Evelyn Goßmann

Kleiner, großer Mensch

 

 

Lucy durfte morgen zu ihrem 5. Geburtstag eine Kinderparty geben und freute sich schon riesig darauf. In der letzten Woche hatte sie mit den Eltern gemeinsam kleine Schneemänner gebastelt, die neben den Kuchentellern als Serviettenhalter aufgestellt werden sollten, denn der Geburtstag war im Januar.

Außerdem hatte sie mit der Mama schöne Kleinigkeiten für die geplanten und ausgedachten schönen Überraschungen und Spiele als Preise für ihre Freunde ausgesucht. Die Kleine war ganz aufgeregt und hatte immer neue Einfälle und Ideen und große leuchtende Augen in der Vorfreude auf ihr Fest. Der einzige Wermutstropfen der die Freude etwas trübte war, dass der große Bruder an dem sie mit großer Liebe hing, auf Klassenfahrt war und deshalb nicht dabei sein konnte.

Die kleinen Mädchen mochten ihn auch sehr, und fanden es lustig wenn er sie neckte und die Spiele leitete, und auch immer sehr hilfsbereit und geduldig war, wenn es mal irgendwelche Schwierigkeiten gab.

Als alle Einkäufe beendet waren und Lucy mit ihrer Mutter vollbepackt mit Tüten aus dem Kaufhaus auf die Straße trat, schneite es dicke weiße Flocken vom Himmel. Lucy jauchzte laut, und versuchte die weichen Schneesterne zu fangen.

Plötzlich aber verstummte das kleine Plappermaul, denn neben dem Eingang kniete ein Mann auf dem nassen Pflaster und bettelte die Leute um etwas Essbares an. Alle liefen vorbei oder wandten den Blick schnell ab, so als gäbe es diesen Menschen gar nicht.

Die Mama spürte nur einen heftigen Ruck an der Hand und wollte wegen des Wetters gerade zur Eile mahnen. Lucy aber wies mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den armen frierenden Menschen. Sie machte die Mutter auf den schmächtigen Mann aufmerksam, der dort bei eiskaltem Wetter in dichtem Schneegestöber viel zu dünn bekleidet auf dem Boden hockte und leise bettelte.

Etwas ungeduldig fragte die Mama was sie denn vergessen habe. Im dichten Schneetreiben hatte auch sie den armen Kerl glatt übersehen, wollte nur schnell nach Hause ins Warme.

"Aber Mama", klang da etwas vorwurfsvoll und ungeduldig die Stimme der Kleinen, "warte, ich bin gleich wieder da!" Schon war sie verschwunden und tauchte im nächsten Moment mit dem Mann an der Hand wieder auf. Er wirkte etwas verschämt und war verlegen, dass dieses kleine quirlige Mädchen so einfach nach seiner Hand gegriffen und ihn mit sich gezogen hatte.

"Schau Mama, das ist Raphael, hast du ihn nicht gesehen, den nehmen wir nun mit nach Hause. Er hat keine Wohnung, keine Familie, nichts zu essen, und kniete dort halb verfroren neben der Tür im Schnee. Er erfriert noch, wenn sich niemand um ihn kümmert."

Die Mama war viel zu verwundert um großartig zu reagieren, weil sie den Kindern beigebracht hatte, auch auf hilfsbedürftige Menschen zu achten, und zu helfen wenn es eben möglich war. Ihre Lucy war eben auch ein Steinböckchen, das ihr Köpfchen durchsetzte, wenn es zu helfen galt und sie es für richtig hielt. Sie sprach ein paar Worte mit Raphael, und erklärte sich dann einverstanden, ihn mitzunehmen. Er sollte ein heißes Bad nehmen, trockene Sachen anziehen und eine warme vernünftige Mahlzeit einnehmen dürfen. Danach würde man weitersehen. Der schmächtige Mann strahlte und schaute die beiden Menschen fast ungläubig an. So etwas passierte sonst nie, meist wurde er beschimpft und vertrieben, und niemanden kümmerte, ob es kalt war, er warme Kleidung trug, oder etwas zu essen hatte.

"Nun komm schon, es ist nicht weit, wir wohnen gleich um die Ecke", energisch schob das kleine Plappermaul ihn vorwärts. So geschah es dann auch.

Während sie daheim schnell ein kräftiges Mahl zubereiteten, und dem erstaunten Papa ausführlich berichteten, malte Lucy sich schon aus, wie es weiter gehen könnte.

Im Übereifer lud sie denn ohne groß zu fragen Raphael ein, auch bei ihnen zu übernachten, und übersah die etwas zögerliche Geste der Mutter. "Wieso nicht, Ingos Bett ist doch frei da er auf Klassenfahrt ist", kam die logische Erklärung gleich hinterher. Ehe die Mutter etwas einwenden oder Bedenken hervorbringen konnte, bekam sie gleich die Erklärung geliefert.

"Weißt du", sagte Lucy zum dem verschüchterten Rafael, "mein Bruder ist auf Klassenreise, da kannst du dann auch heute gleich in seinem Bett schlafen, und morgen ist mein Geburtstag, da gibt es viel leckere Sachen zu essen; außerdem kannst du uns da helfen."

Skeptisch schweiften seine Augen zu den Eltern. Die Kleine mit dem ungeheurem Temperament schien alles fest im Griff zu haben. Nachdem er den Eltern seine wirklich traurige Geschichte erzählt hatte, waren sie einverstanden. Morgen würde man weitersehen, wie man noch helfen könnte. Die einzige die darüber nicht verwundet schien, war die Kleine mit dem großen Herzen. Für sie schien es selbstverständlich, dass es so ablief.

Als die Mama sie später ins Bett brachte, drückte diese sie fest und sagte wie stolz sie auf ihr Töchterchen war. "Hab ich doch von dir und Papa gelernt dass man anderen helfen muss, wenn es ihnen schlecht geht", war die einfache Erklärung. "Meine Freundinnen werden sich auch freuen, dass er dabei ist. Dann kann er sich auch noch mal tüchtig satt essen. Danach schauen wir weiter. Zudem heißt er Raphael, Mama. Wer weiß, vielleicht ist er ja auch ein Engel, und der liebe Gott will sehen ob wir Menschen wirklich helfen, oder er Rafael hat Weihnachten den Weg zurück zum Himmel nicht mehr gefunden."

Darüber vollkommen zufrieden mit sich und der Welt, war sie lächelnd eingeschlafen.

Würden doch alle Erwachsenen so einfach und selbstverständlich helfen. Ohne Vorurteil, und Scheu, hat sie einfach spontan ihr kleines, Herz sprechen lassen.

Kleine Lucy, ein wahrhaft großer Mensch...

Noch eine Weile später standen die Eltern neben ihrem Bettchen, hielten sich an den Händen und schauten gerührt und stolz auf ihre Kleine herab.

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Evelyn Goßmann).
Der Beitrag wurde von Evelyn Goßmann auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.01.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

Bild von Evelyn Goßmann

  Evelyn Goßmann als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Herzensschwingungen von Herta Nettke



Blumensträuße der Lyrik, mancherlei Denkanstöße, ansteckende Freude, die Nähe zur Natur mit eigenen Bildern.

Kraft, Mut, Hoffnung in Herzen legen und ein Lächeln jedem Leser ins Gesicht zaubern, das möchte ich mit meinen Versen vermitteln.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Zwischenmenschliches" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Evelyn Goßmann

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Ein Engel wohnt nebenan von Evelyn Goßmann (Weihnachten)
Norderney macht kreativ von Rainer Tiemann (Zwischenmenschliches)
Für die lieben Frauen von Uli Garschagen (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen