November 2005
Der Wecker klingelte und Stefan
schlug missgelaunt auf Selbigen. Er öffnete langsam die Augen und starrte dann an
die dunkle Zimmerdecke. Er hatte wieder von ihr geträumt.
Er träumte zwar nicht
mehr so oft von ihr wie früher, aber immer noch oft genug um an den Morgen
danach traurig und deprimiert aufzuwachen. Die Träume waren immer wieder
erfüllend und schön und manchmal wünschte er, einfach in dieser perfekten
Traumwelt bleiben zu können. Er war in dieses Mädchen verliebt, seit er sie das
erst mal gesehen hatte. Dieses Ereignis lag zwar bereits 16 Jahre zurück aber
Stefan kam aus unerfindlichen Gründen nicht von ihr los.
Es war am ersten
Schultag in der dritten Klasse. Er stand wie alle anderen Schüler auf dem
Schulhof und plötzlich sah er sie. Sie musste neu an der Schule sein, er hatte
sie noch nie zuvor gesehen. Sie faszinierte ihn bereits in dem Augenblick, als
er sie das erste Mal sah und ließ ihn von nun an nicht mehr los.
Er hatte sich nie getraut
ihr dies zu sagen oder auch nur einen brauchbaren Schritt in diese Richtung zu wagen. Alles was ihm blieb,
waren seine Träume. Diese Träume berührten ihn jedoch emotional so sehr, das er
in den folgenden Tagen, kaum in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen.
Und auch wenn er versuchte, dieses Mädchen und somit die Gedanken zu
verdrängen, er schaffte es nicht.
Stefan knipste das
Licht an, drehte sich auf die andere Seite und erblickte ihr Foto. So absurd
und albern es war, auf dem kleinen Tisch neben ihm stand ein Foto von ihr. Das
Foto war schon gut 10 Jahre alt und vergilbt, aber es war das Einzige was er
von ihr hatte. Es war jeden Morgen derselbe grausam schöne Moment nach dem
Aufwachen, wenn er ihr Foto ansah. Schon manchmal hatte er sich gefragt, ob es
nicht besser sei, einen Psychologen aufzusuchen um seine Psyche ein wenig zu
entrümpeln.
Stefan schlug die
Bettdecke zurück und stand auf. Langsam tapste er durch das schummrig
erleuchtete Zimmer und bahnte sich seinen Weg durch die Berge von Klamotten,
die er eigentlich schon die ganze Woche waschen wollte. In der Küche
angekommen, hatte die Zeitschaltuhr den Kaffee schon aufbrühen lassen. Er nahm
eine Tasse, goß Milch und Kaffee ein und gab einen Löffel Zucker dazu, setze
sich an den Tisch und zündete sich eine Zigarette an.
„Agnes.“, sagte er
laut. „Agnes.“, wiederholte er den Namen. „Warum?“ Er nahm die Kaffeetasse in
die Hand und betrachtete sie. Der Kaffee dampfte und roch wunderbar. Stefan sah
die Tasse an, als ob sie ihm eine Antwort geben könne. Er rauchte die Zigarette
auf, trank seine Kaffee aus und verließ die Küche um sich anzuziehen. Ein paar
Minuten später verließ er die Wohnung.
Die Haustür schloss
sich hinter ihm, mit einem leichten Klacken. Stefan stand einen Moment vor der
Tür und sah sich um. Es war Ende Oktober, das Laub bedeckte die Wege und es
wurde langsam kalt. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke ganz nach oben und
ging zu seinem Auto. Immer wieder musste er an sie denken. Egal was er sah,
egal was er dachte, innerhalb kürzester Zeit waren seinen Gedanken bei ihr.
Der BMW sprang mit
einem bösen Fauchen an. Stefan zündete sich eine weitere Zigarette an und fuhr
los. Auf Arbeit angekommen, beschränkte Stefan seine Tätigkeiten erst einmal
auf das Nötigste. Um diese Uhrzeit war sowieso noch niemand in der Firma und so
hatte er wenigstens ein wenig Ruhe. Sein Job als Systemadministrator machte ihm
normalerweise Spaß und war die Erfüllung eines Traumes. Den ganzen Tag nur
zwischen Computern zuzubringen, war schon immer ein Hobby von ihm gewesen und
nach seinem Studium und erfolgreicher Prüfung war er nun glücklicherweise sogar
in einem Pharmaunternehmen in seiner Stadt angestellt.
Nachdem er die
morgendliche Routinearbeit erledigt hatte, setzte er sich vor seinen Rechner
und schaltete ihn ein. Von Lüftergeräuschen begleitet, präsentierte Selbiger
nach kurzer Zeit ds allgemein bekannte Logo aus Redmond. Während er sich einen
Kaffee holte, war der Rechner hochgefahren und Stefan setzte sich wieder davor.
Er öffnete das Schreibprogramm und tippte, an seiner Kaffeetasse nippend, die
vier Buchstaben in großer Schrift auf den Monitor. Agnes! Er änderte nun die
Schriftart in verschiedenen Varianten und blickte dann zufrieden auf den
Monitor, trank einen Schluck Kaffee und betrachtete abermals sein Werk. Er
lehnte sich nach vorn, nahm das Ausrufezeichen hinter dem Namen weg und schrieb
„+Stefan“ dahinter. Er blickte nun eine Weile auf den Monitor, löschte dann das
Geschriebene und schloss das Programm.
Der Arbeitstag ging
schnell vorbei, zumal Stefan sich heute einen zeitigen Feierabend gönnte. Er
fuhr auf direktem Weg nach Hause, parkte sein Auto auf dem gewohnten Platz und
ging ins Haus. Er war deprimiert, einfach nur deprimiert. Den ganzen Tag musste
er an sie denken und das brachte sein Gefühlsleben dermaßen außer Kontrolle,
dass er am Liebsten mit einer Flasche Whisky den Rest des Tages verbracht
hätte.
In seiner Wohnung
angekommen, schaltete er den Espressoautomaten ein und zündete sich eine
Zigarette an. Nachdem der Kaffee fertig war und die letzten Tropfen unter
lautem Zischen die Maschine verließen, setzte er sich vor seinen Rechner und
prüfte die eingegangenen Emails. Spam, Spam, Greenpeace, Spam, sortierte er die
Nachrichten aus und schob sie in den Papierkorb. Bei der vorletzten Email
stoppte er. Es war eine Email von Nicole, seiner langjährig besten Freundin.
Die beiden hatten sich in der Schule kennen gelernt und abgesehen davon, dass
sie nie etwas miteinander hatten, waren sie seit Ewigkeiten mehr als gute
Freunde.
Manchmal bereute es
Stefan, dass er nie etwas mit Nicole angefangen hatte und gleichzeitig fragte
er sich, ob er auf die so entstandene Freundschaft hätte verzichten können.
Nicoles Email lud ihn am heutigen Abend zu einem Treffen von ein paar Freunden
ins Cafe „Le Art“ ein. Das „Le Art“, war ein gemütliches Cafe im Stadtzentrum
und Stefan war der Ansicht, sich vielleicht ein wenig ablenken zu können.
Gegen 20.00 Uhr
stellte er sein Auto vor das besagte Café und stieg aus. Das Wetter wurde immer
ungemütlicher und kälter, der erste Bodenfrost würde nicht mehr lange auf sich
warten lassen. Stefan betrat das Café und blickte sich um. Für einen
Montagabend herrschte reger Betrieb in diesem kleinen Lokal, er blickte in die
Runde und sah am Ende des Raumes einen Tisch, an dem seine Freunde schon Platz
genommen hatten. Er hängte seine Jacke auf und bahnte sich seinen Weg durch die
Menschen, die links und rechts an den Tischen standen und eifrig debattierten,
tratschten und Cocktails tranken.
Hätte der Traum der
letzten Nacht in nicht so sehr in Beschlag genommen, er hätte der einen oder
anderen Dame sicherlich einen freundlichen Blick zugeworfen, doch er hatte
heute Abend keine Augen für andere Frauen. Er war nun am besagten Tisch
angelangt und begrüßte alle. Nicole stand auf und gab ihm einen Kuß auf die
Wange. Fast alle waren heute Abend da. Christian, Robert, Steffi, Marcel und
natürlich Nicole.
Stefan bestellte sich
ein Bier, begrüßte mit einem Klopfen auf den Tisch seine Freunde und setzte
sich auf den für ihn frei gehaltenen Stuhl. In dem Cafe war viel los an diesem
Abend. Ein paar trikotbehangene Fußballfans, eine Gruppe älterer Frauen und
diverse Jugendliche, die ihr Taschengeld in Bier umsetzten.
Stefan musterte seine Freunde
und musste darüber nachdenken, wie sie alle vor zehn Jahren noch, fleißig die
Schulbank drückten. Und trotzdem er wusste, wie selten sie sich sahen, und wie
sehr er sich normalerweise über diese Treffen freute, heute wollte bei ihm
keine gute Laune aufkommen. Stefan nippte an seinem Bier und war im Gedanken
versunken, als Nicole ihn von der Seite her anstupste. „Was ist los mit dir?“,
fragte sie leise, so das es die Anderen nicht wahrnahmen. „Agnes.“, flüsterte
er. Nicole verzog das Gesicht. „Wird das jemals aufhören?“ „Ich weiß es nicht.
Warum, warum nur träume ich ständig von ihr?“ Nicole rückte näher an Stefan
heran. „Und warum redest du nicht einfach mal mit ihr?“ Sie wusste genau so gut
wie er, dass er das nicht machen würde. Dazu war er zu feige und er gab es auch
zu. Das Andere war, dass er einfach Angst hatte mit ihr zu reden,
möglicherweise zu erfahren, dass er sie, nicht im Geringsten interessiert.
Nein, das wollte er nicht hören. Lieber lebte er in dieser grausamen Realität,
die ihm abstrakte Träume bescherte und ihn ständig an sie denken ließ.
Nicole legte ihre
Hand auf seine Schulter und sah ihn freundschaftlich bedauernd an. Die
folgenden Unterhaltungen seiner Freunde, gingen an Stefan vorüber und er wollte
sich eigentlich schon verabschieden und nach Hause fahren, als Sandy, eine gute
Freundin von Agnes, das Café betrat.
Stefan kannte Sandy
relativ gut, sie waren früher mal in einer gemeinsamen Clique gewesen, aber das
war schon Jahre her und Sandy war mittlerweile auch weggezogen. Stefan nahm an,
dass sie auf Besuch hier sein musste und machte sich bemerkbar. Sandy´s Blick
schweifte durch den Raum und erblickte Stefan. Sie hob die Hand zum Gruß und
Stefan dachte schon, dass sie zu ihm kommen würde, als sie mit Blick in die
andere Richtung jemanden entdeckte und abdrehte. Er hatte gehofft, vielleicht einmal
etwas Neues über Agnes zu erfahren, aber nun kam es wohl nicht dazu. Nachdem er
sein Bier ausgetrunken hatte bestellte er sich eine Whisky-Cola. „Muß ich halt
mit dem Taxi heimfahren.“, dachte er nach Betrachtung des Glases und dem ersten
Schluck. Er kannte sich gut genug, um zu wissen, dass dies nicht seine letzte
Whisky-Cola am heutigen Abend sein würde.
Robert, Marcel und
Steffi verabschiedeten sich gegen 22.30 Uhr. Christian und Nicole waren in ein
Gespräch über Baby-Nahrung vertieft und Stefan gab sich seiner, mittlerweile 3
Whisky-Cola hin. „ Du fährst dann aber nicht mehr, oder?“, unterbrach Nicole
ihre Unterhaltung und wandte sich an Stefan. „ Keine Angst, du kennst mich gut
genug.“, antwortete Stefan. Nun verabschiedete sich auch Christian, und Nicole
und Stefan waren allein.
Nicole nahm Stefans
Hand: „Kannst du sie nicht einfach vergessen?“ Stefan sah ihr einen Moment lang
tief in die Augen. „Manchmal wünschte ich, dass ich es könnte … aber irgendwie
ist dieses Martyrium ein Teil meines Lebens geworden.“ „Stefan, hör auf so zu
reden, das ist sie nicht wert. Du machst dich fertig!“ „Bin ich das nicht so
schon.“, antwortete er mit einem versuchten Lächeln. Nicole sah auf die Uhr
„Stefan es tut mir leid ich muß los, die Babysitterin. Du kannst aber gern noch
mit zu mir kommen, dann können wir weiter quatschen.“ „Lass gut sein.“,
antwortete er. „Ich werd noch ein bisschen an die frische Luft gehen.“ Nicole
verabschiedete sich und verließ das Café. Stefan saß noch einen Weile da und
schaute in sein Glas, als ob er hoffte dort drin etwas zu sehen. Nach einer
Weile bestellte er den Kellner um zu bezahlen und verließ das Café.
Es war kalt draußen,
es nieselte nun und der Wind war ungemütlich. Stefan zog den Reißverschluss,
seiner Jacke nach oben und wollte gerade zum Taxistand laufen, als er hinter
sich eine vertraute Stimme hörte. „Hallo Stefan.“ Er drehte sich um und
erblickte Sandy. „Hey Sandy, ewig nicht gesehen, wie geht’s dir?“, entgegnete
Stefan. „Willst du schon nach Hause?“, fragte Sandy, „Ja, ich muss eigentlich
morgen um 5.00Uhr aufstehen.“ Sandy antwortete nicht und kam ein Stück auf
Stefan zu. Jetzt, als Sandy ein Stück ins Licht kam, bemerkte Stefan, dass
Sandy gerötete Augen hatte und nun fiel ihm auch auf, dass ihre Stimme ein
wenig melancholisch klang. Er ging ein Stück auf sie zu und fragte, was mit ihr
los ist. Sandy musste die Tränen unterdrücken und war kurz davor zu Weinen.
Antworten konnte sie nicht. „ Lass uns reingehen und uns hinsetzen, dann kannst
du mir erzählen was los ist.“ Wortlos drehte Sandy sich um und ging mit Stefan
wieder in das Café. Mittlerweile hatte sich die Zahl der Gäste gelichtet und es
gab ein paar ruhigere Sitzgelegenheiten.
Stefan dirigierte
Sandy in eine Sitzgruppe am Ende des Raumes und sie setzten sich. Sandy kramte
ein Taschentuch heraus und schneuzte sich die Nase. Stefan bestellte zwei
Capuccino und wartete darauf, was Sandy zu erzählen hatte. Er überlegte, was
sie so fertig gemacht hatte. Stress mit dem Freund oder den Eltern? Stefan fiel
nichts anderes ein. Sandy winkte
unbeholfen mit dem Taschentuch und sagte mit schwacher Stimme: „Warte bitte.
Augenblick noch.“ „Ist schon gut, lass dir Zeit.“
Sie schien sich gesammelt zu haben, doch in
dem Moment, als sie anfangen wollte zu erzählen, versagte ihre Stimme aufs
Neue. Sie brach in Tränen aus und Stefan konnte nichts anderes tun, als sie in
den Arm zu nehmen. Immer wieder stammelte sie: „Warum, warum nur?“ Was es auch
war, es musste schrecklich sein, doch Stefan wusste immer noch nicht worum es
ging. Sandy krallte sich in Stefan fest und heulte wie ein Schlosshund. Stefan
drückte sie zärtlich an sich, als Sandy aufs Neue anfing. „Warum? Warum Agnes?“
Stefans Herz blieb stehen. Er hörte auf zu atmen. Es waren die vier Buchstaben,
die sich in sein Hirn brannten. Es war ihr Name. Es war der Name, der Frau, die
er seit Jahren liebte. Nun war es Stefan, der die Beherrschung verlor. „Was ist
mit ihr?“, fragte er mit bebender Stimme, fast die Kontrolle über sich
verlierend. Er malte sich innerhalb von Sekundenbruchteilen aus, was mit ihr
geschehen sein konnte. Er stellte sich vor, wie sei bei einem Autounfall
verunglückt war, eingeklemmt in ihrem Auto und ohne das jemand ihr helfen
konnte. Er stellte sich vor, wie Sanitäter ihren Körper zu beleben versuchten,
die erste Hilfe einstellten, weil sie tot war, und wie die selben Sanitäter
einen Decke über sie legten um auf den Leichenwagen zu warten oder wie sie das
Opfer eines Mörders geworden war, eines irren Mörders, der sie ausrauben
wollte.
Als Stefan die Augen
wieder aufschlug, bemerkte er, dass sie von Tränen erfüllt waren. „Sandy.“,
sagte er flehend „ Was ist passiert?“ Sandy nippte an ihrem Capuccino und sah
Stefan mit endlos traurigen Augen an. Sandy wusste nichts von Stefans Gefühlen,
gegenüber ihrer besten Freundin. Vielleicht war das nun auch der Grund, warum
die Trauer ein wenig der Neugier wich. „Was ist los mit ihr?“, fragte Stefan
nun fordernd. Sandy bemühte sich zu sprechen. „Sie liegt in Hamburg im
Universitätsklinikum.“, und mit erstickter Stimme, begann sie sofort, wieder zu
weinen. „Sie ist nicht tot, sie ist am Leben“, sagte Thomas zu sich selbst,
aber laut genug, das Sandy es hören konnte. Sandy schaute irritiert. „Stefan,
ich verstehe das jetzt nicht. Agnes hat mir nicht erzählt, dass ihr euch so
nahe steht. Erkläre mir das bitte? Erkläre mir warum dich das so berührt?“
Stefan trank einen Schluck Capuccino. „Sag mir bitte was sie hat und dann
erzähl ich dir meinen Geschichte.“, flehte Stefan. „Agnes…“, Sandy´s Stimme
stockte und sie musste sich beherrschen nicht sofort wieder in Tränen
auszubrechen. „Agnes hat Krebs.“, sagte Sandy mit leiser aber nun fester
Stimme. Es war für Stefan wie ein Faustschlag in den Magen. „Wie bitte?“,
fragte er, hoffend sich verhört zu haben. „Agnes hat Krebs. Man hat es vor 2
Wochen festgestellt. Ein Tumor im Kopf. Sie wurde sofort ins Klinikum in
Hamburg eingewiesen und operiert. Es gab Komplikationen und nun wissen die
Ärzte nicht weiter.“ Sandy und Stefan schwiegen sich minutenlang an. „Das hat
sie einfach nicht verdient.“, fing Sandy wieder an und versank sofort in einem
Meer aus Tränen. Stefan sah sie an und nun standen auch ihm wieder die Tränen
in den Augen. Er dachte an Agnes und daran, wie sie dort in diesem Krankenhaus
lag, der Technik überlassen und völlig machtlos gegen die Situation, hilflos
ausgeliefert. Er fing an zu weinen. Sandy beobachtete ihn. „Jetzt erzähl, was
hat es mit deinen Gefühlsausbrüchen auf sich. Welche Verbindung gibt es
zwischen dir und Agnes?“ „Das könnte jetzt aber einen Weile dauern.“, sagte
Stefan. Sandy nickte ihm zu. „Okay, fang an. Ich habe sowieso Urlaub“ Stefan
überlegte kurz und nachdem er auf die Uhr sah, die nun schon 10 vor 12
anzeigte, holte sein Handy aus der Tasche und entschuldigte sich kurz. Er
wählte die Nummer von Mike, seinem Arbeitskollegen und wartete. „Wer stört?“,
meldete sich eine verschlafene Stimme. „Mike, hier ist Stefan. Ich kann morgen
die Frühschicht nicht machen.“ „Hast du wieder ne Puppe aufgerissen?“, fragte
Mike. „Nein, es ist…es ist etwas passiert.“ Dann war es kurz still in der
Leitung. „Bist du Okay?“, fragte Mike besorgt. „Ja, mir geht es gut, keine
Sorge, aber einer Freundin von mir liegt im Krankenhaus. Bitte kannst du die
Frühschicht machen?“, sagte Stefan mit einem nachhaltigen Bitten. „Geht schon
klar, mach nen Ruhigen ich kümmere mich.“, „Danke, hast was gut bei mir.“ Mike
legte auf.
Sandy schaute Stefan
an. „Jetzt erzähl endlich.“
Und Stefan begann zu
erzählen. Er erzählte davon, wie er Agnes das erste Mal gesehen hat und sich
sofort in sie verliebte, das er ihr tausende Liebesbriefe geschrieben, aber sie
nie abgeschickt hatte. Stefan erzählte von der Einladung die er ihr zu seinem
12. Geburtstag geschickt hatte. Das sie nicht kam und er todtraurig war. Er erzählte,
wie er und Agnes sich im Schwimmbad einmal, scheinbar ewig in die Augen
geschaut hatten und wie sie im Fremdsprachenunterricht zusammen gesessen
hatten. Dies, als Strafe von der Lehrerin, weil Agnes eine Musterschülerin und
Stefan immer vorlaut im Unterricht war. Stefan lachte. „Die wollte mich
bestrafen indem sie mich neben Agnes setzte und hat mir damit den größten
Gefallen überhaupt getan.“ Stefan redete und redete. Er erklärte Sandy, wie
geschockt er war, als er eines Morgens zum Unterricht kam und Agnes woanders
saß. Er erzählte Sandy, die gespannt zuhörte, wie er immer wenn er Agnes sah,
weiche Knie bekommen hat und doch nie den Mut aufbrachte mit ihr zu reden.
Zwischendurch musste er bei der einen oder anderen Anekdote immer wieder
schmunzeln. Er berichtete Sandy von den ewigen Träumen, in denen es eigentlich
immer den einen Moment gab, indem Stefan und Agnes miteinander redeten.
„Verstehst du?“; sagte er zu Sandy, „Einfach nur Reden, das Normalste der
Welt.“ So sprach er sich alles von der Seele und nachdem er fertig war,
bestellte er sich einen Whisky.
Sandy sah ihn
erstaunt an. „Das glaube ich nicht. Das ist unfassbar. Warum hast du sie nicht
einfach mal angesprochen?“, er lächelte gequält. „Weil ich mich nicht getraut
habe, so einfach ist das.“, Stefan trank einen Schluck. Der Whisky brannte in
seiner Kehle und Stefan hustete. „Und Sandy, ich weiß nicht was es ist aber
dieses Gefühl, dieses „zu-ihr-hingezogen-fühlen“, es beherrscht mich nun schon
seit so vielen Jahren. Sandy stutzte: „Aber meinst du nicht, das es dir besser
gehen würde, wenn du ihr das einfach sagst?“ Stefan lachte spöttisch. „Sollte
ich hingehen und sagen, Hey Agnes, ich träum seit Jahren von dir und nun wollte
ich, dass du es weißt?“ „Ich hatte einfach Angst davor das sie mich auslacht
oder was auch immer. Ich hatte einfach Angst. Lieber lebte ich in dieser
Ungewissheit, als enttäuscht zu werden.“
Stefan nahm noch
einen Schluck und sah Sandy nun ernst an. „Vielleicht, ist es nun zu spät.
