Klaus-Peter Behrens

Artefaktmagie, Teil 16

Oben angekommen, stolperte Michael mitten in ein heilloses Durcheinander. Offensichtlich hatten die Piraten nicht damit gerechnet, nun ihrerseits geentert zu werden und waren von der schwertschwingenden Amazone völlig überrascht worden, die plötzlich in ihrer Mitte aufgetaucht war. Glyfara hatte diesen Vorteil ohne zu zögern ausgenutzt. Das Schwert in ihrer Hand surrte gnadenlos durch die Luft und machte keinen Unterschied zwischen Troll, Mensch oder Gobelin.
Alle wurden gleichermaßen niedergemäht.
Michael schätzte, daß ungefähr noch zwanzig Piraten auf den Beinen waren, aber das konnte sich rasch ändern. Die Ablenkung ausnutzend, hatten die Zwerge nun ihre Chance ergriffen.
Michael sah einen der Piraten, mit dem sich Glyfara gerade einen mörderischen Kampf lieferte, plötzlich mit einem erstickten Aufkeuchen nach vorne sinken. Angewidert wandte Michael den Blick ab, als er die Ursache hierfür entdeckte.
Eine Wurfaxt steckte tief im Rücken des Piraten.
Im gleichen Moment entdeckte Michael den Besitzer derselben. Mit grimmiger Miene hielt er auf einen weiteren Piraten zu, dem gerade Glyfaras Aufmerksamkeit zuteil geworden war. Michael tat der Pirat fast leid. Von der mörderischen Streitaxt, die der Zwerg in den Händen hielt, tropfte noch immer das Blut seines letzten Opfers.
Erschüttert wandte Michael sich ab und machte sich auf die Suche nach einer Waffe. Bisher hatte er Glück gehabt und war noch nicht angegriffen worden, aber er wollte sein Glück auch nicht überstrapazieren. Sein Blick fiel auf einen rostigen Säbel, der neben einem in Stücke gehauenen Unhold auf den blutgetränkten Planken lag. Dankbar griff Michael zu.
Nun war er wenigstens bewaffnet, auch wenn ihm das im Zweifel nicht viel nützen würde. Ein kurzer Rundblick bestätigte ihm, daß die Piraten allmählich in Panik gerieten, denn die finsteren Axtträger hatten die kurze Ablenkung genutzt und droschen nun mit neuer Energie auf ihre Gegner ein. Einige der wenigen Realisten unter den Piraten erkannten, daß ihr Heil nur noch in der Flucht lag und verschwanden über Bord. Der Rest kämpfte verbissen weiter.
Im Bug war inzwischen Glyfara von drei Gegnern in die Enge getrieben worden. Der Überraschungseffekt war schon lange verpufft, und Michael sah mit Entsetzen, daß die Elbin ihren Angreifern kaum gewachsen war. Wenn ihr etwas passieren sollte, würde er im besten Fall für alle Zeiten hier festsitzen. Er mußte etwas tun! Seine Finger traten weiß hervor, als er den Säbelgriff fest umschloß und losstürmte. Geschickt wich er dabei einigen, halbherzig geführten Schlägen der an Deck sich heftig Bekämpfenden aus, als ihm plötzlich einer der Zwerge im Weg stand, der gerade seinen Gegner erledigt hatte. Von seiner Axt tropfte noch das Blut des Unglücklichen. Ein bösartiger Ausdruck trat in die Augen des Zwergs, als er den wie erstarrt dastehenden Michael ansah.
„Ich bin auf eurer Seite“, schrie dieser in höchster Panik, als der Zwerg zum tödlichen Schlag ausholte.
„Auf unserer Seite?“
Wie ein Damoklesschwert schwebte die Axt über dem Kopf des Zwerges.
„Ich erkläre es dir später“, erwiderte Michael und rannte weiter. Verblüfft sah ihm der Zwerg hinterher. Sollte dieser Junge etwa zu der unbekannten Amazone gehören, die dazu beigetragen hatte, daß sich das Kampfglück gewendet hatte. Nachdenklich fuhr er sich mit seiner freien Hand durch seinen grauen Bart, dann traf er eine Entscheidung. Falls ja, dann konnte dieser Junge ein wenig Unterstützung gebrauchen und falls nicht....
Michael hatte sich inzwischen zum Bug vorgekämpft und stand nun vor seinem nächsten Problem. Er hatte keine Ahnung, wie er in den ungleichen Kampf eingreifen sollte. Die vier Kämpfer wirbelten wie die Derwische hin und her und ihre Waffen erzeugten dazu eine tödliche Melodie von klingendem Stahl. Als einer von Glyfaras Gegnern ein Stück in seine Richtung zurück tänzelnde, nutzte Michael die Gelegenheit und schlug mit seinem Säbel zu. Sein ungeschickt ausgeführter Schlag prallte jedoch, ohne allzuviel Schaden anzurichten, von  der stahlverstärkten Lederweste des Piraten ab. Wütend fuhr der Pirat herum. Es war einer der Trolle, deren Gesichter aussahen, als seien sie direkt aus Stein gefertigt. Offensichtlich schätzte er es nicht, von hinten angegriffen zu werden, denn der ausgeprägte Unterkiefer, schob sich angriffslustig vor.
„Du bist fällig“, knurrte er und hob seine mit rostigen Eisennägeln versehene Keule. Mit tödlicher Präzision fuhr diese auf Michael hinunter, der im letzten Moment zur Seite auswich, so daß die Keule mit einem splitternden Geräusch dort auftraf, wo er eben noch gestanden hatte. Innerlich beglückwünschte er sich für die Entscheidung, im letzten Sommer so viel Football gespielt zu haben. Er bezweifelte jedoch, daß er einem weiteren Schlag würde ausweichen können.
Inzwischen hatte der Troll die Keule wieder aus dem Holz gezerrt und setzte Michael nach, der, den Säbel hilflos vor sich haltend, zurückwich. Fast ein wenig amüsiert betrachtete der Troll mit seinen, an schwarzen Granit erinnernden Augen die hilflose Abwehrgeste seines Opfers. Michael schluckte nervös. Dann griff der Troll erneut an. Der Schlag kam so überraschend, daß Michael ihn gar nicht richtig wahrnahm. Eben hatte sein Gegenüber die Keule noch lässig in der rechten Hand hinunter hängen lassen, im nächsten Moment flog diese plötzlich mit der Geschwindigkeit eines Überschalljets seitlich auf ihn zu. Ausweichen war unmöglich. Aber anstatt den tödlichen Schlag zu empfangen, klingelten Michaels Ohren plötzlich nur heftig von einem klirrenden Geräusch wieder. Eine riesige Streitaxt hatte sich im letzten Moment zwischen Michael und die Keule des Trolls geschoben und so den tödlichen Schlag gestoppt.
„Ich mag es nicht, wenn man unsere Verbündeten umbringt“, knurrte der Zwerg, der einen Augenblick zuvor beinahe selbst Michael umgebracht hatte.
„Danke“, brachte dieser zitternd hervor, doch der Zwerg hörte ihn schon nicht mehr. Mit konzentrierten Schlägen trieb er bereits den Troll an die Reling zurück. Der erkannte, daß er dem wütenden Zwerg nicht gewachsen war und entschied, lieber freiwillig über Bord zu gehen. Mit einem dumpfen Krachen landete er in dem tiefer liegenden Boot der Gefährten. Ein begeistertes „Beißen“ ertönte von unten herauf. Fast bedauerte Michael den Piraten, als ein paar spitze Schreie von unten herauf erklangen. Zum Bedauern blieb ihm allerdings wenig Zeit, denn einer der Hyänenpiraten hatte nun Michael entdeckt und schlug sofort mit seinem Krummsäbel nach ihm. Verzweifelt riß Michael seine Waffe hoch, die von der Wucht, mit der die Klingen aufeinander prallten, in seiner Hand vibrierte. Schrittweise wich er, nach einem Fluchtweg Ausschau haltend, zurück. Der Pirat setzte sofort nach. Erneut prallten die Säbel aufeinander, und es kam einem Wunder gleich, daß keiner der Schläge sein Ziel fand. Michaels kompletter rechter Arm schmerzte nun höllisch, und er hatte wenig Hoffnung, den nächsten Angriff zu überleben. Sein Gegner sah das offensichtlich ähnlich. Triumphierend hob er sein Krummsäbel, als seine Augen plötzlich aus den Höhlen zu treten drohten. Ein hoher Schrei entfuhr seiner Kehle. Ohne zu zögern nutzte Michael die Situation aus und trat seinem Gegenüber mit aller Kraft zwischen die Beine, der daraufhin noch höher quietschte und jedes Interesse an einem Angriff verlor. Der Säbel entglitt kraftlos seiner Hand und polterte an Deck, dann brach er noch immer vor Schmerz kreischend zusammen.
„Gggrrrrr“, knurrte der Wühler, der das Bein des Unglücklichen zwischen seinen Zähnen zermahlte.
„Wie bist du denn so schnell hier hoch gekommen“, wunderte sich Michael beim Anblick des Wühlers, wobei er fürsorglich die Qualen des Piraten beendete, indem er ihm mit dem Säbelgriff wuchtig auf den Schädel schlug. Das Kreischen erstarb, als habe jemand einen Schalter umgelegt.
„Klettern“, erwiderte der Wühler, der bedauernd das Bein seines Opfers wieder frei gab. Ohne das Kreischen machte es einfach nur halb so viel Spaß.
Michael warf einen kurzen Blick auf die Wunde des Piraten, die eine echte Herausforderung für jeden Chirurgen sein würde. Der Wühler hatte wirklich scharfe Zähne. Michael betrachtete ihn mit Respekt und Dankbarkeit zugleich. Wäre er nicht gewesen .....  Ein kräftige Hand, die sich plötzlich auf Michaels Schulter legte, erschreckte ihn derart, daß er seinen Säbel fallenließ und so beinahe den Wühler aufspießt hätte, der daraufhin ärgerlich knurrte. Energisch riß Michael sich los und drehte sich um. Vor ihm stand ein Zwerg. Michael vermutete, daß es sich um den Zwerg von vorhin handelte, denn die riesige Streitaxt in seiner Hand kam ihm bekannt vor. Andererseits sahen für ihn sahen alle Zwerge irgendwie gleich aus. Der Zwerg seinerseits sah ihn prüfend an.
„Wer bist du, und was machst du hier?“
Seine Stimme, die tief und bedrohlich klang, wollte nicht so recht zu seiner Körpergröße passen.
„Wenn du mich noch mal so zu Tode erschrickst, wirst du es nie erfahren“, murmelte Michael, dessen Herz laut hämmerte. „Also, ich bin Michael, das dort unten ist ....“, Michael zögerte, weil ihm plötzlich einfiel, daß sie dem Wühler noch keinen Namen gegeben oder ihn nach seinem gefragt hatten, „...der Wühler und dort hinten kämpft Glyfara, die dringend Hilfe gebrauchen könnte.“
„Grimmbart, aus dem Geschlecht der Zwerge, Sohn von Goldaxt“, erwiderte der Zwerg würdevoll, der keine Anstalten machte, der Elbin zu helfen. „Deine Antwort erklärt immer noch nicht, was du hier machst.“
„Können wir das nicht auf später verschieben? Außerdem hast du jetzt andere Probleme.“ Mit ausgestrecktem Arm wies Michael auf einen wütenden Troll, der sich mit erhobener Keule dem Zwerg näherte. Aus einer tiefen Wunde über der rechten Augenbraue sickerte Blut und sein linkes Bein, das eine häßliche, klaffende Wunde aufwies, zog er nach. Aber das schien ihm nichts auszumachen, sondern seine Wut nur noch anzufachen. Entsetzt registrierte Michael, das an den rostigen Eisennägeln der Keule Teile hingen, die er lieber nicht näher identifizieren wollte.
