Hermann Bauer

Der Fremde im kleinen Dorf

Es regnete so heftig an diesem 23.
Dezember, dass man kaum einige Meter weit
sah. Der Lastwagenfahrer, der Günter abends
als Anhalter hatte mitfahren lassen, warf ihn
verärgert zwischen zwei Ortschaften am Arsch
der Welt aus dem Wagen. Es hatte keinen
richtigen Grund zum Streit gegeben, sondern
lediglich eine harmlose
Meinungsverschiedenheit.
Der Lastwagenfahrer kurbelte die Scheibe
herunter, grinste hämisch und rief Günter
nach: "Dann mach 's mal gut und frohe
Weihnachten!"
Günter wusste nicht, in welcher Gegend er
sich befand. Neben ihm war eine
Pferdekoppel, dahinter vermutlich ein Acker. In
weiter Ferne sah er ein paar Häuser. In
einigen davon brannte noch Licht. Auf der
Straße gab es keine Beleuchtung. In einigen
Gärten brannten die Kerzen von
Weihnachtsbäumen.
In der Dunkelheit übersah Günter die
meisten Dreckpfützen und stampfte mit
seinen abgelatschten Stiefeln voll hinein.
Ein Motorradfahrer kam ihm entgegen.
Günter winkte ihm zu und rief: "Hallo." Doch
der nahm keine Notiz von ihm und fuhr weiter.
Der Regen war in Schnee übergegangen
prasselte auf Günters Anorak. Er merkte, wie
langsam seine Socken feucht wurden. Die
ersten Häuser hatte er jetzt erreicht. Eine
Katze lief ihm über den Weg, und ein Hund
bellte.
Eine Bäuerin öffnete das Fenster und
sprach ihn an: "Wo willst du denn noch hin,
mitten in der Nacht? Bist Du der
Weihnachtsmann, der sich verlaufen hat?"
Günter wischte sich mit der Hand den
Regen aus dem Gesicht. Mit vor Kälte
zitternder Stimme stotterte er: "Eine
Übernachtungsmöglichkeit suche..."
"So etwas gibt es hier im Ort nicht",
unterbrach ihn die Bäuerin. "Aber 500 Meter
weiter ist eine Kneipe. Vielleicht bekommst du
da wenigstens noch etwas zu essen." Sie
schaute ihn dabei skeptisch und mißtrauisch
an.
Im Wohnzimmer der schwerhörigen Bäuerin
flimmerte in voller Lautstärke ein
Fernsehgerät. Günter erkannte das
Weihnachtslied "Leise rieselt der Schnee",
dann knallte die Frau das Fenster zu.
"Also auf zur Kneipe", dachte sich Günter. Er
ging an einigen Baustellen vorbei und stand
bald darauf vorm "Wirtshaus zum Schwarzen
Adler". Die Fensterscheiben hatten Sprünge.
"Eine richtige Räuberhöhle, da bin ich ja
richtig", grinste Günter. Er öffnete die
knarzende, schwere Eichentür und betrat
einen vollgequalmten Raum. Die
einheimischen Männer starrten ihn alle an.
Der bärtige Wirt lächelte, als er Günter
tropfnass wie ein Häufchen Elend sah, und
bot ihm an: "Du kannst deine nassen
Klamotten ausziehen. Ich gebe dir etwas
Trockenes."
Er führte ihn in die Küche. Die Köchin
verstaute einige Schalen in den Kühlschrank.
Der Wirt reichte ihm eine Hose, ein Hemd
und einen Pullover. Günter zog die trockenen
Kleidungsstücke an. Dabei fiel ihm
unglücklicherweise seine Pistole aus der
Hosentasche.
Die Köchin und der Wirt taten, als hätten sie
nichts bemerkt, aber der Köchin fiel auch ein
schlecht verheilter Streifschuss an Günters
Arm auf.
Günter ging wieder in die Gaststube und
setzte sich an einen freien Tisch. Er überlegte,
wo er den Wirt schon mal gesehen hatte.
Plötzlich wusste er es. Vor vielen Jahren
hatten sie im gleichen Gefängnis gesessen,
doch beide hatten sich äußerlich sehr
verändert.
Der Wirt legte Günter die Hand auf die
Schulter und sagte: "Ein warmes Essen gibt
es nicht mehr, aber selbstgemachte
Lebkuchen und einen Glühwein mit Schuss
kann ich dir noch anbieten."