Vielleicht Jetzt kann ich mich nun mein
Leben lang mit der Frage beschäftigen, warum ich es nicht getan habe.“ Seine
Augen röteten sich. „Verdammt, die ganze beschissene Zeit habe ich den Schwanz
eingezogen und nun bekomme ich die Quittung.“ Sandy streichelte seinen Arm.
„Fahr zu ihr, rede mit ihr. Sag ihr was du für sie empfindest.“ Stefan schaute
in sein Glas und dann zu Sandy. „Vielleicht hast du Recht, vielleicht sollte
ich es ihr sagen.“ Stefan ließ sich noch einen Whisky bringen. „Vielleicht sollte ich es ihr sagen.“,
wiederholte er sich selbst.
Mittlerweile war es
1.45 Uhr und der Kellner machte die Beiden freundlich auf die Öffnungs-zeiten
aufmerksam. Stefan sah sich um und bemerkte, dass sie die Letzten waren. Er
bezahlte die Rechnung und sie verließen das Lokal. Draußen war es kalt und
windig. Sandy fror und Stefan schaute nach einem Taxi, sah aber Keines.
„Verdammt.“, sagten sie auf einmal beide gleichzeitig. Sie schauten sich an und
mussten Lachen. „Was hast du?“, fragte Stefan. „Und warum hast du gerade
geflucht?“, fragte Sandy lachend. Es war doch trotz der Situation eine lustige
Begebenheit. „Du zuerst.“, sagte Sandy. „Nein, die Damen haben Vorrang!“, sagte
Stefan nun. „Ich habe gerade festgestellt, dass ich den Wohnungsschlüssel
vergessen habe und meine Mutter hat Nachtschicht. Und bei dir?“, fragte
sie. Ich sehe nirgends ein Taxi und Auto
fahren kann ich ja nach dem Whisky nun wohl auch nicht mehr.“
Sandy sah in an. „Ich
mach dir einen Vorschlag.“ Stefan grinste und konnte sich denken, worauf sie
hinauswollte. „Warum grinst du so komisch?“, fragte sie. „Mach erst deinen
Vorschlag!“ „Ich wollte dir vorschlagen, dass ich dich mit deinem Auto nach
Hause fahre und du mir als Dank deine Couch für heute Nacht anbietest.“ Stefan
lachte. „Ich wusste es.“ „Nicht Okay?“, fragte Sandy leicht verunsichert. „Ein
sehr guter Vorschlag.“ Und Stefan gab Sandy die Autoschlüssel. Sie fuhren die
5km bis zu Stefans Haus und Sandy parkte den Wagen. Während der Fahrt hatte
Stefan, Sandy beobachtet und musste feststellen, dass sie eigentlich in vielerlei
Hinsicht seinem Geschmack entsprach. Wäre Agnes nicht, er hätte den heutigen
Abend sicherlich in eine andere Richtung gelenkt. Sandy hatte blondes,
halblanges, lockiges Haar und eine angenehme Figur, war etwa 1,70m groß und
wog, Stefan konnte es nicht richtig einschätzen, aber ermeinte, es wären 55kg.
Er schloß die Haustür auf und ließ Sandy eintreten. Es war mittlerweile viertel
nach zwei, doch irgendwie waren beide noch nicht müde. Sandy sah sich in
Stefans Wohnung um und er brühte zwei Espresso auf.
„Sag mal?“, fragte
sie. „Wie ist das, in einen Menschen verliebt zu sein und damit auszukommen es
ihm nicht zu sagen?“ „Schau mich an.“, sagte er. „Dann weißt du wie es ist.“
Und in dem Moment, als beide wieder an Agnes denken mussten, warf sich Sandy an
Stefans Hals und begann jämmerlich zu weinen. Stefan wurde damit nicht
fertig und auch ihm standen die Tränen
in den Augen. Ihm war erbärmlich zumute und er drückte Sandy ganz fest an sich,
als ob sie seine Trauer aufsaugen und wegnehmen könnte. Sandy löste sich von
Stefan und sah ihn an. „Du tust mir leid. Wenn ich überlege was du nach der
heutigen Erzählung all die Jahre für sie empfunden und mit dir herumgetragen
hast. Ich könnte das nicht.“ „Stefan schwieg. Sandy nahm den Espresso und gab
Stefan eine Tasse in die Hand. „Eigentlich bin ich an meiner Situation selbst
schuld. Ich wollte es doch so. Ich hätte jederzeit zu ihr gehen können, um ihr
zu sagen was ich empfinde. Dann hätte es eine Antwort gegeben und ich hätte
gewusst, woran ich bin.“ Sandy sah Stefan verständlich an. „Lass uns ins
Wohnzimmer gehen.“ Stefan folgte ihr und sie gingen ins Wohnzimmer. „Sandy.“
Sagte er. „Was ist?“, fragte sie. „Es
gibt da, glaube ich, ein kleines Problem.“ Sandy sah ihn unverständlich an.
„Und das wäre?“, fragte sie. „Die Sache mit der Couch.“ Und er musste grinsen.
„Jetzt spann mich nicht auf die Folter. Was gibt es für ein Problem mit der
Couch?“ Stefan stellte seine Tasse auf den Tisch. „Möchtest du zuerst die gute
oder die die schlechte Nachricht hören?“
„Jetzt sag schon.“,
drängelte Sandy. „Also…“, begann Stefan. „Die gute Nachricht ist, das die
Couch, wenn sie ausgeklappt ist, ziemlich viel Platz bietet.“ Sandy sah in
unverständlich an. „Aber, da dies ein 1-Zimmer-Apartement ist, ist es
gleichzeitig mein Bett.“ Sandy sah in fassungslos aber amüsiert an. „So ist das
also,…“ „Keine Angst.“, sagte Stefan schnell, „Ich bin gut erzogen.“ „Wer es
glaubt…“, konterte Sandy. „Ich schnarche aber.“, witzte Sandy. „Ich auch.“,
sagte er und beide lachten. Stefan holte das Bettzeug aus dem Schrank und
klappte die Couch aus. Warum auch immer, er hatte stets Bettzeug für Besuch
fertig, jedoch wollte er Sandy nicht sagen, dass er noch im Besitz einer
Luftmatratze war. Irgendwie wollte er heute Nacht jemanden neben sich haben,
ohne schmutzige Gedanken, einfach nur jemanden neben sich haben. Stefan knipste
das kleine Licht an und löschte das Große. „Soll ich rausgehen?“, fragte er.
Sandy, die gerade im Begriff war ihren Pullover auszuziehen, drehte sich zu ihm
um. „Wieso, bin ich so hässlich?“ Stefan mußte lachen. Es tat ihm irgendwie
gut. Sandy hatte Humor. Er mochte
humorvolle Menschen. „Es kann ja sein, das es dir unangenehm ist, wenn ich noch
im Raum bin.“ „Solange du mich nicht anstarrst, geht das glaube ich in
Ordnung.“ Sandy zog sich den Pullover über den Kopf und Stefan schaute
unweigerlich auf ihre, nur von einem dünnen weißen Hemdchen bedeckten Brüste.
Trotz allem, was heute Abend vorgefallen war und trotzdem er viel zu sehr an Agnes
denken musste, als das er sich mit anderen Frauen beschäftigen wollte, so
stellte er sich plötzlich vor, wie Sandy nackt aussah. Er wischte den Gedanken
beschämt beiseite.
Sandy öffnete ihre
Jeans und bückte sich, um sich die Hose auszuziehen. In diesem Moment sah
Stefan ihre, durch das herunterhängende Hemdchen, nun seinem Blick
ausgelieferten Brüste und er drehte sich beschämt bei Seite. Als er sich wieder
in ihre Richtung wandte, sah er gerade noch, wie ihr, von einem schwarzen
String bekleideten, Po unter der Bettdecke verschwand.
Stefan, der nun ein
bisschen verwirrt war, sagte zu Sandy: „Ich gehe noch eine rauchen.“, drehte
sich um und ging in die Küche. Als er sich gerade an den Küchentisch gesetzt
hatte, stand Sandy in der Tür. „Das ist eine gute Idee.“, sagte sie und setzte
sich auch an den Tisch. Während sie herein gekommen war, blieb Stefans Blick an
dem kleinen Stück Stoff zwischen ihren Beinen haften. Es war so schmal, das
jede Diskussion, ob sie sich intim rasieren würde oder nicht, unnötig wäre.
Stefan war nicht Wohl bei dem Gedanken, dass er sich anzügliche Gedanken über
die beste Freundin, der Frau, die er liebte, machte.
Sandy zündete sich
eine Zigarette an und sog den Rauch genüsslich ein. Stefan beobachtete sie. Er
wollte es nicht und doch sah er sie die ganze Zeit an. Es war lange her, das
ein Mädchen bei ihm über Nacht blieb und gerade in der heutigen Nacht war er
froh, nicht allein zu sein. „Was meinst du, wird sie es schaffen?“, fragte
Sandy plötzlich. Stefan fühlte sich nicht wohl. Er hatte es heute erst erfahren
und kannte die Hintergründe nicht. Er hatte sich nie ernsthaft mit dem Thema
Krebs beschäftigt und wusste eigentlich nicht viel darüber. „Ich hoffe es.“,
sagte er. „Ich wünsche es mir.“, fügte er hinzu.
Sandy fing an zu
weinen. Stefan stand auf und ging um den Tisch. Er setze sich neben Sandy und
versuchte, sie zu trösten. Als er seinen Arm um sie legte und die nackte warme
Haut spürte, war er verwirrt. All die Gedanken an Agnes, und trotzdem genoß er
es, Sandy zu berühren. „Lass uns ins Bett gehen, es ist spät genug.“ sagte
Stefan. Er half Sandy beim aufstehen und sie gingen ins Wohnzimmer. Sandy
kuschelte sich in ihre Decke und Stefan zog sich die Hosen und das Hemd aus. Er
schlüpfte nun auch, nur in Shorts, unter seine Decke und knipste das Licht aus.
Er liebte die Dunkelheit. Er konnte dich nicht erklären warum, aber die
Dunkelheit gab ihm ein Gefühl von Sicherheit und Schutz. Stefan drehte sich zu
Sandy und bemerkte nun dass sie beide so nah bei einander lagen, dass er ihren
Atem spüren konnte. Er drehte sich wieder um und schlief ein.
Als er am nächsten
Morgen aufwachte, war Sandy weg. Er sah auf die Uhr, es war 8.15Uhr. Er
brauchte eine Weile um seine Gedanken zu ordnen. Er überlegte, ob das alles
nicht nur ein böser Traum war. Doch die zweite Decke in seinem Bett, zeugte vom
Gegenteil. Seine Laune war noch schlechter als am Vortag. Widerwillig stand er
auf und tapste in die Küche. Er wollte gerade die Kaffeemaschine einschalten,
als er auf dem Küchentisch einen Zettel entdeckte.
Guten Morgen,
Danke für das „Nachtlager“. Ruf an wenn du jemanden zum
reden brauchst.
Bye
Stefan brühte sich
einen Espresso auf und setzte sich an den Tisch. Er dachte über den gestrigen
Tag nach und über Agnes. Irgendwie erschien ihm das alles nicht real. Er nippte
am Kaffee und atmete den Duft desselben ein. Ihm war heute nach nichts, einfach
nur allein sein und nachdenken. Aber worüber wollte er nachdenken? Es war alles
klar und eindeutig oder etwa nicht? Seine Gedanken begaben sich auf eine Reise.