„Viel Spaß noch“, verabschiedete er sich daraufhin von dem kampfbereiten Zwerg und hastete zu Glyfara hinüber. Dort hatte der Wühler gerade seine Zähne in das Hinterteil eines der beiden Angreifer geschlagen. Dieser schrie erschrocken auf, brach jedoch sofort mit einem Gurgeln ab, als Glyfaras Schwert sich unterhalb der Rippen in seinen Körper bohrte und aus seinem Rücken wieder austrat. Das brachte den zweiten Piraten ins Grübeln. Glyfara ließ ihm keine Zeit zum Überlegen. Mit einem Ruck zog sie das Schwert heraus und  wirbelte kampfbereit um die eigene Achse, wobei ihr Schwertarm einen tödlichen Kreis beschrieb. Das geführte Schwert zischte bedrohlich, und nur ein hastiger Sprung rückwärts rettete den Piraten vor einem vorzeitigen Ruhestand. Allerdings stolperte er dabei über eine Taurolle an Deck und brach rückwärts durch die Reling. Mit einem Platschen versank er im Wasser. Bedauernd blickte der Wühler ihm durch die zerbrochene Reling hinterher. „Schade“, knurrte er.
„Vorsicht, Kopf runter!“
Die plötzliche, lautstarke Warnung Glyfaras ließ Michael erstarren. Dafür reagierte die Elbin mit einer Schnelligkeit, die Michael verblüffte. Wie von Zauberhand erschien ein Wurfmesser in ihrer linken Hand, das sie mit aller Kraft unterhand in seine Richtung warf. Michael konnte das Pfeifen der Klinge hören, als diese haarscharf an seinem Kopf vorbei flog. Ein zorniges Brüllen belegte, daß sie ihr Ziel gefunden hatte und bewirkte zugleich, daß Michael aus seiner Erstarrung erwachte. Panisch drehte er sich um. Hinter ihm stand ein Troll, der sich gerade mit vor Schmerz verzehrtem Gesicht Glyfaras Messer aus der Brust zog. Der Blick, mit der er die heranstürmende Elbin bedachte, war mörderisch. Wie Stricke traten die Muskeln seines tätowierten Oberarms hervor, als er die stachelbewehrte Keule zum Angriff hob. Im nächsten Moment trafen Schwert und Keule aufeinander. Hilflos beobachte Michael den wilden Kampf, der vom stählernen Rhythmus, mit dem die Waffen aufeinander trafen, begleitet wurde. Es war ein ausgeglichener Kampf. Geschmeidigkeit gegen rohe Kraft. Während die Elbin zu einem Hieb ansetzte, der auf die Enthauptung des Trolls gerichtet war, konterte dieser mit einem seitlichen Schlag, der Glyfara beinahe in zwei Teile gespalten hätte. Lauernd umkreisten sie sich in einem tödlichen Ballett, jeder darauf bedacht, eine Lücke in der Deckung des anderen zu finden. Ein plötzliches Jaulen ließ Michael herumfahren. Zu seinem Schrecken sah er den Wühler, der im Bug von einem der blutrünstigen Hyänenwesen in die Ecke gedrängt wurde. Mit seinem langen Spieß stieß der Pirat immer wieder gezielt nach dem Wühler, der aufgrund der Enge kaum noch ausweichen konnte. Ein Rinnsal Blut, das entlang seiner Flanke durch das dichte Fell lief, ließ erkennen, daß der Pirat bereits Erfolg gehabt hatte. Mit einem Wutschrei lief Michael los, den Säbel hoch über dem Kopf erhoben. Mit der Kraft der Verzweiflung ließ er ihn mit aller Kraft auf den Kopf des Piraten herunterfahren. Der fuhr im letzten Augenblick instinktiv herum, war von