Marie Stiller

If there were the old dances, maybe...

 Es ist Sonntag gegen Ende April. Der 28. rückt immer näher und damit auch der fünfte Juni. An diesem Tag wird Chelsea, die gerade in der Sonne sitzt, Joel, der bereits am achtundzwanzigsten nach ** fliegen wird, besuchen. Er sitzt gerade auch in der Sonne, allerdings unfreiwillig und entsprechend mit dem Gesicht abgewandt.

Abflug. Der Flug dauert nicht so lang. Seine Gedanken kreisen um die verschiedensten Dinge, wie schon die vergangenen Tage und Wochen, doch mit einem Unterschied: als er noch in **** war, reichten seine Gedanken bis an's Ende seines Aufenthaltes, nun kommen sie kaum über die ersten Tage hinaus. Eigentlich gar nicht. Seine zweite Unterkunft, sein Job dort, Chelseas Besuch - all das scheint noch zu fern, als dass sich Gedanken deswegen bilden könnten.

Schließlich kommt er an, die Tage ziehen vorbei, der erste Monat endet und auch sein Umzug ist auf einmal vorbei, erledigt.
Es ist der vierte Juni. Er sitzt auf der Verande des Gemeinschaftsgrundstücks und genießt den Sonnenuntergang. Es ist ein angenehm warmer Abend, die Luft frisch und warm, eine leichte Brise - doch nicht so kühl, dass man Gänsehaut bekommt. Alles eben genau richtig.
Der perfekte Zeitpunkt, um hierher zu kommen, und da es nun auch nur noch ein Tag ist, bis Chelsea bei ihm ist, kreisen seine Gedanken wesentlich mehr darum als am Tag seiner Ankunft hier. Eigentlich ist es beinahe das erste Mal, seit er in ** ist, dass er überhaupt an sie denkt.
Andersrum genauso. Während Joel sich in ** eingelebt hatte, stolperte Chelsea von einem persönlichen Gefühlsdrama in das nächste. Gut, mindestens die Hälfte erlebte sie zwar als unbeteiligte Zuschauerin, doch auch ihr eigenes kleines Chaos schien ihr schon mehr als genug. Sie freute sich, von alledem nun etwas Abstand zu bekommen.
Was los ist?
Erstmal gefällt Chelsea ihr Studium überhaupt nicht. Sie hatte nichts Großes erwartet, doch das war tatsächlich so weit unter ihren Vorstellungen, dass es sie beinahe beleidigte.
Dann das Drama mit Manuél. Erst hatte sie ihn für den perfekten Tanzpartner gehalten, was beim Einzelpaartanzen nicht ganz unwichtig ist. Doch dann hatte er angefangen, eifersüchtig zu werden und Besitzansprüche zu äußern, was wiederum Daniel gegen den Strich ging.
Die Sache mit Daniel ist ein weiteres Drama, das sie im Flugzeug aus ihrem Kopf zu verbannen versucht. Was zwischen ihnen lief, war wohl keinem von beiden genau klar, doch während er mehr wollte, suchte sie nach dem Notausgang. Metaphern. Tze.
Irgendwann kam es dazu, dass sie auf einem Ball auftreten sollte, auf dem sie eigentlich mit Daniel gewesen wäre - nun, sie war. Sie waren alle drei. Und der Auftritt lief großartig, doch Daniel hatte sich überschätzt. Er hatte nicht erwartet, dass er mit dem Anblick von ihr mit jemand anderem tanzend und entsprechend spielend (denn, vor allem bei ihrem Tango, war tanzen allein nicht alles; erst mit der richtigen Portion Leidenschaft wurde eine solche tänzerische Darbietung erst wirklich interessant) Probleme haben würde, doch spätestens nach den ersten zehn Schritten war ihm klar, dass das, was ihn wurmte, - und es fiel ihm schwer, es zuzugeben - Eifersucht war. Zwar hatte er für sich entschieden, seine Schwerpunkte anders zu legen, doch sie so zu sehen, gefiel ihm nicht. Trotz allem. Irgendwann dann - es war wohl bei der Zugabe - kam ihm ein Gedanke, Dank dem er plötzlich überzeugt war, dass es ihr Spaß machte; nicht einfach so, sondern ganz bewusst der Teil des Spielens und der Leidenschaft und Erotik in alldem. Wissend, dass er zusah. Absicht. Provokation. Und auf einmal war er auch ziemlich sauer und schlecht gelaunt.
Später dann deutete er ihr Nettsein Manuél gegenüber falsch und letzterer, der in seinem Besitzdenken und sich für etwas Besseres haltend eine arrogante Selbstsicherheit an den Tag legte, als hätte er schon monatelang etwas mit ihr, trat auch noch entsprechend provokativ auf, und schließlich...
Ja. Und dann brauchte Daniel einen Eisbeutel und Manuél ging mit einem blauen Auge und leicht gekränktem Stolz - ernsthaft konnte er sich schließlich nicht zu Herzen nehmen, was vorgefallen war. Chelsea war das ganze furchtbar peinlich. Vor ein paar Wochen noch hätte sie sich vielleicht geschmeichelt gefühlt und auch direkt nach dem Tanzen war sie von Manuél wieder begeistert. Doch die Zeit, die nach ihrem Auftritt vergangen war, hatte ausgereicht dass sie relativ bald für Daniel Partei ergriff - unter anderem auch deswegen, weil sie mitbekommen hatte, wer wen wie provozierte. Nicht, dass Daniel nicht ebenfalls ihren Ärger über soviel kindisches Verhalten abbekam. Und warum war er überhaupt so sauer die ganze Zeit? Doch da war es ihr auch schon klar. Schon kurz nachdem sie ihn gefragt hatte, sah sie es in seinen Augen. Fast hätte sie gelacht. Dann tat es ihr auf einmal furchtbar leid.
Und später am Abend, als wieder alles in Ordnung war, wurde es sogar noch verrückter. Ein Kuss, ein paar blöde Sprüche und dann so unverletzende Aussagen wie "und genau deswegen wird das nie was mit uns" (denn wie erst würde er mit ihr in Liebesszenen umgehen?)...
Im Flugzeug schüttelt sie den Kopf.

