Christiane Mielck-Retzdorff

Die Tränen der Geige

 

 

 

Er konnte nicht benennen, was ihn zu so früher Stunde aus dem Bett getrieben hatte. Es war nicht die vertraute Schlaflosigkeit gewesen, die ihn manchmal auf seinen Reisen durch die verschiedenen Zeitzonen begleitete und der er routiniert mit einer Schlaftablette begegnete. Vielleicht folgte er nur einfach dem Bedürfnis, das Hotel zu verlassen und hinauszutreten in das Ende einer der kürzesten Nächte der nördlichen Halbkugel.

 

Es war jene morgendliche Stunde, in der die Nachtschwärmer bereits heimgekehrt und die Büros und Läden noch verwaist waren. Selbst die wenigen Autos schienen bemüht, die Stille nicht zu stören, die erwartungsfroh den neuen Tag herbeisehnte, um sich im städtischen Treiben zur Ruhe zu legen.

 

Die laue Luft schwärmte bereits von einem sonnigen Sommertag, und er ging bedächtigen Schrittes zur Außenalster. Das Wasser lag ruhig, und die Segelboote an den Anlegern wiegten nur sacht. Ohne Ziel setzte er einen Schritt vor den anderen entlang des Weges, hörte den ersten Ton eines kecken Vogels begleitet von den langsam erwachenden Schatten der hohen Bäume.

 

Unter den herabhängenden Ästen einer Weide sah er eine Gestalt regungslos sitzen, den Blick auf das Wasser gerichtet. Er verharrte in der Betrachtung, unfähig sich zu rühren und doch angezogen von etwas, was ihn schwanken ließ zwischen seinem Respekt vor dem Wunsch nach Einsamkeit und seinem Drang Teil, dieses Bildes zu werden.

 

Langsam, beinahe tastend, bewegte er sich Richtung Ufer, und erstarrte wie ertappt, als die Frau sich zu ihm umsah. Doch es lagen weder Angst noch Empörung in ihrem Blick, sondern ihre Lippen umspielte ein freundliches Lächeln.

 

Sie ist wunderschön, dachte der Mann. Ein ebenmäßiges Gesicht mit klaren Konturen wie gemeißelt. Doch gleichzeitig wirkte es unnatürlich wie das einer Statue, der man Leben eingehaucht hatte.

 

Der junge Mann setzte sich neben die junge Frau und beide sahen eine Zeit lang stumm auf das Wasser, in das die aufgehende Sonne erste Reflexe zauberte. Doch das Schweigen quälte die Brust des Mannes und schließlich quoll eine Banalität aus ihm hervor.

 

„Ein wunderschöner Morgen, nicht wahr?“

 

„Ja, jeder Morgen ist wie die Geburt eines neuen Tages. Ein freudiges Ereignis.“

 

Diese Antwort bereitete dem Mann Unbehagen, denn die Erwähnung der Geburt forderte auch die Erwähnung des Todes, der mit dem Erscheinen der Nacht den Tag unwiederbringlich verloren gab. Er wagte nicht in das haarlose Antlitz der Frau zu sehen. Doch sie schien seine Gedanken zu erraten.

 

„Vielleicht ist es schwer für die Menschen, den Tod als Bruder der Geburt zu sehen, aber so ist das Leben.“

 

„Macht man es sich nicht damit unnötig schwer?“ fragte der Mann noch immer den Blick auf die Alster gerichtet, wo erste Bleßhühner munter ihre Kreise zogen.

 

„Nein, denn den Menschen ist diese Erkenntnis gegeben, damit sie im Bewußtsein der Vergänglichkeit ihr Leben gestalten.“

 

„Aber dann werden die Menschen doch von einer ständigen Angst gefangengehalten.“

 

„Diese zu besiegen und in der Schönheit des Augenblicks zu schwelgen, mag unsere größte Aufgabe sein, aber ist es gelungen, erreicht das Leben eine frohe Leichtigkeit.“

 

Der Mann sah die Frau an, die auch ihm ihr Gesicht zugewandt hatte, um zu erkennen, ob ihre Worte sich auch in ihren Augen widerspiegelten, und es strahlte ihm eine verwirrende Klarheit entgegen. Wieder lächelte sie.

 

„Ich habe Krebs“, sagte sie, „und werde bald sterben.“

 

Der Mann, obwohl er angesichts der haarlosen Kopfes bereits die Vermutung gehabt hatte, schrak zusammen ob dieser kompromißlosen Aussage.

 

„Du bist noch so jung“, stammelte er hilflos und betroffen.

 

„Wann ist man denn zu jung zum Sterben oder zu alt zum Leben?“

 

„Das weiß ich nicht. Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht.“

 

„Du entlockst deiner Geige so wunderschöne Töne und verstehst das Leben nicht?“

 

Die junge Frau hatte ihn also erkannt. Ihn den Wunderknaben, der mit seiner Musik Konzertsäle füllte und auf der Sonnenseite wandelte. Sie hatte erkannt, dass er vergessen hatte, das Leben zu sehen.

 

Als er an diesem Abend, als die Nacht den Tag sterben ließ, auf der Bühne stand, entlockte er seiner Geige Töne, die bis dahin in ihrem Verborgenen geschlummert hatte. Schwarze Punkte auf Notenblättern erweckte er zu tanzenden Träumen und schimmernden Tränen. Als die Musik verhallt war und die Zuschauer frenetisch applaudierten, wußte er, dass auch diese Melodien einmalig und vergangen waren, entschwunden in Zeit und Raum. Doch morgen würde er versuchen, ihnen wieder Leben zu geben.  

 

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