der Heftigkeit des Angriffs jedoch zu überrascht, um den Hieb noch abwehren zu können. Sauber trennte ihm die schartige Klinge das rechte Ohr vom Schädel und drang mit einem häßlichen Knirschen tief in seine Schulter ein, was ihm ein lautes Quietschen entlockte. Das steigerte sich noch, als sich die scharfen Zähne des Wühlers von hinten in seine Beine gruben. Hilflos ging er zu Boden und gab so die Klinge wieder frei, worauf Michael ihm kräftig seitwärts gegen den Kopf trat und ihn so in die Bewußtlosigkeit schickte. Dieser Pirat stellte jedenfalls keine Bedrohung mehr dar. Eilig sah sich Michael um. Noch immer wurde verbissen gekämpft, wenn auch  mit weniger Intensität als zuvor. Offenkundig ermüdeten die Kämpfer allmählich und gelangten an den Punkt, wo es letztlich nur noch auf die bessere Kondition ankam. Sein Blick fiel auf die Elbin, die noch immer erbittert mit dem Troll focht. Ihre Schläge hatten bereits an Kraft verloren. Michael konnte sehen, wie ihre Arme jedesmal vor Anstrengung zitterten, wenn sie die brutalen Schläge des Trolls abwehrte. Er mußte etwas tun! Verzweifelt sah er sich nach Grimmbart um. In dem Kampfgetümmel konnte er ihn unter den diversen Zwergen, die überall ihre Äxte schwangen, aber nicht entdecken. Dafür erschien der Wühler leicht taumelnd neben ihm.
„Erledigt“, knurrte er grimmig. Seine Stimme zitterte. Besorgt betrachtete Michael das Blut, das nun bereits von dem Fell auf den Boden tropfte. Tröstend strich er mit der Hand über den Kopf des Wühlers.
„Halt dich zurück, du bist verletzt.“
Der Wühler bleckte die Zähne.
„Normal, Kampf“, erwiderte er. Dann knickten ihm plötzlich die Vorderpfoten ein, und er kippte wie eine gefällte Eiche auf die Seite.
„Oh nein, bitte nicht!“
Hektisch, die Gefahr um ihn herum ignorierend, warf Michael sich auf die Knie und hob den Kopf des Wühlers in seinen Schoß.
„Komm schon, steh wieder auf“, flehte er, worauf sich die Augenlieder des Wühlers lediglich ein wenig hoben und ein Stöhnen seiner Kehle entwich. Michael spürte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete. Nun war er gerade mal ein paar Tage unterwegs, und schon sollte er einen seiner Gefährten verlieren. Das durfte nicht sein!
Vorsichtig bettete er den Kopf des bewußtlosen Wühlers auf die vom Blut schlüpfrigen Planken und erhob sich.
Er brauchte dringend Hilfe.
Sein Blick fiel auf Glyfara, die immer noch mit ihrem ausdauernden Gegner beschäftigt war. Offenbar hatte die Elbin ihren Meister gefunden. Sie war kaum noch in der Lage, sich der Schläge ihres Gegners zu erwehren, als sie plötzlich strauchelte und für einen Augenblick unaufmerksam war. Der Troll nutzte diese Gelegenheit sofort aus und prellte ihr mit einem Rückhandschlag das Schwert aus der Hand. Wie in Trance sah Michael den Troll die riesige, mit Nägeln bestückte Keule zum tödlichen Schlag über den Kopf heben, während Glyfara verzweifelt nach ihrem am Boden liegenden Schwert griff. Selbst der unerfahrene Michael konnte erkennen, daß sie es nicht mehr rechtzeitig schaffen würde.
Aber das Glück war auf ihrer Seite.
