Christiane Mielck-Retzdorff

Sophelia von Heiligenstein

 

Sophelia von Heiligenstein wurde schon mit all den Dingen geboren, die sich die meisten Menschen ihr Leben lang erträumen. Sie entstammte einem angesehenen Adelsgeschlecht, hatte eine liebevolle Mutter und einen geachteten Vater, zwei fürsorgliche ältere Brüder und eine fröhliche kleine Schwester. Sie wohnte auf einem prächtigen Schloss umgeben von freundlichen und ergebenen Dienstboten  ein gebettet in einen gepflegten Park, an den etwas abseits die Stallungen mit Kühen, Schweinen und Schafen grenzten. Das Vermögen der Familie war bemerkenswert und der Vater achtete sorgsam darauf, dass es sich stetig vermehrte.

 

Auch war Sophelia gesegnet mit Schönheit und besonderem Liebreiz, dem sich kaum ein Mensch entziehen konnte. Doch etwas trübte die Freude der Familie an diesem reizenden Geschöpf. Sophelia war dumm, oder auch einfältig, wie es ihre Großmutter zu formulieren pflegte. Sie glaube alles, was man ihr erzählte. Fand die Familie die Ernsthaftigkeit des Kindes, wie es die Existenz von Weihnachtsmann, Engeln, dem Osterhasen oder auch Märchengestalten für eigen annahm, noch charmant, so registrierte sie langsam mit Bedenken, dass Sophelia nicht von diesen Vorstellungen lassen wollte.

 

Gleichzeitig fiel es ihr schwer, lesen und schreiben zu lernen, und sie hielt es zu dem noch für völlig überflüssig. Zahlen wirbelte sie wild durcheinander, und Rechenaufgaben wollten einfach keinen Platz in ihrem Kopf finden. Sie musizierte  Phantasiemelodien auf dem Klavier, ohne den Sinn eines Notenblattes zu begreifen.

 

Dafür sprach sie mit den Tieren und Pflanzen, und konnte sie eines Frosches habhaft werden, küsste sie das verschreckte Tier, in der festen Überzeugung es könnte sich ein Prinz dahinter verbergen. Weinend beklagte sie jedes Jahr die Weihnachtsgans und konnte sich auch wenig mit dem Auto als Verkehrsmittel anfreunden. Sie bevorzugte eine Kutschfahrt.

 

Wäre Sophelia nicht in ihrem Wesen so angenehm gewesen, hätte die besorgte Familie sicher einen Psychiater bemüht. Aber so fand sie sich lieber damit ab, dass Sophelia eben einfältig war und hoffte weiter, dass ihr irgendwann von selber Zweifel an den Geschichten kommen würden, die man ihr arglos als Kind erzählt hatte.

 

Während ihre Geschwister erfolgreich die Schule besuchten, Freunde fanden, Sport trieben und sich zu ganz normalen Teenagern entwickelten, wurde Sophelia zuhause von einem Privatlehrer unterrichtet, der sich schnell damit abgefunden hatte, dass er auf verlorenem Posten kämpfte, wollte er seine Schülerin in den üblichen Fächern unterweisen. Stattdessen lasen sie Märchen und Geschichten, was der Familie natürlich verheimlicht wurde.

 

Sophelia entwickelte sich zu einer ausnehmend schönen jungen Frau, was den jungen Männern, die das Schloss besuchten nicht verborgen blieb. Und obwohl Sophelia nach wie vor alles glaubte, was man ihr erzählte, wenn es nicht im Widerspruch zu dem bereits erfahrenen stand, war sie dennoch wenig anfällig für die schmeichelnden Worte ihrer Verehrer. Und spätestens wenn sie von ihnen verlangte, ihr weißes Ross zu sehen oder ihr eine geheimnisvolle blaue Blume zu bringen, strichen sie die Segel.

 

Eher weckten arme Tagelöhner, die sich für die Feldarbeit verdingen wollten, ihr Interesse. Das wurde jedoch von ihrer Familie rigide unterbrochen. Das geschah jedoch mehr aus Sorge um die unschuldige Sophelia als aus Hochmut.

 

Bei den Gesellschaften der Familie von Heiligenstein wurde viel über Wirtschaft und Politik gesprochen. Sophelia wurde dabei als wohlerzogene, jedoch einfältige Tochter des Hauses, mit Anstand toleriert, denn jedem Gast war bewusst, dass er sofort des Schlosses verwiesen würde, wenn er sie nicht ihrem Stande entsprechend behandelte. Hinter vorgehaltener Hand wurde sie allerdings belächelt, wenn sie sich an den Gesprächen beteiligte. Denn sie fand es unsinnig, dass ständig über Menschen geredet wurde, die niemand persönlich kannte und in deren Händen angeblich das Schicksal aller lag. Sie vertrat stolz die Ansicht, dass das Glück all jenen winkte, die an dem Platz, an den sie vom Schicksal gestellt wurden, gewissenhaft ihre Pflicht erfüllten und das jene, die egoistisch und heimtückisch waren, über kurz oder lang sowieso bestraft würden.