Die Sonne scheint als Chelsea und Joel sich dann zum ersten Mal seit einiger Zeit wieder sehen. Es ist ein bisschen wie in all den Filmen, jedenfalls entdeckt sie ihn sofort in der Menschenmenge. Er sie auch - und das nichtmal wegen der Haare. Ein strahlendes, erkennendes Lächeln auf beiden Gesichtern. Ein kurzes zu Boden blicken, dann wieder hoch, und tollpatschig unvorsichtig wie sie ist wäre sie fast gestolpert. Fast. So also begegnen sie sich bereits lachend. Umso einfacher werden die ersten Worte. Danach kann er ihr erzählen, wo sie wohnen werden und was es sonst Erzählenswertes gibt.

Kurze Zeit später - jedenfalls fühlt es sich für sie beide wie eine sehr kurze Zeit an - ist es auch fast schon wieder Zeit für sie zu gehen. Sie hat die Zeit sehr genossen, hat den Stress von daheim in *** vergessen. Sie will dementsprechend auch gar nicht wirklich gehen. Hier war alles so wunderbar unkompliziert, keine Gefühle, die verletzt werden könnten, und auch sonst keine Komplikationen. Einfach zwei gute Freunde, die noch bessere Freunde wurden und einen ähnlichen Plan für den Winter lebten. Und an den Träumen des jeweils anderen teilhatten. Primär sie an seinem.
Den letzten Abend wollen sie also noch richtig genießen, vielleicht auch ein bisschen feiern. Gesagt, getan, es wird spät, sie wollen nicht schlafen. In der Flasche ist auch noch mehr als genug Wein. Eigentlich sind es sogar vier Flaschen - sie hatten sich einen Spaß daraus gemacht, mehrere Gänge zu kochen und jeweils einen passenden Wein zu nehmen. Gut waren sie tatsächlich alle gewesen, insofern machte es nicht einmal was, dass es vier statt drei waren, einer unmöglichen Entscheidung wegen.
Und so leeren sie die erste Flasche. Das Fotoalbum, das er mitgenommen hat, wird ausgegraben. Dann ist es fast Mitternacht, und er hat Geburtstag, also holt sie das Geschenk von ihr und einigen Freunden, das sie extra mitgebracht hat, sowie die Kamera und die nächste Flasche Wein, zum Anstoßen. Sie gratuliert ihm, er macht sein Geschenk auf. Sie gucken sich die Bilder zusammen an, sie erklärt ein bisschen was und filmt alles, wie sie versprochen hat. Dann dreht er, der der sich für unfotogen hält, den Spieß um und meint, sie hätte ja so viel Farbe bekommen, und das müsste man festhalten. Sie macht sich über das Licht lustig. Er schaltet Licht an - die große Deckenlampe statt der kleinen Wandlampen im Nebenraum und der vielen Kerzen und Teelichter, von denen bereits die Hälfte ausgegangen war. Sie sieht einen Augenblick lang nichts, beschwert sich. Dann machen sie eine Modenschau daraus, da sie sich - auf Geheiß mehrerer Freunde - zum Shoppen nötigen lassen und genötigt haben. Also zeigen sie ein Teil nach dem anderen, sie fürht sogar den Pullover vor, den sie ihrem Bruder mitbringen will, was ihn auf eine Idee bringt. Jetzt führen sie, soweit möglich, die Sachen des jeweils anderen vor. Weil er ihren Auftritt verpasst hat, musste sie ihr Kleid mitbringen, das zieht sie nun auch an. Es käme nicht so gut zur Geltung, wenn sie so blass wäre, aber er findet, bei all dem Glitzer sähe man ihre Haut ohnehin nicht mehr. Dann soll sie vortanzen. Barfuss macht sie ein paar Schritte, dann fehlt es ihr an einem Tanzpartner für bestimmte Figuren. Er stellt die Kamera ab und schließlich tanzen sie. Sie blödeln weiter, dann improvisieren sie einen Auftritt. Das Licht geht wieder aus. Kurz darauf sind sie, immernoch tanzend, er jetzt - angeheitert, müde, beinahe absichtlich amateurhaft und sich vor Lachen schüttelnd - die Choreographie lernend, bei der dritten Flasche angekommen. Originaltempo würde selbst sie nun nicht mehr schaffen, schon gar nicht derart lachend. Zeitweise muss sie schon weinen und husten, so sehr lacht sie. Er auch.
Auf die tanzbare Musik und die Musik des Auftritts, zu der sie ihren improvisierten Auftritt für die Kamera hatten, folgt nun etwas ruhigere Musik, doch größtenteils immernoch tanzbar. Sie machen weiter, es wird immer später. Als die ersten Klänge ertönen, zu denen man höchstens noch Blues tanzen würde, ist auch Flasche Nummer drei leer.
Sie zieht sich um. Sie stoßen auf ihr tänzerisches Können an - er: 'mein tänzerisches Können und dein gutes Aussehen'. Sie lacht. Den einen oder anderen Augenblick wiederholen sich ihre Blicke vom Flughafen, etwas verschmitzter das Grinsen und etwas charmant schüchterner der Blick nach unten.