In diesem Fall in Gestalt des Zwerges Grimmbart, der plötzlich hinter dem Troll auftauchte und beidhändig mit seiner gewaltigen Streitaxt in Kniehöhe zuschlug. Wie ein Skalpell durch die Butter, fuhr die Axt durch Gewebe, Sehnen und Knochen. Es dauerte den Bruchteil einer Sekunde, bevor der Pirat begriff, was geschehen war. Kraftlos entglitt die Keule seiner Hand, während er mit einem schrillen, entsetzen Schrei nach vorne fiel und Glyfara halb unter sich begrub. Michael wandte den Blick ab, als der Zwerg zum zweiten Schlag ausholte. Das schrille Kreischen des Trolls brach abrupt ab. Der restliche Kampflärm auch. Offenbar hatte der Zwerg den Anführer erledigt, denn alle Augen der Piraten waren plötzlich auf den Troll gerichtet, der in seinem Blut zu Füßen Grimmbarts lag. Es war nicht zu übersehen, daß er nie wieder aufstehen würde. Das nahm den Piraten den letzten Elan. Wer sich retten konnte, suchte sein Heil in der Flucht, mit dem Rest machten die Zwerge kurzen Prozeß.
Michael rannte zu Glyfara hinüber, die sich gerade mit Hilfe von Grimmbart unter dem Kadaver des Trolls hervor gearbeitet hatte. Ihre Kleidung war blutbeschmiert, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, der Michael erschreckte. Mit zitternder Hand hob sie das Schwert auf und steckte es ein. Dann wandte sie sich Grimmbart zu, der sie prüfend betrachtete.
„Danke“, sagte sie knapp.
Der Zwerg nickte, die Hände auf den Griff seiner Axt gestützt, deren Schneide auf den Planken ruhte. Erstaunt registrierte er, daß der Junge von vorhin plötzlich wie ein Derwisch auftauchte und versuchte, die Elbin am Ärmel in Richtung Bug zu ziehen. Dort lag der Wühler noch immer wie ein Bettvorleger bewußtlos auf der Seite.
„Der Wühler braucht Hilfe“, platzte es besorgt aus ihm heraus. „Er ist ernsthaft verletzt!“ Um Hilfe bittend sah er Grimmbart an. Der reagierte sofort.
„Wir haben einen Heiler dabei“, beruhigte er Michael. Dann rief er etwas in einer Sprache, die Michael nicht verstand. Sofort gesellte sich ein fast weißhaariger Zwerg zu ihnen, die Hände voller Verbandsmittel. Verschiedene Scheren und kleine Messer steckten in seiner Lederweste. Alle wiesen deutliche Gebrauchsspuren auf. Offenbar hatte der Zwerg reichlich zu tun gehabt. Ein Blick in die Runde bestätigte, daß überall verletzte und zum Teil schon verarztete Zwerge hockten. Verletzte Piraten schien es hingegen nicht zu geben. Die meisten waren entweder freiwillig oder mit Hilfe der Zwerge über Bord gegangen. Michael schluckte. Zwerge schienen nicht gerade zart besaitete Gestalten zu sein, die man sich lieber nicht zum Feind machen sollte.
„Laß sehen!“
Resolut ging der Zwerg auf Glyfara zu, die in ihrem blutbeschmierten Zustand in der Tat einen beklagenswerten Eindruck machte. Unwillig wischte sie die Hände des hilfsbereiten Zwerges beiseite.
„Nimm die Griffel weg! Nicht ich bin verletzt, sondern er.“
Mit ausgestrecktem Arm wies sie auf den bewußtlosen Wühler.
„Ein Tier?“ Der Zwerg rümpfte verächtlich die Nase.
„Ein Freund, der geholfen hat, euch den Hintern zu retten“, versetzte Michael wütend. „Also hilf ihm gefälligst.“
Der Heiler sah Grimmbart fragend an. Der nickte zustimmend. Widerwillig machte sich der Zwerg daraufhin auf den Weg und murmelte irgend etwas in seinen Bart, das keiner verstand.
„Keine Sorge, er weiß was er tut.“ Grimmbart nickte Michael aufmunternd zu. Etwas beruhigt folgte Michael dem Heiler. Glyfara und Grimmbart schlossen sich an. Während der heilkundige Zwerg sich mit flinken Fingern an der Wunde des Wühlers zu schaffen machte, hakte Grimmbart dort ein, wo ihre Konversation geendet hatte.
