Maria Thermann

Es Wird Langsam Zeit (Teil 3)


      „Sind Sie ganz sicher, dieser Ausschlag auf Samuels Hand ist nicht gefährlich?“ Händler Thurston Senior schnüffelte argwöhnisch an der giftgrünen Salbe, die John Cook auf die entzündete Stelle geschmiert hatte.

 

        „Aber nein, ihr Sohn hatte wohl im Warenlager mit etwas Kontakt, dass seine Haut nicht verträgt. Die Salbe hilft sehr schnell.“ John wusch sich die Hände und beobachtete Samuel, der wie befohlen einen wollenen Handschuh über den Verband zog und sich missmutig aus dem Zimmer schlich.

 

Während Händler Thurston Senior leutselig und freundlich war, hätte man sich kaum einen größeren Unterschied zwischen Vater und Sohn vorstellen können, ging es John durch den Kopf. Samuel war stets schlecht gelaunt, brüllte seine Leute an und während sein Vater im Wirtshaus gerne mal ein Fässchen Ale spendierte, saß Samuel meist für sich allein in der dunkelsten Ecke. In den letzten Wochen hatten sich allerdings seine zwei engsten Vertrauten mehrmals bei ihm eingefunden. Kapitän James Thrower und sein Steuermann Nicolas Mott hatten sich im Wounded Hart Inn zu Samuel gesetzt und mit ihm geflüstert. Es war John aufgefallen, da Samuel sonst ein Eigenbrödler war und normalerweise sein Bier alleine schlürfte.

 

Nachdem John Cook nochmals bestätigt hatte, Samuel würde den Hautausschlag mit Sicherheit überleben, trollte sich Händler Thurston Senior endlich und John widmete sich wieder seiner nebenberuflichen Tätigkeit als Gerichtsmediziner. Er zog die kleine Tonpfeife aus der Tasche, die er in der Nacht zuvor auf dem Friedhofsgelände gefunden hatte. In der Pfeife steckte noch Tabak. John klopfte den Pfeifenkopf auf dem Tisch aus und fegte die Tabakreste in seine Hand. Er beroch die Krümel und wunderte sich: eine einfache Tonpfeife, so wie sie jeder Seemann im Hafen benutzte, aber der Tabak, der war teuer!

 

Obwohl John selbst nicht rauchte, kannte er sich gut genug aus, um zu wissen, dass die Heuer eines gewöhnlichen Matrosen für einen so teuren Tabak nicht ausreichte. Oft genug hatte Händler Thurston Senior ihn stolz durch die Warenlager im Hafen geschleppt und ihm stundenlang von den exotischen Waren aus den Kolonien vorgeschwärmt. Ja, John kannte sich inzwischen fast so gut aus wie einer der Händler.

 

John wurde plötzlich durch ein leises Klopfen aus seinen Gedanken aufgeschreckt.

 

        „Da sind ja meine Spürhunde!“ John öffnete die Tür und wies die beiden Jungen in sein Arbeitszimmer. „Und…ich nehme an, dieser Besuch bedeutet, ihr habt was herausgefunden in der Stadt?“

 

        „Sarah hatte mir am Sonntag in der Kirche gesagt, in der Küche im Seething Manor sei was faul. Sie hat sich schrecklich vorm Koch gefürchtet“ platzte John Inman Junior heraus, bevor er noch ganz durch die Tür war. „Wenn sie mir doch bloß anvertraut hätte, was da vor sich geht im Gutshaus!“

 

        „Dann wärst du jetzt vielleicht auch in einem Grab neben Sarahs Leiche!“ John Cook legte seine Hand auf Inman Juniors Schulter. „Mach dir keine Vorwürfe, mein Junge. Sarahs Tod und auch der eurer Freunde George und Rob wird gerächt werden, verlasst euch drauf.“

 

        „Ich bin mit dem Schmied zum Gutshaus hinausgefahren, der musste dort was arbeiten. Na, ich hab ein bisschen geholfen und dann habe ich mich aus dem Staub gemacht und ein wenig spioniert. Sarah hatte recht, in der Küche stimmt was nicht. Sie hätten sehen sollen, was da alles in der hintersten Ecke in der Vorratskammer versteckt war!“ Giles fuchtelte mit den Armen herum, als wolle er den Umfang eines Walrosses beschreiben.

 

        „Vorsicht!“ rief John und rettete einen Krug mit einer Tinktur vor Giles’ Erzählkunst.

