Joachim Tiedemann

Eine Narbe auf der Seele

In letzter Zeit richtete sich seine Aufmerksamkeit immer wieder auf die Kinder anderer Eltern. Es war das Chamäleon seiner Vorstellung die das Aussehen dieser Kinder annahm, sie zu seinem Sohn oder Tochter machte, weil sein eigenes noch gesichtslos war. Das aufregende Gefühl bald nicht mehr zu zweit, sondern zu dritt zu sein; erfüllte Franz immer wieder mit freudiger Erwartung auf ihr eigenes Kind. Im September sollte es geboren werden. 

"Heute Abend ist es gar nicht wach zu kriegen!"

Der trocken heiße Tag neigte sich genau wie der Juli langsam dem Ende zu. Hiltrud befand sich im siebten Monat ihre Schwangerschaft. Nachdem Franz wie jeden Abend ihren Bauch kitzelte um das Baby darin zu wecken, blieb es diesmal still. Die Sprache der Ärmchen und Beinchen, die sonst zu ihm " Papa hier bin ich " sagten, war nicht da.

"Weißt du Franz, mir fällt es schon länger auf."

"Was denn?"

"Das sich unser Kind  kaum noch bewegt!"

"Aber gestern Abend habe ich es doch noch gefühlt."

"Ja schon, aber danach war in meinem Bauch keine Bewegung mehr."

"Du machst mir Angst, Hiltrud." 

"Es wird schon nicht so schlimm sein. Dr. Engel meint es sei normal das die Kindsbewegungen weniger werden, weil es kaum noch Platz hat. Immerhin komme ich in den achten Monat."

"Wir gehen aber gleich morgen früh um acht Uhr zu deinem Frauenarzt!"

"Ja Franz, aber nicht zu große Sorgen machen." 

Bei offenem Fenster nahm die angenehme Kühle der Nacht die Wärme des heißen Sommertages aus ihrem Zimmer. Nicht nehmen konnte sie die großen Sorgen der beiden. Hiltrud und Franz verbrachten voller Angst, weil es sich auch in dieser Nacht nicht rührte, schlaflose Stunden bis zum Morgengrauen.

"Frau Hiltrud Huber bitte in die Kabine zwei."

Dort lag sie auf der Untersuchungsliege, während die Arzthelferin ihr das CTG anschloss. Hiltrud bekam einen Bauchgurt, mit zwei Messfühlern bestückt, angelegt.

"Ihr Freund darf sich dort auf den Schemel neben sie setzen." Franz setzte sich.

"Wenn sie sich jetzt bitte auf die linke Seite drehen würden Frau Huber."

Auf der linken Seite liegend sah Hiltrud ihm tief in seine Augen, während er fest ihre rechte Hand in die seine nahm.

"Ich schalte das Gerät jetzt an!" sprach die Arzthelferin weiter.

Auch nach einigen Minuten blieb das wohlbekannte Pochen im Lautsprecher des Apparates aus.

"Kannst du was hören Franz?"

"Nein."

Die Arzthelferin war verschwunden. Dr. Engel betrat den Untersuchungsraum, grüßte knapp, drückte und klopfte Hiltrud mit seinen Händen auf dem Bauch herum. Sie empfand es als sehr unangenehm, doch noch schlimmer war das bange Schweigen, bis der Arzt weiter sprach.

"So schwer es mir fällt Frau Huber, aber ich muss ihnen die Wahrheit sagen. Ich kann keine Herztöne hören."

"Ist es tot?"

Der Blick von Dr. Engel ging ins Leere.

"Ich muss die Ultraschalluntersuchung durchführen!"

Franz streichelte Hiltrud über die kaltschweißige Stirn. Er nahm ein Tempotaschentuch, trocknete den Schweiß und küsste sie darauf.

Wir haben so viel schönes gemeinsam erlebt, jetzt müssen wir auch gemeinsam durch schwere Stunden gehen, hörte er sich in Gedanken zu sich selbst sprechen, und zu ihr sagte er :" Ich bin bei dir, egal was kommt!"

Noch bevor Dr. Engel die abschließende Diagnose mitteilte, wussten beide, dass ihr Kind tot war.

Um dreiundzwanzig Uhr desselben Tages schaute Hiltrud in eine brennende Kerze. Die diensthabende Hebamme Frau Heller hatte sie auf den Tisch am Fenster des Kreißsaales angezündet. Der Frauenarzt befand sich mit der Hebamme am Fußteil der Entbindungsliege. Still in sich gekehrt saß rechterhand Franz neben seiner Freundin und legte seine Hand auf ihre Schulter. In der Bregenzer Klinik erlebte Hiltrud die vor dreizehn Stunden künstlich eingeleitete Geburt schmerzfrei. Dafür sorgte die nette Anestesistin zu ihrer Linken. Gerade wollte sie entspannen als der plötzlich einsetzende Presszwang...

 

Hiltrud und Franz kleines Mädchen kam still zur Welt.

 

Wunderschön und schlafend sah es aus, mit goldgelben feuchten Locken um die Augen, die sich gleich öffnen würden. Doch alle Anwesenden wussten es besser. Frau Heller gab der Mutter das tote Mädchen und legte es auf ihren Bauch. Hiltrud hielt ihre Tochter fest umschlossen. Die Hebamme fuhr sie auf der Liege durch die geöffnete Schiebetür in den Nebenraum. Franz folgte. Frau Heller wusch das Baby, trocknete es, schnitt eine kleine Locke ab, macht einen Gipsabdruck vom Füßchen, wickelte den kleinen Körper in ein rosa Frottetuch und gab es dem Vater in den Arm. Genau wie die Mutter hielt auch er seine Tochter fest umschlossen.

"Franz lass sie uns zum Abschied in die Mitte nehmen."

"Ja, Hildchen.", dann legte er das Kind halb aufrecht sitzend in ihre Mitte. Frau Heller hielt den Augenblick des Abschiedes zur Erinnerung für immer fest: den Kopf des Babys auf des Mutters Bauch, die Beinchen auf seinem Schoß liegend, und darüber auf der inzwischen kalten Haut, ihre und seine streichelnde Hände.

Das Erinnerungsfoto stand zu Hause vor einem kleinen Holzkreuz, inmitten des kleinen braunen Tisches in ihrem Zimmer. Neben dem Bild rechts aufgestellt, Frau Hellers weiße Kerze, die bei der Geburt im Kreißsaal brannte, die daran angelehnte blonde Locke ihres Mädchens, zum Schutz in durchsichtiger Plastikfolie eingesteckt, und links vom Bild liegend der kleine Gipsabdruck vom Füßchen. 

 Nachdem sieben Tage später die Beerdigung ihre Tochter auf dem Friedhof der Dorfkirche stattfand, saßen jetzt beide vor diesem Tisch. Er zündete die Kerze an. Ihr Leben bestand fort an nur noch aus Tränen und Trauer. Immer tiefer bohrten sie sich darin hinein, wie ein Korkenzieher in den Kork, so tief runter, bis sie irgendwann Halt fanden.

Halt genug das Leben wieder zu öffnen und daraus Hoffnung zu trinken.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.01.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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