Otto Meyer

Nachbarn


Mein lang schon geschuldeter Anruf bei Inge fiel mir sofort ein, als ich
sie so unerwartet vor mir stehen sah. 

„Hej, das ist ja ein Zufall... lange nicht mehr gesehen. Wie geht es dir
denn“, fragte ich munter drauf los, nur um mich von meinem schlechten
Gewissen abzulenken. 

„Mir? Wie soll es mir schon gehen? Immerhin werde ich demnächst bei mir
ausziehen müssen. Alles nur wegen den bösen Nachbarn.“ 

Zornesröte zieht in ihrem Gesicht auf, und ihre Faust reckt sich gegen
einen unsichtbaren Feind in die Luft. 

„Du weißt doch, die Mieterin in der Wohnung über mir, die ist doch
schwerhörig. Das wird immer schlimmer mit ihr. Neuerdings höre ich ihren
verdammten Fernseher die ganze Nacht hindurch, bis ins Bett hinein höre ich
das. Das man so was nicht in ein Pflegeheim sperrt... unverständlich.“

Ihre Bewegungen werden fahrig. Hektisch wirft sie einen Blick in die Runde,
um sich zu versichern, dass wirklich auch niemand, von dem sie mir jetzt
berichten will, in der Nähe ist. 

„Wenn DAS man alles wäre...“, stöhnt sie herzerweichend auf, und ihre
Stimme nimmt einen schneidend höhnischen Unterton an. 

„Dazu trampeln die Übergewichtigen, in der Wohnung links von mir, zu jeder
Tages- und Nachtzeit herum. Neuerdings poltern die auch gern nachts mit
ihrem Geschirr.“ 

Ihre zornigen Augen starren mich an. Wahrscheinlich will sie überprüfen, ob
ich ihr auch die nötige Aufmerksamkeit schenke, die sie ihrer Meinung nach
verdient hat. 

„Also wirklich, können die nicht tagsüber abwaschen? Mein Schlafzimmer
liegt doch direkt neben ihrer Küche. Kannst du dir eigentlich vorstellen
wie laut das ist? Aber glaub man ja nicht, dass das schon alles ist... nee,
außerdem trinken sie reichlich oft und gerne Alkohol. Party ist bei ihnen
das angesagte Thema, typisch Harz IV’ler eben, asoziales Pack das.“ 

Fast schon entmutigt von ihrem geschilderten Leiden, wird ihre Stimme
gleichgültig, fast unhörbar. Ihr Körper verliert jäh seine Spannung, und
ihre Schultern sacken nach vorne weg. 

„Ach ja, meine Fußmatte, die vor meiner Wohnungseingangstür, die liegt in
letzter Zeit immer öfter diverse Treppenstufen tiefer. Da stolpert das
versoffene Pack bestimmt immer drüber. Ich hoffe, dass sie sich eines Tages
dabei das Genick brechen... dann ist wenigstens wieder etwas mehr Ruhe im
Haus.“ 

„Tja, dann geht es wohl nicht anders, dann musst du wohl wirklich
umziehen“, bringe ich gerade noch so heraus, als sie auch schon mit ihrer
kurzzeitig unterbrochenen Schilderung ihrer Leiden fortfährt. 

„Unter mir wohnt neuerdings ein Horst. Ich kenne ihn ja nicht, aber das ist
ein echtes Dreckschwein. ’Bumm Bumm Horst’ nenne ich den nur noch. Ständig
dröhnt sein Gestöhne und das Lustgekreische seiner Weiber zu mir hoch, ohne
Ende“, stößt sie mit scheinbar letzter Kraft hervor. Dann verfällt sie in
den mir nur allzu bekannten weinerlichen Ton, der mich dazu veranlasst hat,
ihr nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen. 

„Seitdem kenne ich am Wochenende keinen Mittagsschlaf mehr... also
wirklich, dabei muss ICH doch schließlich jeden Tag arbeiten... dafür
brauche ich nun mal einen gesunden Schlaf. Ich hasse diese saufenden,
unkultivierten, fettleibigen und rumvögelnden Nachbarn... rücksichtsloses 
Pack das!“ 

Erwartungsvoll schaut sie mich an, will wohl von mir verstanden und
getröstet werden, wie immer wenn wir aufeinandertreffen. Ich weiß, dass ich
ihr das schulde, und aus reinem Pflichtgefühl heraus erzähle ich ihr
einfach eine erfundene Geschichte über meine Leiden mit meiner
Nachbarschaft. 

