Ingrid Grote

Und dennoch...

„Er ist in der alten Küche“, sagte meine Mutter. Alte Küche? Dabei handelte es sich bestimmt um eine Art Aufenthaltsraum. Ein seltsames Gefühl machte sich in meinem Magen breit. Wie war er jetzt? Hatte er sich sehr verändert?
Mit gesenktem Kopf hockte er in seinem Rollstuhl. Er sah so klein aus, wieso werden kleine Männer im Laufe des Alterns noch kleiner? Das ist nicht fair. Ich küsste ihn auf die Wange, er wirkte unbewegt, wusste er überhaupt, wer ich war? Es gab keinerlei Anzeichen dafür.
Wir setzten uns zu ihm an den Tisch. Die 'alte Küche' war gemütlich eingerichtet, bäuerlich irgendwie, ein rundlicher Holzschrank mit Glastüren, darin altes Geschirr und verblichene Fotos, alles liebevoll dekoriert. Ich fand es hübsch, hatte es mir unpersönlicher vorgestellt, mehr wie im Krankenhaus. Allerdings war das nur ein Aufenthaltsraum. Wie sah wohl der verborgene Rest aus?
Er blickte mich an, dann schweifte sein Blick kurz zu meiner Nichte, die neben mir saß. Ein Zögern lag in seinen Augen „Wer ist das, eine Arbeitskollegin?“, nuschelte er undeutlich vor sich hin. Es lag an seinem Gebiss, es hatte ihm immer Schmerzen bereitet und nie richtig gesessen.
„Nein, Papa, das ist Sandra.“
„Und wo sind die Kinder?“ Er hatte es ganz schnell verstanden, das war Sandra, seine Enkelin, und sie hatte zwei Kinder. Er war gar nicht so verwirrt, wie alle sagten. Er hatte mich erkannt, und er hatte Sandra auch erkannt, nicht sofort natürlich, denn Sandra war jetzt blond mit kurzen Haaren...
„Die Kinderchen sind nicht mitgekommen, aber beim nächsten Mal bestimmt“, sagte Sandra.
Er lächelte unsicher und wandte sich dem Essen zu, das meine Mutter ihm mitgebracht hatte, es war kleingeschnittener Gänsebraten in Soße, von Weihnachten übrig geblieben, erst eingefroren, dann aufgetaut. Er aß zögernd und vorsichtig, mit steifem Arm hielt er die Gabel fest und führte sie zitternd zu seinem Mund. Ab und zu kleckerte er etwas auf seine Hose. Er wischte es ungeschickt mit einem Papiertaschentuch ab. Er trug ein kurzärmeliges Hemd, und ich musste immer auf seine dünnen Arme schauen. Sie wirkten so kraftlos, so faltig und alt...
„Wann kann ich denn nach Hause“, fragte er, und seine Stimme klang kleinlaut.
„Ich weiß es nicht“, meine Mutter streichelte ihm liebevoll übers Gesicht. „Ich muss erst wieder zu Kräften kommen, dann hole ich dich schon.“
Oh Gott, glaubt sie wirklich daran? Sie hat Krebs, Brustkrebs, der schon Metastasen gebildet hat. Und dabei hängt sie doch so sehr am Leben, macht noch Pläne, tröstet meinen Vater. Sie hat ihre Operation ohne weiteres verkraftet. Ich brauche die Brust nicht, hat sie gesagt, ich müsste nur die Fenster putzen, aber im Moment kann ich die Arme nicht gut hochheben, sie haben mir alle Lymphdrüsen herausgenommen.
Ich schaue Sandra an und sehe, dass sie Tränen in den Augen hat.
„Ich will nicht in mein Zimmer!“
Wir schieben ihn in den Aufenthaltsraum, wo eine Frau gerade wild mit dem Armen rudert und seltsame Laute von sich gibt.
Ich küsse ihn zum Abschied. Als ich das Zimmer verlasse, sehe ich ihn in seinem Rollstuhl sitzen, mit gesenktem Kopf. Wie klein er geworden ist, wie er vor sich hinstarrt. Was tut er hier? Er passt doch gar nicht hierhin, zu all den Verrückten.
Er ist mein Vater, er ist stark, er war immer stark, obwohl der Körper nicht mehr mitmacht. Ich kann ihn doch nicht hierlassen.
 
Dennoch tue ich es. Und fürchte mich vor dem nächsten Besuch.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.01.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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