„Wir sind euch ja dankbar für eure Hilfe, trotzdem wüßte ich gerne, was ihr in einem so entlegenen Teil der Welt macht.“
„Urlaub“, erwiderte Michael trocken und mußte grinsen, da die Antwort, wenn man es genau nahm, sogar stimmte. Offiziell befand er sich immer noch in den Ferien, nur sein Ferienort hatte sich ein wenig verändert. Die Miene des Zwerges machte deutlich, was er von der Antwort hielt.
„Wir reisen gerne“, bestätigte Glyfara Michaels Ausrede. „Leider haben wir uns ein wenig verirrt. Weißt du, wie die nächste Stadt heißt.“
„Warum?“
Die Augen des Zwerges wurden schmal und durchdringend. Der mißtrauische Blick gefiel Glyfara überhaupt nicht. Dieser Zwerg war zu neugierig. Ihre Gedanken rasten. Konnte sie ihm trauen und den wahren Grund ihrer Mission verraten. Innerlich schüttelte sie den Kopf. Ihre Mission war zu wichtig. Sie durfte kein Risiko eingehen. Schwitzend hoffte sie, daß Michael das genauso sehen und sie nicht verraten würde. Im Hintergrund erklang in diesem Moment ein deutliches Stöhnen.
„Tut weh“, kommentierte der Wühler die Bemühungen des Zwerges und schnappte halbherzig nach dessen Bart. Glyfara war dankbar für die Ablenkung, bot sie doch eine willkommene Gelegenheit, den bohrenden Fragen des Zwerges einstweilen zu entgehen.
Zur Freude Michaels erholte sich der Wühler zusehends unter der Behandlung des Zwerges und war schließlich sogar so weit, daß er wieder stehen konnte. Glyfara sagte zwar nichts, ihr Gesicht hingegen sprach Bände. Auch wenn sie es nie zugeben würde, war sie froh darüber, daß dem Wühler nichts passiert war. Immerhin hatte er ihr im Kampf zur Seite gestanden.
„Hunger“, murrte der und dokumentierte damit, daß er sich eindeutig wieder auf dem Weg der Besserung befand.
„Das ist nicht mein Ressort“, knurrte der Heiler und machte sich wieder auf den Weg. An Deck gab es noch genug zu tun.
„Nachdem es eurem Tier wieder besser geht, könnt ihr mir ja jetzt vielleicht verraten, was ihr hier macht.“
„Wie schon gesagt, wie sind auf einer Reise. Wir interessieren uns für ferne Länder und andere Gewohnheiten“, erwiderte die Elbin aalglatt. Grimmbart hob die buschigen Augenbrauen, so daß sie fast unter der Lederkappe, die sein dichtes Haar bedeckte, verschwanden.
„Ein Mensch und eine Elbin? Ihr seid ein höchst seltsames Gespann. Na ja, wie auch immer, die nächste Stadt heißt Felsenturm, ein paar Tage den Silberfluss hinauf.“
„Felsenturm!“
Glyfara machte ein bestürztes Gesicht. Felsenturm war ihr nur aus Erzählungen bekannt, da es von ihrer Heimat so weit entfernt im Süden lag, daß nur einige Wenige sich in Ihrem Leben dahin auf den Weg gemacht hatten. Nervös fuhr sie sich durch ihr blondes Haar.
„Gibt es ein Problem mit Felsenturm?“, fragte Grimmbart, dem Glyfaras Bestürzung nicht entgangen war.
„Das wüßte ich auch gerne“, schaltete Michael sich ein.
„Nein, es ist nur ........“, Glyfara zögerte. „Ich habe nicht erwartet, so weit vom Weg abgekommen zu sein.“
„Wo wolltet ihr denn hin?“
„Hoch in den Norden“, antwortete Glyfara vage. Der Zwerg staunte.
„Mit diesem Kahn?“ Mitleidig schüttelte er den Kopf. „Da wäret ihr nie ankommen.“
Michael stutzte. „Wieso wäret?“
„Weil er gerade gesunken ist.“
Überrascht liefen die Gefährten zur Reling hinüber und warfen einen Blick auf den darunter liegenden Fluß. In der Tat ragte nur noch der Mast aus dem Wasser. Damit standen sie ohne Transportmittel dar.