 

        „Fässer voll Rum und Krüge voll mit Wein vom Kontinent, Stoffballen aus feinster Seide und Brokat“ fuhr Giles unbeirrt fort. „Alles zwischen Säcken voll Zucker und Mehl verborgen!“ Giles’ große, blaue Augen leuchteten. „Beim Bart der fetten Tante Gimingham, Schmuggelware liegt da im Gutshaus versteckt!“

 

        „Magistrat Absolon ein Schmuggler? Kein Wunder, dass er im Wirtshaus immer so großzügig sein kann und Fässer Ale spendieren kann! Giles, du hast dich in Gefahr gebracht, wenn das wirklich Schmuggelware ist. Hat dich irgendwer gesehen?“

 

        „Nah, keine Menschenseele. Ich habe gewartet bis Hochbetrieb in der Küche war. Der Magistrat hat Besuch gehabt, da gab’s großen Mittagstisch. Es ging drunter und drüber, Sie hätten hören sollen, wie der Koch geflucht hat. Ihm fehlt doch eine Küchenmagd.“ Für einen Augenblick sah Giles betreten auf den Boden.

 

John verstand seine Betroffenheit. Sarah’s Geist schien im Arbeitszimmer zu schweben. Nach einer Weile schüttelte Giles traurig den Kopf und ließ sich auf einem Schemel nieder. Er ergriff schüchtern eine Scheibe Brot, als John ihm den Brotkorb reichte, um die Jungen auf andere Gedanken zu bringen.

 

Als sie später um den kleinen Holztisch herumsaßen und Inman Junior nachdenklich kaute, lebte Giles wieder auf. Er schnitt sich eine Scheibe Käse ab, beschnüffelte sich ehrfürchtig und legte sie liebevoll auf sein Brot.

 

        „Hm…Kriegsrat mit Festessen“ grinste er und biss herzhaft in seinen Käse. Im Nu waren der Brotkorb und die Käseplatte leer. John bestaunte, wie viel die Jungen essen konnten, aber dann erinnerte er sich an seine eigene Jugend und wie sein Magen immer geknurrt hatte. Er schob eine Schale Kirschen in Giles’ Reichweite, als er dessen Blicke in diese Richtung bemerkte. Giles ließ sich nicht lange bitten und stopfte sich gleich eine Handvoll in den Mund.

 

        „Was wir brauchen, sind handfeste Beweise. Wir können nicht den Magistrat Absolon beschuldigen, ohne dass wir nicht bestätigen können, wo er das Zeug herhat. Er kann sich verteidigen und sagen, er hat’s gekauft oder er kann den Koch beschuldigen.“ John fegte die Kirschkerne vom Tisch, die Giles gerade ausgespuckt hatte. „Mir fehlt offensichtlich auch eine Küchenhilfe!“

 

        „Genügt es nicht, dass die Schmuggelware bei ihm in der Vorratskammer versteckt liegt?“ Inman Junior prustete aus vollen Backen hervor.

 

        „Wenn er bemerkt, dass ihm jemand auf die Schliche gekommen ist, braucht er doch nur den Plunder irgendwo anders zu verstecken und dann haben wir eine Verleumdungsklage am Hals. Jedenfalls wissen wir jetzt, es gab tatsächlich ein Motiv, die kleine Sarah aus dem Web zu schaffen. Das ist schon viel wert, aber leider sehe ich noch nicht den Zusammenhang mit den Morden an George Mackley und Rob Palmer.“ John zog die Tonpfeife wieder aus der Tasche. „Ich möchte bloß wissen, wer der Mann auf dem Friedhof war, der dich verloren hat, Pfeifchen.“

 

        Die Jungen machten große Augen. „Jemand hat uns letzte Nacht beobachtet?“ Giles ergriff die Pfeife. „Dieses Ding gehörte dem Unbekannten?“

 

        John nickte. „Ja, er hat sie in seiner Eile verloren und ich fand sie hinter einem Grabmal neben seinen Fußspuren.“

 

Giles hielt sich die Pfeife unter die Nase und atmete den kalten Tabakgeruch ein.

 

        „Hm, ganz schön teuer! Komisch, ist ne Seemannspfeife, aber auf der Good Intent kann sich keiner so’n teuren Tabak leisten.“

 

       

        John nickte anerkennend und wollte gerade Giles seine Theorie über den Tabak unterbreiten, als Inman Junior sie unterbrach.

 

„Elias Ross!“ Inman Junior schlug sich mit der Hand auf die Stirn. Er sah John und Giles triumphierend an.

 

        „Was ist denn mit dir los, ist dir das gute Essen zu Kopf gestiegen? Was hat denn der alte Elias mit dieser Mordgeschichte zu tun?“ Giles runzelte die Stirn.

 

        „Der alte Elias hat George und Rob häufig nachts mit zum Fischen genommen.“ Inman Junior zog seine Augenbrauen in die Höhe und nickte Giles und John bedeutungsvoll zu.