Noch gestern hatte er
sich seines selbst auferlegten Traumas bemitleidet, um nun schnellst-möglich
eine Entscheidung treffen zu müssen. Was war wenn Agnes stirbt, bevor er sich
entschieden hatte? War es nicht einfach nur eigennützig zu ihr zu fahren und
ihr zu sagen, was er zu sagen hatte, weil er Angst davor hatte, sich mit
anderen Fragen beschäftigen zu müssen wenn sie stirbt? War es wirklich Liebe,
was er empfand oder hatte er sich über die Jahre in Etwas hineingesteigert?
Hatte er überhaupt ernsthaft versucht, sich ihr zu nähern? Hatte er überhaupt
das Recht an sie zu denken?
Stefan sah die
Kaffeetasse an und im Bruchteil einer Sekunde fegte er sie mit einem Hieb vom
Tisch. Die Tasse, die er stets als seine Lieblingstasse betrachtet hatte,
prallte am Schrank ab und zerschellte laut scheppernd auf den Fußbodenfliesen.
Der Kaffee spritze durch die ganze Küche. Tränen traten aus seinen Augen und er
versuchte aufzustehen. Doch so wie aufgestanden war, versagtem ihm die Beine
den Dienst und er sank auf die Knie. Von einem Weinkrampf geschüttelt, streckte
er die Hände gen Himmel und schrie „Warum? Warum passiert das alles?“ Dann
schwanden seine Kräfte und er sackte langsam und schluchzend zur Seite und lag
nun inmitten der Scherben auf dem Fußboden. Er lag da und spürte die Kälte der
Fliesen an seiner Wange. Die Tränen, flossen über sein Gesicht und er meinte
keine Kraft, keine Lust mehr zu haben sich zu bewegen. Er betrachtete den
Küchentisch von unten und weinte, wie ein kleines Kind.
Als er wieder
aufwachte, waren zwei Stunden vergangen.
Er lag auf dem Boden
seiner Küche, inmitten von Scherben und kaltem Kaffee und ihm war als wüsste er
nicht, wie es weitergehen soll. „Es muss ein jämmerliches Bild abgeben.“,
dachte er und stand langsam und schwerfällig auf. Er setzte sich wieder an den
Tisch und zündete sich eine Zigarette an. Er hatte eine Entscheidung zu treffen
und er wusste, dass er zu feige war.
Er wünschte sich,
dass ihm jemand diese Entscheidung abnehmen würde, aber er wusste genau, dass
das niemand konnte. Er drückte die gerade erst angerauchte Zigarette aus und
begann die Küche sauber zu machen. „Ich laufe davon, ich laufe vor meinen
Problemen davon. Warum tue ich das?“
Stefan verfiel in
eine brutale Depression. Alles erschien ihm sinnlos. Sein Job, sein Auto, die
Wohnung. Alles nur materielle Dinge, alles nichts im Vergleich zu ihr. Was war
es, das er meinte für sie zu empfinden. Solange er sich darüber nicht im Klaren
war, solange blieb die Entscheidung offen, oder nicht?
Stefan ging ins Bad
und wusch sich das Gesicht. Die plötzliche Kälte des Wassers ließ ihn
schlagartig klar denken. Er betrachtete sich im Spiegel und nach einem
scheinbar ewig dauernden Moment sagte er zu sich selbst: „Entweder du triffst
die Entscheidung oder du gehst. Für immer.“ So sehr er sich im Nachhinein über
diesen Satz erschrak, so eindeutig war auch die Aussage. Niemals würde er
Frieden finden, wenn er weiter machte, wie bisher. Er betrachtete sich noch
einmal im Spiegel und lachte sich dann selbst mit eiskaltem Blick aus.
Alles was nun folgte,
könnte man ohne Umschweife als „nicht zurechnungsfähig“ bezeichnen. Er rief in
Firma an und bat kurzfristig um 2 Wochen Urlaub. Da man ihn und seine Arbeit
schätze und er stets als guter und loyaler Mitarbeiter galt, bereitete es
keinerlei Probleme, den Urlaub genehmigt zu bekommen. Er ließ sich noch kurz zu
Mike durchstellen, um ihn von seiner Abwesenheit in Kenntnis zu setzen.
Sicherlich hätte man Mike, Stefans Urlaub sowieso gemeldet, aber er wollte es
ihm selbst sagen. Mike hörte sich besorgt an, doch Stefan beruhigte ihn. „Ich
hatte es dir gestern Abend ja schon erzählt, ich will sie besuchen fahren und
gleich mal ein paar Tage ausspannen.“ Mike machte sich Sorgen. „Stefan und
ausspannen? Unmöglich.“ Doch Stefan überzeugt ihn, dass alles in Ordnung wäre.
Ein finsterer Plan
war in Stefans Kopf gewachsen. Er ängstigte sich vor dem Gedanken, doch
gleichfalls erfüllte es ihn, mit einem unbekannten, einem Rauschzustand
ähnelnden, Gefühl. Es war etwas Eigenartiges, etwas Neues, etwas Endgültiges.
Er wollte sich im
letzten Moment selbst vor die Wahl stellen. Entscheidungen schob er sowieso bis
zum Letzten auf, so sollte es auch diesmal sein.
Er packte ein paar
Sachen in seinen Koffer, brachte den Müll raus, nahm alles elektrischen Geräte,
mit Ausnahme seines PC´s vom Netz und setzte sich dann vor Selbigen. Er tippte
einen kurzen Brief an Nicole.
Hallo Nicole,
Es tut mir furchtbar leid, aber es geschieht nur, was
geschehen musste. Zulange schon bin ich davongelaufen und nun da ich sicher
bin, die Entscheidung nicht treffen zu können, will ich mich nicht länger
selbst quälen. Verzeih mir und vergiss mich bitte nicht.
In Liebe, Stefan
Und während er dies
schrieb, rannen Tränen seine Wangen herab. Außer Nicole war da niemand, der ihm
wirklich etwas bedeutete, seinen Eltern waren vor 8 Jahren bei einem
Flugzeugabsturz ums Leben gekommen und der Rest der Verwandtschaft wohnte weit
weg, man hatte sowieso nie Kontakt miteinander. Stefan druckte den Brief aus
und legte ihn auf den Küchentisch. Nicole hatte einen Schlüssel zu seiner
Wohnung und würde, wenn er sich nicht spätestens übermorgen bei ihr meldete
nach ihm suchen kommen. Er lächelte. Auf Nicole war Verlass, sie war ein lieber
Mensch, für ihn, der beste Mensch auf der Welt. Nun schauderte ihm plötzlich
vor den Gedanken, wie Nicole allein in seine Wohnung kommen und den Brief
finden würde. Sie würde zusammenbrechen und schreiend auf dem Küchefußboden
knien. Wollt er ihr das wirklich antun? Kurzerhand nahm er den Brief und warf
in den Papierkorb.
„Zeit zu gehen.“,
sagte er zu sich selbst zog seinen Mantel an und verließ die Wohnung. Mit
quietschenden Reifen verließ er das Grundstück und fuhr in Richtung Hamburg.
Stefan war etwa 2
Stunden gefahren und der Regen wurde stärker. Es waren jetzt noch etwa 400km
bis Hamburg und er fühlte sich irgendwie erleichtert, frei und losgelöst von
allem. Die Autobahn war relativ frei und der Tacho stand bei 160 km/h. Das Foto
von Agnes lag auf dem Beifahrersitz und irgendwie schien ihm, habe sich ihr
Gesichtsausdruck darauf verändert. Es schien als würde sie ihn ängstlich
ansehen. „Ich fange an zu halluzinieren.“, dachte er und wischte den Gedanken
weg. Die Zigaretten wurden langsam knapp und er beschloss, an der nächsten
Raststätte abzufahren.
Etwa 10 km weiter,
betätigte Stefan den Blinkhebel. Er verlangsamte seine Geschwindigkeit und
befuhr den Rasthof. Er fuhr langsam an den LKW´s vorbei und hielt neben einer
Zapfsäule. Der Regen hatte aufgehört, jedoch blies der Wind ungemütlich und
kalt. Stefan tankte den Wagen voll und ging in den Verkaufsraum der Tankstelle.
Er nannte die Nummer der Zapfsäule, ließ sich noch zwei Päckchen GITANES und
ein Salamibaguette geben, bezahlte mit seiner Kreditkarte und verließ den Raum.
Draußen angekommen, spürte er plötzlich die Leere in seinem Leben. Wie ein
Schlag traf es ihn und er hätte sich am liebsten hingesetzt und laut geheult.
Er dachte darüber nach, was ihn zu diesem Punkt getrieben hatte und ob alles
was geschah, durch Gott selbst veranlasst wurde. Er betrachtete den Himmel, der
wolkenbehangen über ihm stand und er spürte den Wind, der scheinbar eisig kalt
über die Erde blies. „Ces´t la vie.“, sagte er leise zu sich selbst und stieg
ins Auto. Er startete den Motor, schaltete das Licht an, und verließ langsam
die Tankstelle. Auf dem angrenzenden Parkplatz hielt jedoch wieder an, nahm das
Foto in die Hand und betrachtete es, wie er es schon hunderte Male betrachtet
hatte. Jedes Pixel, mochte man meinen kannte er an diesem Foto, jede Farbe,
jede Schattierung. Er entfernte den Plastiküberzug und das Schutzpapier der
Zigarettenschachtel und steckte sich eine GITANES in den Mund. Das Feuerzeug
leuchtete auf und entzündete den Tabak. Stefan atmete den ersten Zug tief ein,
und ließ ihn dann durch die Nase wieder entweichen. Er lehnte sich zurück und
schloß die Augen. Gedankenfetzen drangen durch sein Gehirn. Sein inneres Ich
begab sich auf eine Reise durch die dunkelsten Phantasien seines Kopfes. Er
stellte sich vor, wie man seine Beerdigung feiern würde, und wer alles dabei
war. Wahnwitzige Gedanken übernahmen zunehmend die Kontrolle über sein Gehirn.
Er stellte sich vor, wie Agnes und er, in etwa zur gleichen Zeit von dieser
Erde gehen würden und er malte sich aus, wie sie „rein zufällig“ am selben Tag
auf dem Friedhof ihrer Stadt beerdigt werden würden. Ein kaltes Lachen, überkam
sein Gesicht. „Das wäre ein wahrlich schöner Abschluss dieses Leidensweges.“ Er
öffnete die Seitenscheibe und warf die Zigarette nach draußen. Mit einem
nervtötenden Quietschen und ausbrechendem Heck, verließ er den Rastplatz. Die
Autobahn war leer und er beschleunigte den Wagen auf über 200 km/h. Das Foto neben ihm, schien nun
zu einer Fratze verzerrt. „Ja, lach du nur!“, brüllte er das Foto an. Er hatte
noch knapp 100 Kilometer vor sich und er wusste, dass er nicht mit ihr reden
würde. Er dachte daran, wie es wohl sei, zu sterben. Er hoffte nur, dass es
schnell ginge und trotzdem er anfing zu weinen, waren es doch eher Tränen der
Erleichterung - meinte er.
Es sollte ein Ende
haben. Es sollte endlich vorbei sein. Frieden, er wollte seinen Frieden. Und so
er nun freiwillig gehen wollte, so hoffte er, dass Gott seinen Tod gegen den
von Agnes aufheben würde und es waren noch 50 Kilometer bis Hamburg.
