Manfred Gries

Die Tafel Schokolade

Mit 10 Jahren hatte ich das erste Mal Schmetterlinge im Bauch. Sie saß neben mir inmitten der Wirtschaftswunderzeit,  blonde Locken und jenes Lächeln auf dem Gesicht, das mich tief beeindruckte. Und so schenkte ich ihr eine Tafel Schokolade, die ich nach Ende des Unterrichts unter ihre Seite der gemeinsamen Bank schob.

Anne-Marie, die Tochter unseres Dorfbäckers, hatte während des Morgengebetes nicht an sich halten können. Ein stetig wachsender Teich breitete sich um ihre Füße, die am Ende eines langen Rockes in mittelmäßigem Schuhwerk steckten. So sorgte sie hin und wieder für Geläster in unserer Volksschulklasse. Anne-Marie trug eine Brille und in meinen Augen war das damals einfach unschick. Niemals hätte ich mir vorstellen können, mit der Bäckerstochter Hand in Hand durch unser Dorf zu spazieren. Sie war einfach nicht jene Frau, für die sich mein 10-jähriges Herz entflammen konnte. Ich selbst war sportlich fit, schrieb mit sehr guter Handschrift Zahlen in das Rechenheft und erntete stets eine 'Eins' bei Rechenarbeiten. Dass Anne-Marie für mich wenig interessant erschien heißt natürlich nicht, ich sei völlig unberührt von jeglicher Weiblichkeit einfach auf meinem Stuhl gesessen. Damals saßen wir übrigens immer zu zweit in einer Bank. Und wie es das Schicksal wollte, saß ausgerechnet sie neben mir und nicht Anne-Marie. Sonst hätte ich sicherlich nicht soviel Zeit mit 'in der Ecke stehen' verbracht. Ich, der kleine Tom Sawyer von der Platte-Heide.

Meine Becky Thatcher hieß Inge, war blond und hatte Anfang der vierten Klasse direkt links neben mir Platz genommen. Grund genug, allerlei Unsinn zu veranstalten, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Von Anne-Marie habe ich den Nachnamen behalten, Inges Nachnamen kenne ich heute nicht mehr. Da war Wichtigeres an ihr als der Nachname. Was dies war, ich weiß es heute nicht mehr und damals erst Recht nicht. Ein Gefühl war erwacht, das stand fest. Seltsam schimmernd erschien alles an ihr zu sein, glänzend und erforschenswert. In den Pausen waren wir uns nie so nahe wie im Unterricht. Sie ging ihrer Wege und ich hing meinen Träumen nach. Eigentlich hatte ich ja immer von diesem dunkelhaarigen Mädchen geträumt. Jetzt schien die Haarfarbe egal, nur das Gefühl zählte. Und das entfaltete immer neue Blüten mit jedem neuen Tag. Immer, wenn es kaum auszuhalten war, produzierte ich Unsinn und durfte dafür bis zum Rest der Stunde in 'der Ecke stehen'. Pausen wechselten sich mit Unterricht und 'in der Ecke stehen' ab - ein stetes nah und fern vom Grund meiner Gefühle, von Inge. Etwas musste geschehen, denn die ewige Steherei nervte mich gehörig. Zwar beeinflussten meine Kapriolen meine Zensuren nicht. Trotzdem wäre es einfacher gewesen, ich hätte neben Anne-Marie gesessen. Und so fasste ich mir ein Herz und in meinem Kopf einen Entschluss. Ich wollte Inge meine Zuneigung gestehen.

Aber wie macht ein 10-jähriger Knirps ohne Erfahrung in Liebesdingen so etwas? Wie gesteht man Gefühle? Das erste Mal in meinem Leben setzte ich mich mit dieser bedeutenden Frage auseinander. Wie vielfältig die Möglichkeiten sind, erfuhr ich im Laufe meines späteren Lebens. Am Anfang fiel mir nur eine Tafel Schokolade ein. Genau, Oma Wilhelmine mit dem Kiosk würde mir sicher aushelfen können. Und so schob ich am nächsten Tag eine Vollmilch Schokolade unter der Bank zu ihrer Seite hinüber. Unbemerkt versteht sich. Der Unterricht endete wie immer, wir alle gingen nach Hause und erwarteten den nächsten Tag. Die einen gelangweilt, die anderen voller Freude wieder Lernen zu dürfen und ich? Ich konnte natürlich kaum schlafen. Wie lange würde es dauern, bis sie die Schokolade entdeckte und was würde sie tun? Eigentlich erwartete ich keine großartigen Reaktionen. Küssen oder ähnliche Zärtlichkeiten waren mir noch fremd. Alles, was zählte, war: Würde sie die Schokolade annehmen oder nicht?

Der kleine Teich unter Anne-Maries langem Rock hatte den neuen Tag eingeleitet und wir alle nahmen in unseren Bänken Platz. Sorgfältig platzierte ich meine Schulbücher unter meiner Bank und spürte den ersten Widerstand in meiner jungen Liebhaberlaufbahn. Da hatte sie doch glatt die Tafel Schokolade auf meine Seite zurückgeschoben. Ich stapelte gelassen die Bücher darüber. Ihr Haar schien plötzlich normal blond zu sein. Auch wich die Spannung zwischen ihr und mir einer gewissen Gleichgültigkeit. Lange danach habe ich mich noch gefragt, was wohl geschehen wäre, hätte sie die Schokolade mit einem Dankeschön entgegengenommen. Das aber bleibt wohl ein Geheimnis. Und derlei Geheimnisse gibt es einige in meinem Leben. 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.01.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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