"Ja, ist mir recht, her damit", antwortete
Günter.
Er hatte in seinem Leben schon bessere
Lebkuchen gegessen. Das war ihm aber im
Moment egal, denn er hatte einen langen Tag
hinter sich und einen Bärenhunger.
Als er die Lebkuchen alle verdrückt hatte,
betrachtete Günter die kartenspielenden,
grölenden Männer. Alle waren sturzbetrunken.
Während er noch die Männer musterte,
setzte sich ein junger Mann an seinen Tisch.
Er sah Günter in die Augen und fragte ihn:
"Probleme? - Kann ich dir vielleicht helfen?"
Günter winkte ab und stieß gereizt hervor:
"Ich suche eine Übernachtungsmöglichkeit.
Das ist momentan meine einzige Sorge."
Tom, so hieß der hilfsbereite Maurer, schlug
vor, er könnte bei ihm übernachten. Günter
nahm dankend das Angebot an.
Tom borte weiter: "Wie bist du eigentlich in
unser gottverlassenes Nest einen Tag vor
Weihnachten gekommen?"
"Ach, das ist eine lange Geschichte. Ich
erzähle sie dir morgen, ich bin schon zu
müde", murmelte Günter.
Tom klatschte ihm mit der Hand auf den
Oberschenkel. "Gut, dann brechen wir auf."
Günter bezahlte seine Zeche, zog seine
mittlerweile fast trockenen Klamotten wieder
an und bedankte sich nochmals für die
spontane Hilfe. Dann gingen die beiden zu
Toms Haus.
"Wir sind erst eingezogen", erzählte Tom. Im
Flur standen noch Umzugskartons. Es roch
nach frischer Farbe und nach Holz.
Tom holte aus dem Keller eine Matratze, auf
der Günter schlafen sollte. Aus irgendeiner
Ecke kramte er noch eine Decke hervor und
wünschte Günter dann eine gute Nacht.
Günter konnte vor Sorgen lange nicht
einschlafen. Zu viele Gedanken gingen ihm
durch den Kopf. Würde ihn die Polizei morgen
- ausgerechnet am Heiligen Abend schon
schnappen? Er wußsste es nicht.
In der Frühe wurde er von Tom geweckt:
"Steh auf, ich kann dich in die Stadt
mitnehmen, ich muss nämlich noch einen
Weihnachtsbaum für heute abend besorgen.
Von dort kannst du dann mit dem Bus oder
der Bahn weiterreisen." Dabei betonte er das
Wort "weiterreisen". Man sah ihm an, wie
neugierig er war. Er wollte unbedingt wissen,
unter welchen Umständen der Fremde
ausgerechnet einen Tag vor Weihnachten in
diesem kleinen Ort gelandet war.
Wenig später stieg Günter in Toms
Lieferwagen ein. Beide schwiegen und
lauschten der kitschigen Weihnachtsmusik,
die aus dem Autoradio klang.
Plötzlich wurde die Jingle-Bell-Musik
ausgeblendet, und der Nachrichtensprecher
sagte mit ernster Stimme: "Und nun eine
aktuelle Durchsage der Kriminalpolizei..."
Tom suchte einen anderen Sender, als ob
er damit Günter eine Freude machen wollte,
und stellte die Lautstärke ganz leise. Dann
meinte er, Günter von der Seite ansehend:
"Ich weiß eigentlich recht wenig von dir." Er
schmunzelte und legte los: "Du flüchtest vor
etwas. Wahrscheinlich hast du ein
Verbrechen begangen und aus
irgendwelchen Gründen nicht die Großstadt
erreicht, wo man leichter untertauchen könnte.
Unfreiwillig hast du eine Nacht in unserem
kleinen Dorf verbracht. Alle Männer im
"Schwarzen Adler" ahnten das. Keiner fragte
dich jedoch aus. Nicht alle waren gegen dich
eingestellt. Du versuchst zwar, dich möglichst
unauffällig zu bewegen, bist aber unsicher
und traust keinem. Hilfe brauchst du aber
doch, um weiterzukommen, das heisst, um
die rettende Großstadt zu erreichen, nicht
wahr?"
Günter schüttelte den Kopf und sagte: "Ich
arbeite für einen Buchverlag, der einen
Wanderführer von dieser herrlichen Gegend
herausbringen wird. Ich wandere diese
Strecken ab und beschreibe die Wege.