Der Verkehr wurde
langsam dichter, doch Stefan wollte nicht, dass unbeteiligte zu Schaden kamen.
Es war Zeit Abschied zu nehmen von dieser Welt. Er blickte erneut auf ihr Foto
und es sah friedlich aus. Er blickte auf die Uhr, es war 23.43 Uhr. In diesem
Bereich der A7, gab es auf der rechten Seite einen aufgeschütteten Erdwall und
keine Leitplanken. Er blickte in den Rückspiegel und sah kein Auto, auch vor
ihm war Keines. Wollte er dies wirklich tun? Adrenalin pumpte sich in
unbeschreiblicher Menge in seine Adern.
„Ces´t la Vie.“, rief
er vor Angst lachend und riß das Lenkrad nach rechts. Der BMW verließ mit
kreischenden Reifen die Autobahn, fuhr den Erdwall hinauf und mit einem letzten
Aufheulen des Motors, flog der schwere Wagen über den Wall und verschwand
hinter Selbigem.
Nicole schreckte auf.
Sie hatte bereits fest geschlafen und wurde nun schlagartig wach. Sie sah auf
den Wecker Es war viertel vor zwölf. „Es ist etwas passiert.“, sagte sie zu
sich selbst „Es ist etwas passiert.“, sagte sie nun lauter. Sie sah ihren
Freund an „Michael, es ist irgendetwas Schreckliches passiert!“, schrie sie.
Michael drehte sich um. „Was ist los?“, fragte er. „Ich weiß es nicht, ich bin
gerade aufgeschreckt. Es ist etwas geschehen, ich weiß aber nicht was.“ Sie
begann zu weinen. Michael nahm sie in den Arm. „Es war nur ein böser Traum.“,
sagte er. „ Nein, es war kein Traum, ich weiß es.“ Schlagartig fiel ihr Stefan
ein. Er wirkte am Vorabend so deprimiert. „Er würde doch nicht…“, Blitzschnell
war sie aus dem Bett aufgesprungen und rannte zum Telefon. Sie wählte Stefans
Telefonnummer, ließ es scheinbar ewig klingeln, aber er ging nicht ran. Sie
wählte seine Handynummer, aber auch hier ging er nicht ran. Er muß doch ans
Telefon gehen, er hatte doch Bereitschaft. Sie setze sich in die Küche und
wählte abermals beide Nummern. Es hob niemand ab. Sie rannte ins Schlafzimmer
und zog sich an. „Was ist los?“, fragte Michael besorgt. „Ich weiß nicht was
los ist, aber ich habe das Gefühl, Stefan ist etwas zugestoßen. Ich fahre zu
ihm.“ Michael stand auf und zog sich ebenfalls an. Er wusste, wie gut Nicole
und Stefan befreundet waren, und verstand sich ebenfalls super mit ihm. „Woher
willst du das wissen?“, fragte er. „Keine Ahnung, ich weiß es einfach.“
Mit durchdrehenden
Rädern verließen sie den Parkplatz und fuhren zu Stefans Wohnung. Da Nicole
einen Schlüssel hatte, klingelte sie gar nicht erst, sonder schloß die Tür auf
und stürmte in die Wohnung. Sie schaltete das Licht an und sah, dass Stefan
nicht da war. So sehr sie gehofft hatte, ihn hier vorzufinden, so sehr
verstärkte sich nun ihre Angst.
A sie in die Küche
kam, fielen ihr als erstes die Reste des Kaffees an der Wand auf. Sie suchte
etwas, einen Anhaltspunkt, doch sie fand nichts. Wieder im Wohnzimmer, setzte
sie sich auf die Couch und versuchte nachzudenken. Doch von Angst um Stefan getrieben stand
gleich auf und ging zu seinem Schreibtisch. Sie durchsuchte oberflächlich die
Papiere die auf Diesem lagen und entdeckte den Zettel von Sandy.
Ohne zu zögern wählte
sie die Telefonnummer und wartete. Sandy und Nicole kannten sich ebenfalls von
früher, mochten sich aber nicht besonders. Nach dem fünften Klingeln nahm eine
verschlafene Frauenstimme ab. „Hallo Sandy, hier ist Nicole, du erinnerst
dich?“, Die Stimme am anderen Ende, der Leitung klang verärgert. „Was willst du
und vor allem um diese Uhrzeit von mir?“ „Sandy, beantworte mir bitte nur eine
Frage. Ist Stefan bei dir?“, Und der Klang von Nicoles Stimme reichte, um Sandy
den Ernst der Situation klar zu machen. „Nein, ich habe ihn seit heute früh
nicht mehr gesehen. Was ist passiert?“ Nicole begann zu weinen. „Er ist weg,
verschwunden. Und ich habe ein ganz ungutes Gefühl.“ „Wo bist du jetzt?“,
fragte Sandy. „In seiner Wohnung.“ „Warte, ich bin sofort da.“
Keine zehn Minuten
später stand Sandy vor der Tür. Nicole bat sie herein und die beiden setzten
sich in die Küche. Sandy begann nun auch zu weinen. „Ich halte das nicht mehr
aus. Erst Agnes und jetzt Stefan. Ich halte das nicht mehr aus.“ Blitzartig
hörte Nicole auf. „Was ist mit Agnes?“, Sandy schaute auf und erzählte ihr nun
von Agnes, von dem Tumor und von ihrem gestrigen Abend mit Stefan. Mit jedem
Satz den Sandy sprach wurde Nicole bleicher und blasser und plötzlich fiel ihr
Blick auf den Papierkorb. Sie sprang auf, griff in den Papierkorb und fischte
den Zettel heraus. Sie überflog die Zeilen und ihre Miene versteinerte sich.
Ohne ein Wort zu sagen, fiel sie auf die Knie, verkrampfte ihre Hände und
starrte Sandy mit leeren Augen an. Michael, der die ganze Zeit, ratlos in der
Küchentür stand hockte sich nun hinter seine Freundin und hielt sie fest. „Was
ist los?“, schrie Sandy. „Was steht da?“, Nicole ließ den Zettel fallen und
starrte auf den Fußboden. Sie sagte nichts, sie weinte nicht, sie kniete
einfach nur da und sah den Fußboden an. Sandy las nun ebenfalls die Zeilen und sagte
leise „Um Gottes Willen.“, Michael, der noch immer nicht wusste was los war
entriss Sandy das Papier und glaubte nicht was er da las. Es war zu absurd, zu
unwirklich. Es passte nicht in sein Bild von Stefan. Es passte nicht in seine
Gedanken.
…es geschieht nur, was geschehen musste…will ich mich nicht
länger selbst quälen…vergiss mich bitte nicht.
„Er hat sich etwas
angetan.“, sagte Michael leise. „Nicht Stefan, nein bitte nicht, nein.“,
flüsterte Nicole mit fast erstickter Stimme. „Warum?“, wiederholte sie und
brach abermals in Tränen aus
„Was tun wir jetzt? Die Polizei rufen?“,
fragte Sandy. „Wir wissen ja nicht mal wo er ist?“, warf Nicole ein. „Warum hat
er das getan?“, fragte Sandy. „Er wollte doch mit ihr reden, er hatte es sich
vorgenommen.“ Nicole nahm den Brief und sah Sandy an: „Er wusste genau, dass er
nicht stark genug war, mit ihr zu reden.“, „Wieso bist du dir da so sicher?“,
fragte Sandy. „Ich kenne ihn lange genug. Er hat es doch geschrieben, … sich
nicht länger quälen.“ „Kommt ihr allein zurecht?“, fragte Michael. …wir können
die Kleine nicht so lange allein lassen.“ „Verdammt, Luisa!“, entfuhr es
Nicole. Sie hatte über den ganzen Stress gar nicht daran gedacht, dass ihre
Tochter allein zu Hause war. „Wir kommen klar, fahr du bitte nach Hause.“, und
mit einem Kuss verabschiedete sich Michael, um nach Hause zu fahren. Sandy und
Nicole setzten sich an den Tisch und schwiegen sich an. Sie wussten nicht, was
jetzt das Richtige war. Die Polizei anrufen oder warten? Aber auf was wollten
sie warten? Nicole nahm das Telefon und wählte die 110.
In dem Moment als
sich der Wagen in der Luft befand, blickte Stefan ein letztes Mal auf Agnes
Foto und sagte leise „Lebe wohl.“ Der BMW überschlug sich in der Luft, streifte
ein paar Bäume und schlug mit dem grausamen Geräusch von berstendem Glas und
sich verbiegendem Metall auf und rutschte auf dem Dach liegend die Böschung auf
der anderen Seite des Walles hinunter. Wenig später prallte das Heck gegen
einen weiteren Baum und der Wagen drehte sich um die eigene Achse. Ein
Baumstumpf sorgte ein paar Meter weiter dafür, dass der Wagen sich wieder ein
Stück in die Luft hob und abermals überschlug. Auf der Seite liegen rutschte er
weiter und streifte weitere Bäume, durchpflügte ein paar Sträucher, entwurzelte
junge Bäume und blieb letztendlich auf den Rädern, oder was davon noch übrig
war, auf einem Feldweg zum Stehen. Der Motor verschluckte sich ein letztes Mal
und erstarb dann mit einem Gurgeln. Der linke Scheinwerfer, warf ein
gespenstisches Licht in den angrenzenden Wald. Alle Scheiben waren kaputt, das
Auto war als solches kaum noch zu erkennen und Stefan hing reglos in seinem
Sitz. Das Foto von Agnes, welches nun im Fußraum lag, war voller Blut.
Stefan atmete nicht
mehr.
Nicole hielt den
Hörer an ihr Ohr gepresst, als habe sie Angst, ihr Gegenüber nicht zu
verstehen. „Polizeinotruf, mein Name ist Madlen Hübner.“ „Hallo mein Name ist
Nicole Rehmer. Ein Freund von mir ist verschwunden, ich befürchte, er hat sich
etwas angetan.“, Nicole hatte Angst, dass ihre Stimme versagen könnte. „Können
sie uns genauer beschreiben was los ist.“, sagte die Stimme am anderen Ende der
Leitung. Er hat einen Abschiedsbrief hinterlassen und ist mit seinem BMW
weggefahren, wahrscheinlich in Richtung Hamburg.“ Nicole, vermutete zumindest
dass er in diese Richtung gefahren war. „Wann war das in etwa?“, fragte die
Polizistin. Nicole schwieg einen Moment. „Er muss heute im Laufe des Tages
losgefahren sein.“, gab sie zurück. „Einen Augenblick bitte.“ Die Polizistin
tippte etwas in ihren Computer. „Wir hatten vor ca. 25 Minuten eine Meldung
über einen Verkehrsunfall auf der A7, kurz vor Hamburg. Ein schwarzer BMW, wie
sie in beschrieben haben ist von der Strasse abgekommen und eine Böschung
hinabgestürzt.“ „Oh mein Gott!“, entfuhr es Nicole. „Und der Fahrer?“, fragte
sie zitternd. „ Wurde soeben ins Krankenhaus eingeliefert.“, sagte die Stimme.
„Er lebt!“, schrie Nicole. „Er lebt!“, wiederholte sie. Sandy begann zu weinen.
„Wo, …in welchem Krankenhaus liegt er?“, fragte Nicole. „Er wurde soeben in das
Universitätsklinikum Hamburg gebracht.“ „Danke. Danke vielmals.“, Nicole legte
auf. Erst jetzt begann sie zu weinen. Sie weinte und gleichzeitig lachte sie.
„Stefan lebt.“, sagte sie leise zu Sandy. „Sandy, er lebt. Er liegt im
Uni-Klinikum in Hamburg.“ Sandy sah Nicole an und sagte: „Dann hat er es ja bis
zu Agnes geschafft. Sie liegt auch da.“
Stefan stand auf
einer Lichtung. Ringsum waren Bäume, aber sie standen so dicht, das er nicht
zwischen ihnen hindurch gehen konnte. Die Lichtung war in helles Licht
getaucht, doch es war kein natürliches Licht. Es kam ihm vor, als würde er von
riesigen Scheinwerfern angeleuchtet. Stefan versuchte am Himmel etwas zu
erkennen, doch das Licht schmerzte in seinen Augen. Plötzlich war ein Mädchen
vor ihm, die vor einer Sekunde noch nicht dagestanden hatte. Und obwohl sie nur
ein paar Meter vor ihm stand, konnte ihr Gesicht nicht erkennen. Stefan
strengte sich an, aber es schien als wenn ihr Gesicht aus etwas wäre, dass
seine Augen nicht zu erfassen mochten. Sie trug ein langes weißes Kleid,
welches so hell wie das Licht am Himmel war, aber nicht so sehr in den Augen
schmerzte. Er war verstört. Ihr Kleid wehte wie von einem lauen Wind getragen,
doch es war absolut windstill. Angst überkam ihn, nackte Angst. Er wollte sie
fragen, wer sie sei, doch er konnte seine Lippen nicht bewegen, er konnte sich
gar nicht bewegen. Er fühlte sich wie versteinert ohne Kraft. Barfuß stand
dieses Mädchen nun vor ihm und eine unbekannte Kraft nahm von Stefan Besitz an.
„Warum hast du das getan?“, vernahm er nun von ihr und die Stimme mit der sie
sprach wirkte beruhigend auf ihn und schien ihm alle Last zunehmen. Er wollte
etwas sagen, doch seine Lippen blieben stumm. Er konnte nicht antworten.
„Warum?“, wiederholte sie, doch Stefan konnte seine Lippen nicht bewegen. „Geh
zurück, geh zurück.“, flüsterte sie ihm zu. Und so schnell wie sie aufgetaucht
war, verschwand sie wieder. Das helle Licht erlosch und alles um ihn herum
wurde dunkel. Kälte breitete sich aus und Stefan fror. Er rief nach ihr. Er
konnte wieder sprechen. „Warum jetzt wo sie fort ist? Warum kann ich nun
sprechen?“, doch er erhielt keine Antwort. Nun war es dunkel und still. Er
wusste nicht wo er war. Alles war schwarz. „Wo bist du?“, schrie er in die
Dunkelheit? - Wo?“
Plötzlich wurde es
hell um ihn, aber es war ein anderes Licht. Er erblickte ein Gesicht über sich,
doch es war nicht ihres. Alles war verschwommen. Er schloß kurz die Augen und
öffnete sie wieder. Er war in einem Krankenwagen. „Er kommt zurück, er kommt
zurück, wir haben ihn.“, rief ein Rettungssanitäter zu irgendjemandem.
Stefans Augen
schlossen sich wieder.
Stefans Glück war der
Einsatz eines Notarztes auf einem Bauernhof nahe der Autobahn. Der gemeldete
Kreislaufzusammenbruch, entpuppte sich aber schnell als ein betrunkener
Ehemann, der auf dem Wohnzimmerfußboden seinen Rausch ausschlief. Die Sanitäter
rückten also wieder ab und gerade als sie den Feldweg in Richtung Bundesstrasse
verlassen wollten, hörten sie nehmen sich, das Krachen von Metall und Glas und
sahen wie ein schwarzes Auto einen Abhang herunterstürzte.
Als Stefan abermals
wach wurde, befand er sich in einem hellen Raum. Er blickte sich kurz um und
bemerkte, dass es ein OP war. Eine Krankenschwester ging an ihm vorbei und er
sah sie mit großen Augen an. „Ich glaube er ist wach.“ Der Arzt stellte sich
neben Stefan und sah ihn mit großväterlichem Blick an. „Sie haben viel Blut
verloren, aber sie werden es überstehen.“ Stefan konnte nicht sprechen, sein
Mund war trocken und er hatte keine Kraft. Er nickte dem Arzt zu und sein
Bewusstsein schwand wieder.
Zwei Stunden später
wachte Stefan in einem anderen Raum auf. Es war dunkel und er hatte Schmerzen.
Es schien keinen Knochen zu geben, der ihm nicht wehtat. Er blickte sich um und
konnte aber in dem schwach erleuchteten Raum kaum etwas erkennen. Durch das
Milchglas in der Tür schien Licht und nun erblickte Stefan neben der Tür eine
Schwester, die in einer Illustrierten blätterte. Stefan machte sich mit
röchelnden Geräuschen bemerkbar. Die Schwester vernahm das Geräusch und kam zu
ihm. „Hallo, ich…ich habe Durst.“, sagte er. Die Schwester verließ den Raum und
kam kurze Zeit später mit einer Tasse wieder.
Sie setzte ihm die
Tasse an den Mund und Stefan schmeckte lauwarmen Tee. Es war Pfefferminztee.
„Wo bin ich, was ist passiert?“, fragte Stefan, der sich nicht erinnern konnte,
wie er hierher gekommen war. Die Schwester fühlte seinen Puls und gab ihm noch
einen Schluck Tee. Ehe Stefan eine Antwort erhielt, war er wieder
eingeschlafen.
Sandy und Nicole
waren sofort nach dem Anruf bei der Polizei losgefahren. Sie fuhren schnell bei
Nicole ran, unterrichteten Micha über den Stand der Dinge und beabsichtigten
sofort nach Hamburg zu fahren. Es war mittlerweile 1.12Uhr. Nicole fuhr jedoch,
trotz der Sorge um Stefan besonnen und ihr kleiner Opel Corsa gab so oder so
nicht soviel her. Sandy saß auf dem Beifahrersitz und begann plötzlich zu
weinen. „Es ist alles meine Schuld.“, sagte sie „Ich hätte ihm das von Agnes
nicht erzählen sollen. Warum habe ich es ihm erzählt.“, sei weinte bitterlich.
Nicole wandte sich an Sandy. „Du trägst überhaupt keine Schuld daran, hörst du!
Rede dir das bloß nicht ein.“ „Aber wenn ich es ihm nicht gesagt hätte, dann
wäre er doch nie auf die Idee gekommen.“, schluchzte Sandy. „Sandy, du hast keine Schuld. Verstehst du
mich!“, sagte Nicole nun bestimmend. Sandy schwieg.
Stefan wachte auf und
bemerkte, dass es hell war. Er musterte seine Umgebung und stellte fest, dass
er sich in einem Krankenhaus befand. Er befand sich in einem 2-Bett-Zimer, doch
er war allein. Das andere Bett war zwar bezogen, aber nichts deutete darauf
hin, dass es im Moment genutzt wurde.
Er wollte sich an den
Kopf greifen, er schmerzte, doch sein linker Arm war verbunden und irgendwie
taub. Er bewegte seinen rechten Arm und fühlte, dass sein Kopf bandagiert war.
Krampfhaft versuchte er sich zu erinnern, was geschehen war, doch es fiel ihm
nicht ein.
Er hatte Durst und
Hunger. Ja, er hatte riesigen Hunger. Er blickte sich um und sah die Klingel.
Er drückte den Knopf und kurze Zeit später, erschien eine Krankenschwester im
Raum. „Wo bin ich hier und warum?“, fragte er die Schwester. „Guten Morgen. Sie
befinden sich im Universitätsklinikum Hamburg, sie hatten einen Autounfall.“
„Autounfall…Hamburg? Was mache ich in Hamburg?“, er überlegte krampfhaft, fand
aber keine Lösung. „Der Arzt kommt gleich zu Ihnen, haben sie sonst noch einen
Wunsch?“, fragte die Schwester freundlich. „Ich habe Hunger und Durst.“, tat
Stefan seine Wünsche kund. „Ich bringe Ihnen gleich etwas.“; sagte die
Schwester und verließ den Raum.
„Hamburg?
Autounfall?“, Stefan dachte nach. Es fiel ihm nichts ein. „Was wollte er in
Hamburg?“
Sandy und Nicole
erreichten das Klinikum gegen 9.00Uhr. Unruhig standen sie vor Anmeldung und
erkundigten sich nach Stefan Breitner. Die ältere Dame hinter dem Tresen fühlte
sich scheinbar in ihrer Ruhe gestört und kramte nur widerwillig in den Akten.
„Haus II, Station C. Das ist aber die Intensivstation, da können sie nicht so
einfach rein.“, sagte sie mit unfreundlicher Stimme, doch Nicole hätte ihr am
liebsten einen Kuß gegeben. Die beiden Mädchen erreichten die Station
klingelten. Glücklicherweise öffnete der behandelnde Arzt. „Guten Tag, wir
möchten zu Stefan Breitner.“ „Herr Breitner liegt in Zimmer 242, aber das hier
ist die Intensivstation, sind sie Angehörige?“ Nicole kramte ihn ihrer Tasche
und holte ein von Stefan unterzeichnetes Dokument hervor, welches sie als
Angehörige auswies. Nach dem Tod seiner Eltern war Nicole ja die Einzige, die
ihm geblieben war und so hatte er sich damals zu diesem Schriftstück
entschieden, zum Glück wie sich nun herausstellte. „Und sie?“, fragte der Arzt
Sandy. „Ich bin seine Schwester.“, log sie unverfroren aber bestimmt. „Herr
Breitner hatte einen schweren Autounfall, er braucht jetzt viel Ruhe. Tun sie
bitte nichts was ihn aufregen könnte.“
Sandy und Nicole
warteten die weiteren Worte des Arztes nicht ab und liefen in Richtung der
genannten Tür. Vorsichtig öffneten sie Selbige um einen Augenblick später an
Stefans Bett zu stehen.
Als Nicole Stefan
erblickte, fiel eine Last von ihren Schultern. Sie war so froh, dass es ihm gut
ging und auch wenn er ziemlich lädiert aussah, so schien es ihm im Großen und
Ganzen gut zu gehen.
Stefan sah die beiden
Mädchen erstaunt an. „Ich bin so froh das es dir gut geht.“, sagte Nicole unter
Tränen. Sandy stand neben ihr und sagte leise: „Jetzt hast du es ja bis zu Agnes
geschafft.“
Stefan sah die Beiden
mit großen Augen an. Er hatte scheinbar Mühe zu sprechen und es verging scheinbar
eine Ewigkeit, ehe er etwas sagte. Doch das, was er nun sagte, ließ den Mädchen
das Blut in den Adern gefrieren.
„Entschuldigung. Wer
ist Agnes und wer seid ihr?“
Nicole brach
zusammen, es war einfach zuviel für sie. Sandy fing sie, selbst schwer geschockt
im letzten Moment auf und bewahrte sie so vor einem möglicherweise bösen Sturz.
Stefan sah, die beiden an und verstand nicht. Er kannte sie nicht. Es tat ihm
leid, dass dieses Mädchen zusammengebrochen war, aber er konnte zwischen ihr
und sich keinen Bezug herstellen. Sandy drückte auf die Notfallklingel und eine
Minute später war eine Schwester da. Die Krankenschwester sah Nicole und half
Sandy, sie auf das freie Bett zu legen.