„So ein Pech. Was machen wir nun?“
Michael war ein wenig ratlos. Glyfara hingegen knirschte wütend mit den Zähnen.
„Mit Pech hat das nichts zu tun.“
Ihr Gesicht flammte auf vor Zorn.
„Hör zu“, zischte sie leise. „Das Ding hat jemand versenkt, und allzuviele Personen kommen dafür ja wohl nicht in Frage, oder?“
Michael staunte. „Du meinst...“
„Still, wir bekommen Besuch.“
„Ihr könntet unter unserer Obhut nach Felsenturm reisen“, schlug Grimmbart vor, der zu ihnen hinüber geschlendert kam. Es klang nicht wie eine Einladung, sondern mehr wie ein Befehl.
„Ihr könntet uns auch dieses Schiff überlassen, dann kommen wir allein zurecht“, konterte Glyfara.
„Nein“, erklärte der Zwerg resolut. „Ihr könntet dieses Schiff nie alleine bedienen, und im Übrigen wäre die Gefahr zu groß, daß es wieder den Piraten in die Hände fallen könnte. Es wird versenkt.“
„Schlecht!“
Der Wühler hatte sich zu ihnen gesellt und einen seiner typischen Kommentare abgegeben, als er die letzten Worte des Zwerges vernahm. Der war überrascht.
„Es spricht tatsächlich. Ich dachte, ich hätte mich vorhin verhört.“
Mißtrauisch betrachtete Grimmbart den Wühler, der probeweise mit den Zähnen an seinem Verband zog. Offenbar saß er sehr fest.
„Was ist das noch gleich für ein Tier?“
„Ein Wühler. Wir haben ihn flußabwärts aufgelesen und werden ihn seitdem nicht mehr los“, seufzte Glyfara.
„Und er kann richtig reden?“
„Wenig“, bekundete der Wühler freimütig, der den Versuch, den Verband abzureißen inzwischen aufgegeben hatte.
„Es sei denn, es geht ums Essen“, unkte Michael und strich ihm liebevoll über den Kopf, worauf der Wühler wie eine riesige Katze zu schnurren begann.
„Ihr seid in der Tat eine höchst seltsame Reisegruppe“, bemerkte Grimmbart betont.
„Ihr nicht minder. Was macht ein Zwergentrupp soweit ab von ihrer Heimat, oder habt ihr hier eine Mine aufgemacht?“
Grimmbart schüttelte den Kopf.
„Nein, wir sind Händler.“
„Händler?“ Glyfaras Stimme klang höhnisch. „Mit was handelt ihr denn?“
„Mit uns“, erwiderte der Zwerg knapp. „Seht zu, daß ihr zu uns an Bord kommt. Wir werden dieses Schiff jetzt versenken. Die Geschäfte rufen.“
Dann drehte er sich um, überquerte das Deck und kletterte auf der anderen Seite über die Reling auf das Zwergenschiff hinunter. Derweil verschwanden ein paar andere Zwerge unter Deck. Glyfara konnte sich gut vorstellen, was sie dort vorhatten.
„Wie meint er das? Mit uns?“
Michael sah Glyfara ratlos an. Die kaute auf ihrer Unterlippe und wirkte nicht gerade glücklich. Offenkundig bereute sie, den Zwergen geholfen zu haben.
„Ganz einfach, sie sind Söldner. Sie verkaufen sich an denjenigen, der am meisten bietet“, erklärte sie tonlos. Dann lachte sie humorlos. „Sieht so aus, als herrscht irgendwo Krieg, und wir sind auf dem besten Weg, da mit hineingezogen zu werden. Kein Wunder, daß er so mißtrauisch ist. Wir sind mehr oder minder seine Gefangenen.“

 

Vom Regen in die Traufe, aber es kommt noch schlimmer. In 14 Tagen mehr auf dieser Seite.

 Euer

Klaus-Peter Behrens





  

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.12.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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