Die folgenden Stunden wird folgendes passieren: sie werden noch eine Weile tanzen. Der Film in der Kamera, die sie inzwischen beide vergessen haben, wird voll sein. Das Gerät wird sich von allein abschalten. Die Musik wird sich auf seichte Klänge, zum Bluestanzen passend, einpendeln und eine entsprechend ruhige Hintergrunduntermalung bleiben. Sie werden sich irgendwann setzen - tanzen wird mit zunehmendem Alkoholgehalt im Blut zunehmend anstrengend, was von der Uhrzeit nur noch negativ unterstützt wird. Den Rücken zur Wand werden sie anfangen, über Banalitäten zu quatschen, angefangen mit dem Ball, auf dem sie war - naheliegendes Thema nachdem sie getanzt haben. Dann wird es mit seinem Geburtstag weitergehen. Schließlich, die Flasche ist etwa halb voll oder halb leer, werden die Gesprächsthemen ernster. Dann ist die Flasche irgendwann leer. Schließlich wird die Musik scheinbar immer leiser und irgendwann entsteht er, dieser Blick. Angenehm dumpf im Kopf wüssten sie beide nicht, was sie sagen sollen, also sagen sie gar nichts. Sie genießen, in die Augen des jeweils anderen zu sehen, weil das genau das ist, was sie tun wollen, und wieso sollten sie das auch nicht?

Er wird sich am nächsten Morgen unter anderem wundern, dass es 20 Jahre gedauert hat, bis überhaupt was passierte, und dann gleich alles.
Sie wird versuchen, gar nicht zu denken, und sich nicht trauen, das Band anzugucken. Wen könnte sie fragen, wie man das schneidet? Oder sollte sie einfach das Ende überspulen? Ein paar Bilder vom Heimweg wären an sich das Sinnvollste, doch erstens, wie gesagt, traut sie sich nicht, an die entsprechende Stelle vor- oder zurückzuspulen, und zweitens will sie sich nicht verkatert, wie sie ist, filmen lassen. Außerdem berfürchtet sie - ein bisschen paranoid, wie sie denkt - , dass man ihr etwas ansehen würde. Also lässt sie es, und sie verdrängt den Gedanken daran, dass sie sich etwas anderes ausdenken müssen wird.

Als sie diesmal aus den Türen des Bereichs kommt, in dem nur Leute sind, die mit ihr im Flieger saßen, sieht sie ein ganz anderes Gesicht. Daniel.
Kein freudiges, erkennendes Lächeln ist da bei ihr - aber sie wusste ja auch nicht, dass er hier sein würde. Vielmehr eine Verwirrung, die sie fast vergessen lassen hätte, was ihr der Kater und die letzte Nacht ohnehin beinahe entfallen lassen hätten, nämlich dass sie vielleicht wenigstens ein bisschen überraschte Freude heucheln könnte. Doch wie sollte sie Daniel nun unter die Augen treten? Nach dem, was mit Joel...
Doch da steht sie auch schon vor ihm. Er nimmt sie in den Arm, beziehungsweise setzt dazu an, nachdem er kurz Hallo gesagt hat und während sie fragt,
"Was machst du denn hier?",
doch er umarmt sie bloß. Dann fragt er:
"Wie war's?"
Nach seinem Hallo (beziehungsweise Hola) das einzige, was er sagt.
Und, wie war's?
Am treffendsten glaubt sie es - vor allem in Anlehnung an ihre Gründe für ihr Verlangen nach Urlaub, bevor sie nach ** geflogen war - mit
"Ich brauch direkt wieder Urlaub."
und einem Seufzen zu beschreiben.

Er hat ja keine Ahnung, wie ernst sie das meint...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.01.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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