„Ach, weißt du Inge, ich verstehe dich nur zu gut. Du kannst dir ja gar
nicht vorstellen, wie abartig Nachbarn sein können. Stell dir nur mal vor,
in der Wohnsiedlung, in der ICH wohne, da gibt es einen dieser netten
Nachbarn! Der parkt nun schon seit sage und schreibe gut sieben Wochen mit
seinem Pkw direkt vor meiner Haustür. JA... einfach unvorstellbar! 

Ich fühle wie echte Empörung über diesen Frevel in mir aufsteigt, und
angespornt von ihrem mitleidigen Blick fahre ich fort: 

„So eine Frechheit, also wirklich. Da fehlen mir doch glatt die Worte. Und
was für fürchterliche Auswirkungen das hat. Stell dir bloß mal vor, es ist
mir einfach unmöglich die Strasse oder Bürgersteig zu säubern. Es sieht
schon schlimmer vor meiner Haustür aus, als bei Hempels unter dem Sofa!
Aber nicht nur ich habe das Problem mit den Sausack, NEIN... selbst die
Straßenreinigung der Stadt hat keine Möglichkeit ihrer Aufgabe vor meiner
Haustüre nachzugehen. Unvorstellbar, nicht wahr? Und alles nur, weil dieser
Nachbar sich so aufführt, als würde ihm die Strasse alleine gehören.“

„Weißt du“, senke ich meine Stimme auf den typisch verschwörerischen Ton
herab, mit dem man nur vertrauten Personen ein riesiges Geheimnis
anvertraut, „das ist irgendeiner von diesen frustrierten Frührentnern, von
der Telekom glaube ich.“ 

Gebannt schaue ich ihr ins Gesicht, um mich der Wirkung meiner Worte zu 
vergewissern. Dann setzte ich noch einen drauf. Mit bedeutsam erhobener
Stimme und mit Hilfe meines Zeigefingers, den ich ihr in Brust bohre, um
den nötigen Nachdruck bei ihr zu erzeugen, rufe ich: 

„Das macht DER aus purer Absicht“, aus, und schaue ihr allwissend und
triumphierend ins Gesicht. Dabei tippe ich noch ein paar mal mit meinem
Zeigefinger feste gegen ihre Brust, um dem Gesagtem mehr Bedeutung zu
verleihen, und mich ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit zu versichern. 

„Weil er bei der Telekom zu nichts mehr nutze war, wurde er in den
vorzeitigen Ruhestand abgeschoben. Und nun können wir, als seine Nachbarn,
das ausbaden. An uns lässt er nun seine Unzufriedenheit aus.“ 

Ich gebe meiner Stimme wieder diesen typischen Unterton, der jeden Zuhörer
sofort höchste Aufmerksamkeit abfordert. Um die Wichtigkeit der nächsten
Worte zu unterstreichen, strecke ich meinen Kopf näher in Richtung ihres
Ohres. 

„Ich habe ja schon anonym die Polizei angerufen, aber da musste ich leider
feststellen, dass es keine ordentliche Rechtssprechung mehr gibt. Angeblich
gibt es keine Möglichkeit, mit dem man diesem Dauerparker den Garaus machen
kann. Angeblich, weil dieses Parken nichts mit dem normalen Verkehrsfluss
zu tun hat. Stellt sich die Frage, ob es sich nicht eine andere Straftat
finden lässt, wegen der man ihn in den Knast bringen kann.“ 

Freudestrahlend blickt Inge mich an, und dann auf ihre Uhr. Hastig
verabschiedet sie sich, wegen angeblichen Zeitdrucks, von mir. Fröhlich
grinsend schaue ich Inge nach, die ihre 120 Kilo Lebendgewicht in Richtung
Bahnhof davon wuchtet. Mag ja sein, dass sie Probleme mit ihren Nachbarn
hat, aber meine Geschichte hat sie wohl erst mal wieder auf den Boden der
Tatsachen zurückgeholt... jedenfalls ihrem freudigen Gesichtsausdruck nach
zu urteilen. 

Puh, nun muss ich erst mal wieder runter kommen.
Hab ich mich doch so richtig schön in Rage geredet. Als erstes werde ich
zuhause mal meinen Wagen an eine andere Stelle parken, denn der Bürgersteig
und die Strasse davor müssten wirklich mal wieder gereinigt werden.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.01.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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