Leichtsinnigerweise glaubte ich vorgestern
dem Wetterbericht, der gutes Wetter
prophezeite, und ließ meinen Regenumhang
im Auto liegen. Außerdem habe ich mich
verlaufen. Ein Lastwagenfahrer wollte mich zu
meinem geparkten Auto bringen, doch wir
kamen wegen einer Lapalie ins Streiten, und
der Flegel warf mich einfach aus dem Wagen.
Den Rest kennst du."
Tom war beruhigt und schnaufte tief durch.
O.k., dann fahre ich dich jetzt zu deinem
geparkten Auto."
Sie hatten den Platz bald erreicht,
wünschten sich gegenseitig frohe
Weihnachten und einen guten Rutsch und
verabschiedeten sich. Günter versprach, bei
Gelegenheit mal wieder in den "Schwarzen
Adler" zu kommen.
Tom war immer noch misstrauisch. Er
parkte seinen Wagen unauffällig am
Straßenrand und beobachtete Günter im
Rückspiegel.
Plötzlich rasten aus einer Nebenstraße zwei
Polizeiautos mit quietschenden Reifen zum
Parkplatz. Günter drehte sich blitzschnell um,
zog seine Pistole aus der Hosentasche und
schoss auf einen Polizisten, der aus dem
Auto gesprungen war. Der Polizist sank
getroffen zu Boden und fasste sich mit der
Hand ans Herz. Ein zweiter Schuss fiel und
Günter fiel zu Boden. Der zweite Polizist
feuerte noch ein weiteres mal auf den wehrlos
am Boden liegenden Günter.
Tom drehte mit zitternder Hand den
Zündschlüssel um und fuhr kreidebleich vor
Schreck zu seinem Arbeitsplatz. Unterwegs
kaufte er sich am Kiosk eine Zeitung. Auf der
ersten Seite erkannte er das Bild von Günter.
Die Überschrift lautete: "Gefährlicher
Gewaltverbrecher in unserem Landkreis.
Vorsicht, der Täter ist bewaffnet."
Tom brannte darauf, abends im "Schwarzen
Adler" seine Erlebnisse in allen Einzelheiten
zu berichten.
Der Wirt erzählte, dass er Günter gestern
nicht wiedererkannt habe, dafür aber sofort
auf dem alten Foto in der Zeitung.
Tom war die Hauptperson an diesem
Abend. Immer wieder musste er die gleiche
Story erzählen, und er tat es sehr gerne.
Plötzlich trat die Köchin zum Stammtisch,
blätterte mehrere zerknüllte Geldscheine auf
den Tisch und sagte: "Schaut mal, das habe
ich zwischen den Töpfen gefunden." Sie zog
noch ein Stück Papier hervor und las vor:
"Hallo, Ihr seid prima Typen! Wie Ihr mir aus
der Patsche geholfen habt, war toll. Wenn Ihr
diesen Zettel lest, bin ich entweder schon
über alle Berge, oder die Polizei hat mich
geschnappt. Als Dank lade ich alle ein. Ich
schaue, nachdem ich meine zwei bis fünf
Jahre abgesessen habe, gerne mal wieder
bei Euch vorbei. Euer kleines Dorf gefällt mir
sehr gut. Hier könnte ich sesshaft werden.
Also, schöne Weihnachtsfeiertage noch, Euer
Günter."
Da saßen sie nun, die Stammtischbrüder,
und schwiegen. Manche hatten Tränen in den
Augen.
Der Wirt erhob sein Glas und krächzte mit
versoffener Stimme: "Auf das Wohl von Günter
können wir nicht mehr trinken. Im Radio hörte
ich soeben, dass ein Polizist und Günter im
Krankenhaus an den schweren
Schussverletzungen gestorben sind. Wir
hätten Günter helfen können und ihm eine
Chance zu einem neuen Anfang geben
können. Günter war nämlich wirklich ein
anständiger Kerl, der momentan nur falsche
Freunde hatte. Wir hätten ihm eine Arbeit in
der Landwirtschaft geben können, denn hart
arbeiten konnte er."
Alle in der Kneipe tranken auf Günter.
"So, und jetzt geht heim zu eueren Familien",
sagte der Wirt. "Heute ist der 24.12. und ist
sperre gleich zu. Besinnliche Weihnachten
wünsche ich euch allen!"

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.12.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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