 

Giles machte eine Handbewegung, die vermuten ließ, Inman habe seiner Meinung nach nicht mehr alle Brotscheiben im Korb.

 

        „Was hat denn das Angeln mit den Morden zu tun? Red’ keinen Quatsch.“

 

        „Aber natürlich! Großartig John, der alte Inman kann stolz sein auf seinen scharfsinnigen Sohn!“ John Cook schlug Inman Junior so herzlich auf die Schulter, daß es klatschte und der Junge ein wenig in sich zusammensackte.

 

        „Der alte Ross nimmt den George und den Rob nachts mit zum Fischen und die drei stören die Bande beim Schmuggeln -“ Giles verschluckte vor Erstaunen eine Kirsche mit Stein.

 

        „…und eure Freunde erkennen die Männer – oder zumindest einen von ihnen – und die Schmuggler begreifen, dass sie entdeckt worden sind. Entweder wurden die drei Fischer gesehen oder einer von ihnen war so töricht und hat geplaudert“ beendete John Cook den Satz.

 

        „Es war bestimmt der alte Ross, sein Mundwerk steht nie still!“ Giles hieb mit seiner kleinen Faust auf den Tisch. „Elende Quasselstrippe!“

 

        „Aber dem alten Ross haben sie bisher nichts angetan!“ John sah erstaunt von seinem Teller auf. „Wieso nicht, frage ich mich.“

 

        „Weil der alte Elias immer besoffen ist! Dem glaubt ohnehin niemand ein Wort.“ Inman Junior nahm einen tiefen Schluck aus seinem Bierglas und rülpste.

 

        „Hah, dann haben wir einen Zeugen!“ John stand auf und streckte sich. „Irgendwann wird er ja nüchtern sein. Gleich morgen früh werden wir ihn aufsuchen und ausfragen.“

 

        „Da können Sie lange warten, bis der nüchtern wird. Elias war schon besoffen, als ich grade mal so groß wie ’ne Sprotte war!“ Giles wischte sich mit dem Handrücken die Krümel vom Mund.

 

        „Ihr vergesst, ich bin Mediziner! Es gibt Mittel und Wege, dem Elias einen klaren Kopf zu verschaffen.“ John lächelte. „Gut gemacht, meine Spürhunde. Es wird ja auch langsam Zeit, dass wir dem Täter auf die Fersen rücken!“

 

Am anderen Morgen trafen sie sich an der Hütte vom alten Fischer Elias Ross. Seine Kate war aus allen möglichen Brettern und Fischkisten zusammengenagelt worden und es schien keine Fenster zu geben. John wollte energisch gegen die Lattentür klopfen, aber die Tür stand einen Spalt offen. Er rief in die Dunkelheit hinein, bekam aber keine Antwort. Sie traten in die finstere Hütte ein. Es roch nach Fisch, Branntwein und kaltem Rauch. Das Feuer im Herd war ausgegangen.

 

Sie mussten sich in der Dunkelheit mühsam vorantasten. Plötzlich stolperte John und fiel der Länge nach auf den Boden. Er befahl den Jungen, sich nicht vom Fleck zu rühren. John rappelte sich unbeholfen auf und gelangte zu dem einzigen Fenster der Hütte. Er öffnete die Fensterläden und das Morgenlicht flutete in die Fischerkate.

 

Auf dem Boden lag Elias Ross und starrte mit offenen Augen an die Decke. Sie schienen sich nicht von den dort hängenden Dörrfischen fortreißen zu können. Elias’ rechter Arm war unter einem umgefallenen Stuhl verborgen, sein linker Arm lag angewinkelt über seiner Brust. Der alte Mann umklammerte einen Dolch, der sein Herz durchbohrt hatte.

 

Giles stand in einer Lache von dickflüssigem Blut. „Und was nun?“ fragte er mit weit aufgerissenen Augen.

 

„Jetzt suchen wir die Hütte nach Hinweisen auf den Mörder ab! Diesmal bin ich als erster am Tatort und diesmal kommt nichts weg, bevor ich mich umgesehen habe!“ John begann systematisch die Hütte abzusuchen. Die Jungen wagten sich nicht vom Fleck und warteten bei der offenen Tür.

 

Wenige Augenblicke später bückte John sich und hob einen Stofffetzen vom Boden auf. Er besah den Fund erstaunt, führte den Stoff zu seiner Nase und beroch den Fetzen.

 

        „Es wurde langsam Zeit, dass sich unser Glück wendet! Dieser Fetzen ist eine Bandage aus meiner Praxis! Das grüne Zeugs ist meine eigene Salbe!“

 

Ende von Teil Drei/Fortsetzung folgt

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.12.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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