jackentasche.

 

        „Wer war wohl unser ungebetener Gast frage ich mich?“ murmelte John und glättete sein nasses Haar wieder. Er blickte auf die zwei Jungen, die unter dem Dach des Schuppens warteten. John seufzte und entschied, seinem Instinkt noch einmal zu vertrauen.

 

        „Es wird langsam Zeit, die Spürhunde loszulassen, glaube ich!“

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.12.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Meine Gedanken bewegen sich frei von Andreas Arbesleitner



Andreas ist seit seiner frühesten Kindheit mit einer schweren unheilbaren Krankheit konfrontiert und musste den größten Teil seines Lebens in Betreuungseinrichtungen verbringen..Das Aufschreiben seiner Geschichte ist für Andreas ein Weg etwas Sichtbares zu hinterlassen. Für alle, die im Sozialbereich tätig sind, ist es eine authentische und aufschlussreiche Beschreibung aus der Sicht eines Betroffenen.

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