Die Krankenschwester
verließ den Raum und kam kurze Zeit später mit einem Arzt zurück. Sandy
beschrieb schnell das Vorgefallene und der Arzt widmete sich kurz Nicole und
dann Stefan. Er sah Stefan an, leuchtete mit einer kleinen Taschenlampe in
seine Augen und fragte ihn dann nach seinem Namen. Stefan überlegte einen Moment
und sah den Arzt unschuldig an. „Ich weiß ihn nicht.“ Sandy musste sich setzen,
plumpste neben Nicole aufs Bett und fing an zu weinen. Stefan und sie hatten in
den letzten Jahren nie viel miteinander zu tun, aber nach dem vorletzten Abend,
hatte sie ihn so ins Herz geschlossen, ist mit Nicole nach Hamburg gefahren und
musste nun (…)
Stefan hatte
offensichtlich sein Gedächtnis verloren und wann und ob er es wiedererlangen
würde, das stand in den Sternen. Der Arzt war selbst sichtlich geschockt, zumal
eine Untersuchung auf Amnesie, in einer Situation, wie der, in der sich Stefan
befand eigentlich Routine war. Der Arzt redete kurz mit der Schwester und
verließ dann den Raum.
Stefan lag noch immer
halb aufgerichtet, in seinem Bett und verfolgte die Dinge, die um ihn herum
geschahen. Er begriff nicht wirklich was da vorging, er grübelte immer noch,
wie er hieß, wo er herkam, warum er hier war und wer die beiden Mädchen waren.
„Bitte, wer bin ich! Sagt es mir?“, flüsterte er flehend zu Sandy. Nicole lag
noch immer ohnmächtig auf dem Bett und die Schwester kümmerte sich um sie.
Sandy stand auf und ging zu Stefan hinüber. Mit zitternder Stimme begann sie,
was für einen Menschen in Stefans Situation grausam sein mußte, zu erklären wer
er war. „Du heißt Stefan Breitner und kommst aus Barstadt. Das Mädchen auf dem
Bett, Nicole, ist seit Jahren deine beste Freundin, du bist nach Hamburg
gefahren, weil die Frau, in die du seit Ewigkeiten unglücklich verliebt bist,
hier in Hamburg, in diesem Krankenhaus liegt. Unterwegs kam dir scheinbar der
idiotische Gedanke, dein Leben zu beenden und das wäre dir auch beinahe
gelungen.“ Stefan sah Sandy an, wie einen Außerirdischen. Er begriff nicht, was
sie da sagte. Sollte es wirklich so gewesen sein? Er erinnerte sich an nichts.
Sein Gehirn war wie leer geblasen. Nicole wurde wach und richtete sich auf.
Sandy eilte zu ihr und unterstütze sie beim aufrichten. „Geht schon wieder.“,
sagte Nicole, sichtlich geschwächt. Nicole, sah Stefan an und Stefan sah Nicole
an. „Du bist Nicole.“, sagte er mehr fragend als feststellend.
Der Arzt betrat den
Raum, winkte Nicole herbei und sie gingen nach draußen. „Sind sie eine
Familienangehörige?“, fragte er. „Nein, wir sind gute Freunde, aber außer mir
hat er keinen mehr.“ Nicole erklärte dem Arzt die Situation, erzählte vom Tod
von Stefans Eltern und erklärte sich bereit als Ansprechpartner für die Ärzte
zu fungieren. Der Arzt erklärte Nicole: „Auch wenn es notwendig ist, das er
jemanden um sich hat, den er kennt, um sein Gedächtnis zurückzubekommen, ist es
doch wichtig, dass er in den ersten 2-3 Tagen absolute Ruhe hat.“ Nicole dachte
nach und erklärte dem Arzt, dass sie erst einmal nach Hause fahren wolle und
dann in ein paar Tagen wieder kommt.
Sie ging wieder ins
Zimmer und setzte sich auf Stefans Bettkante. Die Tränen zurückhaltend, sagte
sie: „Stefan, ich weiß das du mich nicht erkennst, aber das bekommen wir schon
wieder hin. Wir haben schon so viel geschafft. Ich muß aber erst mal zurück
nach Hause, ich komme Donnerstag wieder.“ Stefan sah sie an und versuchte,
Nicole in seinem Kopf einzuordnen, es gelang nicht. Nicole drückte Stefan, gab
ihm einen Kuss auf die Wange und stand dann auf. Sandy, die während der ganzen
Zeit auf dem anderen Bett gesessen hatte stand nun auch auf und die Mädchen verließen
den Raum. Draussen fing Nicole an zu weinen und Sandy musste sie abstützen.
„Das wird schon. Er ist stark.“, versuchte sie, Nicole zu beruhigen. Nicole
blickte auf: „Ich habe Angst um ihn. Was ist wenn er sich noch mal was antun
will?“ Sandy beruhigte sie. „Das Absurde an der Situation ist, das er keine 30
Meter von Agnes entfernt ist und selbst wenn er sie sehen würde, wüsste er
nicht wer sie ist.“ Sandy setzte sich nun auch. „Verdammt, wie ungerecht kann
das Leben sein.“
Stefan erwachte gegen
15.00Uhr. Er blickte sich in dem Krankenzimmer um und suchte einen Punkt an dem
er festhalten konnte. Er litt an Amnesie, wie der Arzt sagte.
Gedächtnisverlust, wie man allgemein sagt. Man hatte ihm erklärt, das es
wahrscheinlich bald vorbei sein würde, er bald sein Gedächtnis wiedererlangen
sollte. Wie lange das allerdings dauern würde, konnte man ihm nicht genau
sagen.
Stefan stand auf und
ging ins angrenzende Badezimmer. Er stellte sich vor den Spiegel und sah sich
an. In Wirklichkeit, sah er einen wildfremden Menschen an, denn er erkannte
sich nicht. Er verließ das Badezimmer und ging hinaus auf den Gang.
Krankenschwestern liefen hektisch über den Gang und widmeten ihn keines
Blickes. Er ging ein Stück den Flur entlang, als er vor einem Fenster stehen
blieb. Hinter diesem Fenster lag in einem Bett, an Apparate angeschlossen, ein
Mädchen. Sie schien in seinem Alter zu sein und wurde gerade von einer
Schwester behandelt. „Mein Gott.“, dachte er. „Das muß grausam sein. Von
Maschinen abhängig zu sein. Stefan blieb stehen und beobachtete, was in diesem
Zimmer passierte. Die Schwester schien mit ihrer Arbeit fertig und kam in
Richtung Tür. Das Mädchen sah ihr nach und als sie Stefan erblickte, schien sie
erstaunt zu sein. Sie sah ihn an. Doch sie sah ihn nicht nur einfach an, weil
er da stand. Sie schien ihn anzusehen, als wenn sie ihn kennen würde. Sie hob
schwach ihre Hand, so als wollte sie ihn grüssen und blickte ihn weiter an.
Die Schwester kam aus
dem Raum und sah Stefan an: „Sie sind...?“, fragte sie barsch. „Ähm…Stefan
Breitner.“ „Ich liege vorn auf Zimmer 242.“, fügte er noch schnell hinzu. „Ach,
der Autounfall.“, sagte sie und drehte sich um. „Moment bitte.“, hielt Stefan
sie am Gehen auf. Sie drehte sich wieder um und sah ihn an. „Das Mädchen hat
mich gegrüßt.“, sagte er, aber es klang wie eine Frage. „Die Schwester sah ihn
an und dann in ihre Akte, schaute zu Stefan und sagte: „Sie kommen aus derselben Stadt.“ Die
Schwester drehte sich um und ging.
Stefan stand da,
dachte nach und überlegte ob er zu dem Mädchen hineingehen sollte. Sie kam aus
derselben Stadt und sie hatte ihn gegrüßt. In ihm brannte die Frage wer sie war
und wie gut sie sich kannten. Er drückte die Klinke nach unten und betrat das
Zimmer. Ein Geruch von Apotheke machte sich im Zimmer breit. Das Piepen der
Geräte schien unheimlich und laut. Sie schaute ihn an und ein Lächeln überflog
ihr Gesicht. „Hey Stefan, was machst du hier?“ Stefan ging zu ihrem Bett und
sah sie an. „Hallo.“ Vorsichtig fragte er hinterher: „Kennen wir uns?“ Das Mädchen
sah ihn komisch an. „Ach So, bevor ich es vergesse.“, sagte Stefan. „Ich hatte
einen Autounfall und habe..., man nennt es Amnesie.“ Sie schaute ihn an und ein
„Oh, mein Gott.“, entrann ihrem Mund. „Ja, ich weiß nur, dass ich nach Hamburg,
zu einem Mädchen unterwegs war und dann einen Unfall hatte. Dann bin ich hier
im Klinikum aufgewacht.“ Sie sah ihn
nachdenklich an und streckte ihm dann ihre Hand entgegen. „Ich bin Agnes.“
Stefan nahm ihre Hand und sagte „Ja, und ich bin Stefan.“ Er wusste nicht, wenn
er vor sich hatte und wäre angesichts der Situation, würde er sie erkennen
zweifellos, überglücklich, wenn nicht
sogar mehr sein, aber sein Gedächtnis war ihm nicht zur Hilfe, um ihm zu sagen:
„Hey das ist Agnes, du stehst vor der Frau, die du liebst. Du bist am Ziel.“
Stefan setzte sich
auf den Stuhl neben ihrem Bett und schaute sie an. Er versuchte seine
Erinnerung nach ihr abzutasten, aber da war nichts. „Erzähl.“, sagte er. „Wie
gut kennen wir uns?“ Agnes sah ihn an: „Eigentlich nicht sehr gut. Wir sind
einen Zeit lang, zusammen in die Schule gegangen. Wir saßen in Englisch auch
mal einen Weile nebeneinander, das war in der 5. und 6. Klasse. Danach bin ich
aufs Gymnasium gegangen. Ich habe dich zwar ab und zu mal gesehen, aber
ansonsten hatten wir nicht viel miteinander zu tun.“ Stefan schaute traurig.
„Was hast du?“, fragte sie. „Ich dachte wir kennen uns ein bisschen besser. Ich
hätte gern gewusst wer ich bin und was ich so mache.“ „Sie schaute ihn
mitleidig an: „Tut mir leid.“ „Was hast du, warum bist du eigentlich hier?“,
fragte Stefan nun um etwas über sie zu erfahren. „Das ist einen lange
Geschichte.“, sagte sie. „Ich habe Zeit.“, lächelte er sie an. Agnes richtete sich ein Stück auf und trank
einen Schluck Tee. „Nachdem ich ständig Kopfschmerzen hatte bin ich zu meinem
Hausarzt gegangen, er verschrieb mir stärkere Tabletten, aber es half nicht.
Also hat er mich zum EEG geschickt und die Ärzte dort haben bei mir einen Tumor
festgestellt und mich sofort hierher überwiesen. Das Klinikum soll das Beste
auf dem Gebiet sein. Dann haben sie mich operiert und mir das Teil entfernt.
Irgendwie kam es zu Komplikationen und nun liege ich seit 2 Wochen hier.“
„Stefan sah sie
bestürzt an. „Verdammt.“, sagte er und es war auch das Einzige, was ihm dazu
einfiel. „Und wie geht es dir so?“, fragte er etwas unbeholfen. „Im Moment ganz
gut. Ich bekomme Medikamente und bin halt an diese Maschinen angeschlossen.
Aber was soll es, das Leben geht weiter.“ Er sah sie an: „Ich habe so viele
Fragen. Es gibt so vieles was ich nicht mehr weiß.“ Er blickte auf und lachte.
„Ich weiß ja eigentlich gar nichts mehr.“ Agnes nahm seine Hand: „Warte ab,
dein Gedächtnis kommt bald wieder und geniesse solange den positiven Aspekt der
Sache, - die schlechten Erinnerungen sind auch weg.“ Stefan schaute sie an, er
schaute ihr direkt in die Augen, wieder war da dieses merkwürdige Gefühl. „Was
ist?“, fragte Agnes. „Eine Freundin war mich heute früh besuchen.“, sagte er
tonlos. „Das ist doch schön, und?“ Mit stockender Stimme, sagte Stefan. „ Sie
meinte ich wäre unterwegs nach Hamburg gewesen und der Autounfall wäre das
Resultat eines Selbstmordversuches.“ Sie blickten sich an und keiner der Beiden
sagte etwas. „Das Dumme ist...“, beendete Stefan das Schweigen. „Ich kann mich
an nichts erinnern.“ „Es muß schon etwas sehr Schlimmes gewesen sein, wenn du
nicht nur den Gedanken daran hattest, sondern auch versucht hast es
umzusetzen.“ Agnes schien nach nachdenklich. „Und du hast keine Idee, warum du
es getan hast?“ „Nein, eben nicht. Das wurmt mich ja so und irgendwie habe ich
Angst, das ich, wenn mein Gedächtnis zurückkehrt, mit den ausschlaggebenden
Gedanken in Berührung komme“
„Aber wenigstens
haben wir beide jemanden zum Quatschen, solange wir hier sind.“, versuchte Agnes,
das Thema zu wechseln. „Man kann sich ja kennenlernen.“, sagte Stefan mit
ironischem Unterton. „Worüber wollen wir uns unterhalten?“, fragte Stefan. „Ich
habe da nicht viel zu berichten.“ Agnes lächelte ihn an. „Ich erzähl dir ein
bisschen was über Barstadt, vielleicht fällt dir ja dann was ein.“ Agnes begann
zu erzählen und Stefan lauschte gespannt. Agnes erzählte über das Schloss und
den Park, über die Geschichte der Stadt und über einige Leute, von denen sie
glaubte, dass Stefan sie kennen könnte. Stefan versuchte, sich das Erzählte
vorzustellen und sann danach Bilder aus ihren Worten zu formen. Aber er wusste
ja nicht, ob das was er sich vorstellte, sich mit der Realität überhaupt
annähernd deckte. Er beobachtete Agnes, wie sie redete. Er achtete auf die
Bewegungen, die ihr Mund machte, auf ihre Augenpartie wie sie sich bewegte und
ihre Augen, wie sie von einem übermächtigen Lebensmut ausgefüllt waren. Er
beobachtete ihr Lächeln und ihre Zähne, die immer wieder zwischen ihren Lippen
aufblitzten. Eigentlich hörte er ihr kaum noch zu, sondern versank in Gedanken.
„Sie war ein hübsches Mädchen, intelligent und humorvoll. Warum hatte er in
seinem „anderen“ Leben nichts mit ihr zu tun. „Hörst du mir überhaupt zu?“,
fragte sie. „Sorry, tut mir leid, ich habe dich beobachtet.“, sagte er
schuldbewußt. „Das habe ich allerdings bemerkt.“, gab sie zurück. „Tut mir
leid, ich dachte, ich erinnere mich vielleicht an dich.“ Agnes sah zur Tür und
eine Ärztin betrat den Raum. „Ah, Herr Breitner, haben sie schon Kontakte
geknüpft?“, fragte die Ärztin, gut aufgelegt. „Ja, ich...wir kommen aus der
selben Stadt.“ „Das hat mir die Schwester schon gesagt. Ich müsste Frau
Jachmann jetzt aber untersuchen. Sie können dann gern später wieder kommen.“
Stefan sah Agnes an: „Bis später.“, und gab ihr die Hand. „Bis dann.“, sagte
sie leise. Stefan verließ das Zimmer, ging den Gang entlang und dachte nach.
Irgendwie strahlte dieses Mädchen etwas aus, was zu beschreiben
nicht einfach war. Er ging in sein Zimmer, legte sich aufs Bett und schlief
kurze Zeit später ein. Er träumte davon, wie er auf einer Lichtung stand,
ringsum mit dichten Bäumen umgeben und vor ihm stand auf einmal Agnes. Vom
Himmel herab, schien ein helles Licht und er versuchte hineinzuschauen. Es
schmerzte in den Augen und als er wieder zu ihr sah, war sie plötzlich weg. Er
blickte sich um, doch er konnte sie nirgendwo sehen. Er versuchte die Lichtung
zu verlassen, doch die Bäume standen so dicht, dass er nicht zwischen ihnen
hindurch kam. Und doch konnte er ihre Stimme hören, schwach nur, aber er hörte
sie. Stefan wachte schweißgebadet auf. „Was für ein komischer Traum.“, dachte
er und bemerkte, dass er dieser Traum ihm bekannt vor kam. Ein Deja Vu?
Draussen war es bereits dunkel
und er wusste nicht wie spät es war. Er sah auf die Uhr und merkte, dass er gut
2 Stunden geschlafen hatte. Auf seinem Bett sitzend, dachte er über den Traum
nach. Es klopfte an der Tür und die Schwester kam mit dem Abendessen herein.
„Hallo Herr Breitner. Haben sie Hunger?“ „Wenn sie so fragen, sehr Großen
sogar.“ Die Krankenschwester stellte ein Tablett auf den Tisch und verließ den
Raum wieder. Stefan aß hastig was ihm aufgetischt wurde. Während er den
Hackbraten verspeiste, überlegt er ob er nach dem Essen wieder zu Agnes gehen
sollte. Auf keinen Fall wollte er ihr auf die Nerven gehen, aber er hatte ja
hier sonst keinen. Er überlegte auch, ob er Agnes von dem Traum erzählen
sollte. Da sie nach seinem Unfall der einzige Mensch war, zu dem er richtig
Kontakt hatte, meinte er das es vielleicht völlig normal war, von ihr geträumt
zu haben, war sich seiner Sache aber nicht wirklich sicher. Irgendwie schien es
ihm unheimlich.
Agnes saß auf ihrem Bett und
stocherte appetitlos in ihrem Salat. Sie dachte an Stefan und welche Zufälle
das Leben doch manchmal bereithielt. Agnes schauderte bei dem Gedanken, dass er
sich etwas hatte antun wollen. Wie kam ein Mensch dazu, bereitwillig aus dem
Leben scheiden zu wollen. Es müssen schon unverständliche und schlimme Gründe
sein. Gern hätte sie den Grund erfahren, aber er wusste es ja selbst nicht ein
Mal. Ihre Untersuchung war sehr gut gelaufen und die Ärztin war sich sicher,
dass sie auf dem Weg der Besserung ist. Agnes war langweilig und sie hoffte,
dass Stefan sie noch besuchen kommen würde. Nun hatte sie wenigstens jemanden,
mit dem sie reden konnte und den sie sogar, wenn auch nicht sehr gut kannte.
Letzteres konnte man ja ändern, führte sie den Gedanken zu Ende. Sie stellte
den Salat beiseite, nahm ein Buch von ihrem Beistelltisch und begann zu lesen.
Irgendwie konnte sie sich nicht
auf das Lesen konzentrieren. Immer wieder kramte sie in ihren Gedanken, kramte
nach Dingen, die sie an Stefan erinnern könnten, die sie ihm vielleicht
erzählen konnte. Da wurde ihr auf einmal bewusst, so hatte es ihr ihre Freundin
Nicole damals erzählt, dass Stefan in der 4. Klasse einmal in sie verliebt war.
Stefan hatte sich mit seinem Kumpel Tobias darüber unterhalten, und Nicole
hatte gelauscht. Sie überlegt ob sie ihm das erzählen sollte und gleichfalls
dachte sie daran, dass er es niemals zur Sprache gebracht hatte, niemals „mit
ihr gehen“ wollte. Vielleicht lacht er sie aus wenn sie ihm das erzählt, oder
was auch immer. Sie wollte es für sich behalten. Sie lehnte sich zurück und
dachte weiter nach.
Sie lag nun schon seit ein paar
Wochen hier, gefesselt an diese Maschinen und nicht in der Lage, selbst über
sich zu entscheiden. Traurigkeit und Melancholie überkamen sie ständig und
immer wieder. Es war nicht wirklich klar ob sie ihr Leben jemals wieder so
unbeschwert wie vorher geniessen konnte, geschweige denn, ob sie überhaupt und
wenn, für wie lange sie dieses Krankenhaus verlassen können würde. So stark sie
auch war, so sehr wünschte sie sich jemanden, an dessen Seite sie sich lehnen,
wo sie sich einfach richtig ausheulen konnte. Tränen schossen ihr aus den Augen
und ihre Ängste und Gefühle gewannen die Oberhand. In genau diesem Moment
öffnete sich die Tür und Stefan betrat den Raum. Als er Agnes erblickte mischte
sich Sorge in sein Gesicht. Agnes versuchte, die Tränen zu unterdrücken und
lächelte Stefan an. „Hey, alles klar bei dir?“, fragte er liebevoll. „Geht,
schon, ich bin nur ein bisschen depressiv.“ Stefan setzte sich zu Agnes aufs
Bett und ohne es steuern zu können oder es wissentlich zu tun, nahm er ihre
Hand und sah sie an. Agnes schaute ihn aus ihren leuchtend blauen Augen an und
Tränen kullerten über ihre Wangen. „Bin ich so ein schlechter Mensch? Habe ich
das verdient?“ Stefan wollte sie trösten, wusste aber nicht wie. Ihre Hand, die
warm und weich in Seiner lag, löste in ihm etwas aus, dass er als Gefühl von
Verbundenheit interpretierte, jedoch in seinem Kopf der Versuch war, ihm sein
Gedächtnis wieder zugänglich zu machen. Doch es schien, dass Stefan noch nicht
soweit war. „Wenn ich sterben muss…“, sagte Agnes. Stefan sah sie bestürzt an:
„Sag so etwas bitte nicht.“, brachte er entgegen. „…ich habe Angst, Stefan. Ich
will leben, lachen und Kinder haben.“ Sie drückte sich an Stefan und weinte bitterlich. Stefan umarmte sie und
hielt sie fest, ganz fest. Ihr Haar kitzelte in seinem Gesicht und der Duft
ihrer Haut ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen. Er wollte ihr helfen,
aber wie sollte er das tun? Er löste sich aus der Umarmung, nahm ihre Hand und
sah ihr in die Augen. „Agnes, du wirst es schaffen. Du wirst leben. Glaube mir.
Ich weiß nicht warum, aber ich bin mir sicher, dass du es schaffst.“ „Danke.“ Agnes
schaute Stefan an. „Danke für diese Worte. Manchmal ist es ausreichend, ein
nettes Wort von jemanden zu hören, einfach zu wissen, dass man nicht der ganzen
Welt egal ist.“ Eine Träne ran über ihre Wange und sie drückte sich wieder an
ihn und er streichelte ihr instinktiv über den Rücken. Sehnsüchte wurden in
Stefan wach. Seine Gedanken versuchten, sein bisheriges Liebesleben zu
rekonstruieren, aber er fand nichts, er erinnerte sich an nichts. Agnes war in
diesem Moment der einzige Mensch, zu dem er jemals körperlichen Kotakt hatte.
Es war für ihn prägend und einzigartig. Es war neu.
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Stefan Barth).
Der Beitrag wurde von Stefan Barth auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.12.2009.
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