Jürgen Berndt-Lüders

Melanie im Park von Sanssouci

Melanie fand ihre Arbeit aufregend. Ein Schaufenster zu gestalten und zu dekorieren, ja vorher die ganze Planung zu machen und genau so, wie von ihr geplant, umsetzen zu können war eine phantastische Aufgabe. Und dafür bekam sie Geld und Anerkennung. Passanten, die vor dem Schaufenster stehen blieben und ihr beim Dekorieren aufmunternd zunickten, waren für sie das Salz in der Suppe.

 

Der Sommer war heiß und die Schaufensterscheibe wies nach Süden. Ein richtiger Sonnenkollektor, dachte Melanie, und weil die Hitze kaum zu ertragen war, zog sie sich leicht, aber trotzdem schicklich an. Bei ihrer etwas fülligen Figur hätten hotpants sie lediglich unvorteilhaft aussehen lassen.

 

Melanie fiel der junge Typ auf, der immer wieder zu dem Fenster zurück kam, in dem sie grade dekorierte. Den ganzen Tag über. Er verzog keine Miene und starrte mehr auf sie als auf ihre Arbeit. Melanie konnte sich keinen Reim darauf machen, denn der Kerl war wesentlich jünger als sie und hätte sicherlich leicht Frauen haben können, aber er ließ sie nicht aus den Augen.

 

Er sah wirklich nicht übel aus, obwohl seine strohigen Haare etwas wirr vom Kopf standen. Einen Dreitagebart trugen viele Männer, und dass ihm die Barthaare in Wirbeln aus dem Gesicht wuchsen, war ihm schließlich auch nicht anzulasten. Nur sein Blick wirkte starr und wie festgenagelt.

 

Anfangs hatte sie versucht, seinen Blick freundlich lächelnd zu erwidern, doch weil er nicht reagierte, ließ sie es endlich bleiben.

 

Am Abend verließ Melanie das Kaufhaus durch den Personaleingang. Der junge Mann folgte ihr, ohne auch nur den kleinsten Versuch zu machen, sie anzusprechen oder sich, gegenteilig, zu verbergen. Er starrte ihr nach, bis sie in den Bus eingestiegen war.

 

Melanie hielt sich nicht für besonders attraktiv, und deshalb wunderte es sie um so mehr, dass sie ohne ihr Zutun einen Verehrer gefunden hatte. Aber sowas schmeichelte einer Frau natürlich ungemein.

 

Am folgenden Tag gab es nichts zu dekorieren, aber als Melanie am Abend in den Bus einstieg, stand er wieder dort. Wie versteinert und ohne jede erkennbare Regung.

 

Irgendwann sprach sie ihn an. Sie fragte ihn, was er denn wolle, aber er reagierte wieder nicht. Er wich zurück, und als sie nicht locker ließ, schaute er sich flüchtig nach allen Seiten um und verschwand hastig zwischen den Passanten.

 

Während einer kleinen Betriebsfeier erzählte sie offen von dem jungen Mann und seiner Reaktion auf sie, im Gunde nur, um auch etwas zur Unterhaltung beitragen zu können.

 

„Sei doch froh, dass dich überhaupt noch jemand ansieht“, spottete ein Kollege, mit dem sie mal ein Verhältnis gehabt hatte und verzog sich mit einer Wasserstoffsuperoxyd-Blondine in eine Ecke.

 

„Sei vorsichtig“, warnte eine Kollegin. „Das, was du da erzählst, klingt ein wenig gestört. Solche Menschen sind unberechenbar. Die haben häufig einen lebensgeschichtlichen Hintergrund, der ihnen ein völlig anderes Bild von den normalsten Dingen vermittelt als einem Gesunden. Und falls es so einer sein sollte: lass ihn auflaufen. Zeig ja keine Angst oder Anteilnahme. Helfen kannst du so einem nicht.“

 

Melanie fand das übertrieben.

 

Fast hatte sie den jungen Mann vergessen, als er ihr bei Regen im Park von Sanssouci begegnete. Sie hatte frei, und weil sie sich das Wetter während ihrer freien Zeit nicht aussuchen konnte, ging sie auch bei schlechtem Wetter spazieren.

 

Melanie verharrte, weil der junge Mann mitten im schmalen Seitenweg stehen geblieben war und ihr den Durchgang versperrte.

 

Jetzt passiert es, dachte Melanie.

 

„Was wollen Sie?“, fragte sie und versuchte, ihrer Stimme einen metallischen, unvorteilhaften, abstoßenden Klang zu verleihen.

 

„Du Schlampe“, zischte er. „Du beugst dich vor und zeigst im Schaufenster allen deine Teile.  Deine fetten, widerlichen Doppelbacken, die du hinten raus streckst. Jetzt kriegst du, was du brauchst.“

 

Während er nach ihr griff und versuchte, sie ins Gebüsch zu dirigieren, dachte Melanie fieberhaft nach, anstatt sich zu wehren oder gar zu schreien.

 

Dies ist das Ende, dachte sie. Er wird dich töten, denn er weiß, dass du ihn beschreiben kannst. Er wird dich vergewaltigen und dann erwürgen.

 

Ihr Körper produzierte Massen an Adrenalin. Der Blutdruck stieg unerträglich. Sie bekam kaum noch Luft, und alles in ihr protestierte gegen den Entschluss ihres Verstandes, cool zu bleiben. Schrei, rief ihr Überlebensinstinkt. Jemand wird in der Gegend sein, auch bei Regen.

 

Flehe den Kerl an. Bettle um dein Leben, sagte eine andere Stimme in ihr.

 

Wehr dich. Es wird dir gelingen, dich zu befreien, rief eine weitere.

 

Melanie erinnerte sich an den Rat der Frau und nahm den Mann nicht ernst. „Warum sagst du das nicht gleich?“, fragte sie, voll auf ihre Stimmlage konzentriert, die Gleichgültigkeit ausdrücken sollte. „Ich wollte dich schon im Kaufhaus, am besten im Schaufenster, vor allen Leuten. Hast du das nicht gemerkt?“

 

Er stockte, hielt mitten in der Bewegung inne. Er sah an sich herunter, vermisste seine eigene Bereitschaft zum  Angriff, schüttelte den Kopf und wirkte eher hilflos.

 

„Du bist nichts wert“, zischte er endlich. „Du bist eklig und abstoßend. Ich kotze gleich. Versinke doch in deinem Schlamm. Ich suche mir eine andere.“

 

Er verschwand im Gebüsch, wohl um sich zu übergeben, und als Melanie sicher war, dass er mit sich selbst beschäftigt war, rannte sie den Weg zurück. Immer wieder sah sie sich um, aber er folgte ihr nicht...

 

„Er war nicht hässlich“, schilderte sie bei der Kripo. „Warum suchen solche Burschen nicht irgend ein williges Mädchen? Warum wählen sie ausgerechnet Frauen wie mich, die nichts, aber auch gar nichts her machen?“

 

„Es ist immer dasselbe“, sagte der Kriminalkommissar, als Melanie den jungen Mann identifiziert hatte. „Sie glauben, Frauen wollten mit Gewalt genommen werden. Sie wollen Gewalt anwenden und Macht ausüben, weil sie erst dann den richtigen Kick spüren. Wenn sie das nicht erreichen, verlieren sie die Lust.“

 

„Und wenn ich sie nicht mit den richtigen Worten in die Flucht schlagen kann? Was mache ich dann“, fragte Melanie.

 

„Sie haben genau das Richtige getan“, erklärte der Beamte ausweichend.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.01.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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