 

Dem Schicksal gefiel es allerdings, Sophelia über Nacht ihrer beiden Eltern durch einen Unfall mit dem Auto zu berauben. Obwohl sie sehr traurig war, war ihr die Tragweite dieses Ereignisses nicht bewußt. Vertrauensvoll hatte ihr Vater das Familienvermögen den beiden Söhnen übertragen, die es traditionell bewahren und mehren und sich um ihre Schwestern und das Personal kümmern sollten. Dabei hatte er nicht damit gerechnet, dass der Ältere sich dadurch in seinem angestammten Recht eingeengt fühlte und es zu einem Bruderzwist kommen mußte. Dieser Konkurrenzkampf wurde noch von den beiden Ehefrauen forciert, die jede für sich alleinige Herrin von Schloß Heiligenfels sein wollte.

 

Sophelia störte es nicht, dass sie in ein kleines rosenumranktes Gästehaus etwas abseits verbannt wurde. Im Garten wuchsen kräftige Obstbäume und sie legte einen fruchtbaren Gemüsegarten an. Freilaufende Hühner versorgten sie mit frischen Eiern, und ein Knecht brachte ihr täglich eine Kanne Milch aus dem Stall.

 

Und es war genau dieser fleißige Knecht namens Jonathan, der Sophelias Herz rührte und dem sie oft abends am Kamin ihre Geschichten erzählte. Jonathan war ein Waisenkind aus Ungarn, dass irgendwann mit den Landarbeitern auf das Schloß gekommen und geblieben war. Er kannte sich schnell aus, mit allem was in der Landwirtschaft wichtig war und konnte im Kopf schneller rechnen, als der Betriebsleiter seinen Taschenrechner gezückt hatte.

 

Den Brüdern in ihrem Wahn sich gegenseitig zu übertrumpfen gelang es schnell, das Vermögen der  Familie zu schmälern. Auch vernachlässigten sie die Landwirtschaft, weil sie nicht so ertragreich erschien wie das Spekulieren an der Börse.

 

In einer warmen Frühlingsnacht wurde ein kleiner munterer, schwarzer Hengst in den Stallungen geboren, den Sophelia sofort in ihr Herz schloß. Doch die Brüder verkauften nach und nach alles Vieh und auch die Pferde. So wurde auch dem Stallpersonal gekündigt, und Jonathan mußte das Anwesen verlassen.

 

Sophelia weinte bitterlich, als sie erkannte, dass ihre geliebten Tiere einem unbekannten Schicksal entgegengingen und auch all die Menschen, die ihr so sehr am Herzen lagen, nun mit hängenden Köpfen die Allee zur Straße hin verschwanden. Jonathan schenkte ihr zum Abschied einen Feldblumenstrauß, küßte ihre zarte Hand und versprach, eines Tages zurückzukehren.

 

Die zerstrittenen Brüder zogen mit ihren Frauen in die Stadt und gaben das Schloß, den Park und die Ländereien dem Verfall preis. Nur Sophelia blieb und eine alte Magd, die in der weiten Welt keine Zukunft mehr für sich sah.

 

Es folgten magere Jahre, in denen Sophelia hart arbeitete mußte, um für sich und die treue Magd das Nötigste zum Überleben anzubauen und zu ernten. Sie mußte Holz hacken und gelegentlich eines ihrer Hühner schlachten. Doch sie klagte nicht, denn jeder Tag hatte seinen Sinn, und abends erzählten sich die beiden Frauen Geschichten. Auch weihte die alte Magd Sophelia in die Geheimnisse der Wildkräuter ein, so dass sie von Krankheiten verschont blieben. Im Angesicht der Sonne reifte Sophelia dabei zu einer kraftvollen, nahezu magischen Schönheit.

 

Fünf Jahre waren vergangen, als plötzlich ein Heer von  dunklen Limousinen  das Anwesen erstürmte, aus denen Männer in dunklen Anzügen mit dunklen Aktentaschen quollen, die sich aufführten wie rücksichtlose Eroberer. Der alten Magd war sofort klar, dass nun das Ende nahte. Die Brüder hatten das ganze Vermögen an der Börse verspekuliert, und jetzt wurde Schloß Heiligenfels versteigert. Niemand schenkte der alten Frau und Sophelia Beachtung, sondern sie trampelten über die Gemüsebeete und überfuhren die Hühner. Als der Spuk vorüber war, hatten sie einen Ort der Verwüstung hinterlassen.

 

Die alte Magd weinte verzweifelt, denn sie sah sich schon in einer kargen Wohnung in einem anonymen Hochhaus den Tod entgegensehnen, doch Sophelia glaubte fest daran, dass dieser Frevel bestraft und das Gute siegen würde.

 

Zu dieser Zeit machte sich im fernen Ungarn ein junger Graf auf eine beschwerliche Reise, denn er hatte beschlossen, sie auf einem Pferd zurückzulegen. Aus dem kleinen schwarzen Fohlen war mittlerweile ein prächtiger Schimmel geworden. Und dem Pferd fiel es leicht, den Weg zu der Stätte seiner Geburt zu finden.

 

Nur glückliche Umstände hatten dazu geführt, dass Jonathan erfuhr, dass er der einzige, wenn auch illegitme, Sohn eines ungarischen Grafen war, der nun froh war, einen Nachkommen zu haben, der seinen umfangreichen Besitz erhalten und fortführen würde.

 

Es war ein warmer Sommertag, an dem die Rosen, die das kleine Haus umrankten, üppig blühten. Sophelia schlief ruhig auf dem Sofa, als Jonathan auf dem weißen Ross das Anwesen erreichte. Bewegt sank die alte Magd auf die Knie und dankte Gott.      

 

 

 

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