Hellmut Frey

An einen in Not geratenen Freund

 

Er stütze sich mit der Hand ab, indem er sich an die Wand lehnte und durch das vergitterte Fenster in den Nachthimmel schaute. Der Vollmond strahlte und schickte ein spärliches Licht in seine Zelle. Er konnte sogar in Bruchstücken die Photos erkennen, die er sich an der Wand angebracht hatte. Er fragte sich was der Freund wohl gerade machte  und seine Gedanken gingen zurück.

Es  waren nur Sekunden die sein Leben plötzlich veränderten. Er sah noch den Lichtstrahl der Scheinwerfer, sah den Baum der plötzlich vor ihnen auftauchte. Er hatte den Wagen nicht mehr unter Kontrolle. Der Wagen raste auf das Unvermeidliche zu, ein Aufschrei aus vier Kehlen, ein dumpfe Aufschlag und dann Stille. Erst viel später erfasst er die Situation und war Gott dankbar, dass seine Begleiter noch alle am Leben waren. Die Verletzungen waren zum Glück  nur leicht, obwohl der Wagen Totalschaden hatte. Das er Alkohol getrunken hatte verdrängte er.

Er seufzte und atmete tief durch und versuchte so viel wie möglich von der frischen Nachtluft zu inhalieren. Die nächsten Bilder die entstanden zeigten den Richter, der völlig gefühllos das Urteil sprach. Die verhängnisvollen Worte hatten sich bis heute fest bei ihm eingeprägt und er war schon 6 Monate hier. Zweieinhalb Jahre ohne Bewährung tönte eisern die Stimme. Er atmete wieder schwer und dachte, wie soll ich das durchhalten. Er tastete sich im Halbdunkeln zu seiner kargen Pritsche und ließ sich darauf fallen. Er wusste aber auch, dass er wieder keinen Schlaf finden würde.

 

An anderer Stelle:  Ein weises Blatt Papier, ein Mann saß davor.  Nennen wir ihn John.

 

John hielt den Kopf auf seinem Ellenbogen gestützt und schaute in Gedanken versunken zum Fenster hinaus. Auch er sah den gleichen Mond, sah das gleiche Licht mit einer Ausnahme. Sein Fenster war nicht vergittert. Seine Gedanken flogen durch die Nacht und er fragt sich: „Wie geht es wohl Pierre?“  Er kannte seinen Freund sehr gut und er glaubte zu wissen, was Pierre jetzt durchmachen musste. Er macht sich unentwegt Gedanken um ihn. Pierre liebte die Freiheit, war fröhlich und er war ein Gemütsmensch. John aber wusste auch von seiner Verletzlichkeit. Würde er die Enge der Zelle und die Strenge der Wärter ertragen? Was soll ich schreiben? Wie kann ihm helfen?  Viele Fragen beschäftigten John in diesem Augenblick. Er wollte auch nichts falsch machen, nicht Zeilen schreiben, die Pierres Sehnsucht nach draußen nur noch steigern würden.

Johns Blick fiel auf ein Buch auf dem Tisch, das er gerade gelesen hatte. Jack Londons „Schrei nach Leben“!

Das ist es dachte er und begann den Brief zu schreiben.  Er erzählte von den Männern, die in der Eiswüste ums nackte Überleben kämpften, von ihrem verbissenen Ringen dem kalten Gefängnis zu entfliehen. Erzählte auch davon, das sich der Kampf der Männer am Ende gelohnt hatte, denn sie konnten der Hölle entrinnen.

 

Wieder überlegte John sorgfältig, bevor der Stift die weiteren Zeilen zu Papier brachte.

 

Lieber Pierre: „Ich halte es für dringend notwendig, dass man in keiner Phase seines Lebens vergisst, dass es da immer etwas geben wird, für das es sich lohnt zu leben. Die Frau, das Kind, ein Freund oder sei es die Schönheit der Natur. Es wird für jeden Menschen etwas anderes sein, was durchaus nicht verwunderlich ist, liegt es doch in der unterschiedlichen Mentalität des einzelnen Individuums begründet. Wichtig erscheint es mir nur, dass es immer da ist. Wichtig aber auch der Gedanke, dass es tausende von Menschen gibt, die zur gleichen Stunde Schwereres zu ertragen haben, wie wir selbst. Dabei dürfen wir nicht, auch nicht im entferntesten Winkel unseres Herzen, so etwas wie Schadenfreude empfinden. Ich glaube überhaupt, dass es dem Menschen nur erlaubt sein sollte, zum Zwecke der eigenen Kraftschöpfung, solches Gedankengut zu nutzen. Er tut dann letztendlich nichts weiter, als eine objektiv vorhandene und von ihm unmittelbar nicht beeinflussbare negativ Erscheinung, einen positiven Nutzen zuzuführen. Wichtig aber auch noch der Gedanke, dass man erst dann verzweifeln sollte, wenn die Strömungen des Lebens uns an einem solchen Punkte stranden ließen, an dem uns selbst die Nutzung derartigen Gedankengutes versagt bleibt. Und das ist theoretisch unmöglich, da nichts auf dieser Welt existiert, das befähigt wäre, das für uns festzustellen.“

 

John schaute zur Uhr. Es war sehr spät geworden.  Er signiert den Brief, steckt ihn in einen Umschlag, den er sorgsam verschloss.  Er griff nach seiner Jacke, zog sieh an, nahm den Umschlag und verließ das Haus. Er lief durch die Kälte der Nacht, aber er wollte dass der Brief schon morgen früh auf die Reise ging.

 

Zwei Tage später:

 

Pierre hörte Geräusche. Sie kamen von einem Schlüsselbund. Ein Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt und es machte ein metallisches Geräusch. Pierre hob in gespannter Erwartung den Kopf und die Tür seine Zelle öffnete sich. Ein mürrisch blickender Wärter trat herein und brummte: „Ich habe ein Brief für dich!“ Lieblos ließ er den Brief auf den kleinen Tisch in der Zelle fallen, drehte um und ging wortlos wieder hinaus. Pierre hat wieder die ganze Nacht nicht geschlafen. Er war müde und traurig. In dem Augenblick aber, in dem der Wärter den Brief in der Zelle zurückließ, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Mit zitternden Händen nahm er den Brief auf und öffnete ihn mit aller Behutsamkeit. Er hielt das weiße beschriebene Papier in seinen Händen. Er schaute wieder zum Fenster hinaus. Es war ein schöner Tag. Die Sonne hat den Mond abgelöst. Ein Weile verharrter er so. Dann ging er zu seiner Pritsche, setzte sich und begann zu lesen. Wieder und wieder las er diese Zeilen. Er faltete den Brief wie eine Kostbarkeit und steckte ihn in die Brusttasche seines Hemdes. Er trug ihn den ganzen Tag mit sich herum und seine Gedanken kreisten um dessen Inhalt.

Wieder ist es Nacht geworden, wieder stand Pierre am Fenster und starrte in die Dunkelheit und wieder stand der Mond am Himmel.  Doch heute war alles anders. Noch mal hatte er den Brief gelesen und so etwas wie Zuversicht machte sich in ihm breit. Er wusste er war nicht allein. Er wusste genau was ihn der Freund sagen wollte. Mit den Gedanken „ich werde es schaffen“ legte er sich auf die harte alte Pritsche. Aber heute Nacht schlief er ein. 

 

HF 12/2009

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.12.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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