Steffen Kutzner

Anfang und Ende

Der Aufzug verursachte ein surrealistisches Geräusch, als er anfuhr. Das Licht hinter der Zahlenreihe über der Tür schob sich langsam nach rechts. Kurz oberhalb des vierten Stocks vibrierte die Kabine kurz. Jemand hatte mit einem schwarzen Stift „Sie stehen in meiner Pisse.“ an die linke Wand geschrieben.

Robert P. aus A., 31, lächelte über die Bemerkung und seufzte.

Das Licht erhellte die 7 und wanderte teilnahmslos weiter.

Mit einem lauten Klicken, vermutlich durch den Schacht verstärkt, ging die Flurbeleuchtung aus. Das trübe Licht der Kabine zog schnelle Kegel in die Flure.

P. fuhr mit zwei Fingern über die Reihe der Knöpfe für die Etagen, ohne einen zu drücken. Sie waren schmutzig-grau. Früher vielleicht mal weiß. Vielleicht. Man konnte sich vorstellen, wie penible Hausbewohner früher jeden zweiten Tag energisch über die Knöpfe schrubbten, um die leicht klebrige Fettschicht abzubekommen. Aber bestimmt hatten sie inzwischen aufgegeben und haben jetzt immer einen langen Bleistift einstecken, mit dem sie die Knöpfe drückten.

Als der Fahrstuhl den neunten Stock passierte fiel die Kabinenbeleuchtung aus und Panik erwachte in seiner Magengrube. Mit diesem Fahrstuhl stecken zu bleiben war nicht gerade ein angenehmer Gedanke. Die mit Holzimitat verkleideten Wände. Die billige Auslegware. Die toten Fliegen, die sich als schwarze Flecke im Lampenschirm abzeichneten.

Aber P.s Furcht in diesem ekelhaften Kerker festzustecken verflog, als er sah, dass die kleine Lampe hinter den Zahlenschablonen weiter kroch. Die beleuchtete 10 zeichnete sich spiegelverkehrt auf P.s Stirn ab.

Seine eigentliche Angst bestand darin, dass er zu dem Spießer werden würde, den er immer verurteilte. Er hatte seinen Vater verurteilt, weil er im Zuge der 68er-Generation an vorderster Front mitmischte und schon vier Jahre später als Immobilienmakler arbeitete und den Leuten schrottreife Häuser verkaufte. Letzteres störte P. nicht weiter – wer beschiss denn niemanden? Aber diesen Geist der Freiheit, und seine gesamte Überzeugung über den Haufen zu werfen? In Gedanken hatte er seinen Vater schon so oft als Verräter getötet.

Auch jetzt noch, mit 31, hing P. an seiner Jugend, seinem pubertären Gedankengut. Ein wenig überarbeitet, natürlich, aber im Großen und Ganzen war er der geblieben, der er mit 14 war. Das ist der Grund, weshalb er damals sein Studium geschmissen hat. Das ist der Grund, weshalb er seinen Vater verabscheute. Aber das ist nicht der Grund, weshalb er in dieser Nacht in diesem Fahrstuhl steht.

11.

Die seltsamen Veränderungen seiner Denkweise machen P. manchmal stutzig. Vor zwei Monaten hätte er sich fast Aktien gekauft. Von Daimler-Benz. „Mieser Snob!“, nannte er sich selbst, als er kurz vorher auf der Toilette war. Danach war er gegangen und hatte keine Anteile gekauft. Stattdessen war er in ein Lokal gegangen und hatte sich ein Bier bestellt. Ein Großes.

12.

Sie hat ihn nie unter dem Namen „Lommie“ gekannt. Den hatte er abgelegt, als er 26 wurde und die ersten Blätter von den Bäumen fielen.

Im dreizehnten Stock wanderte der Lichtkegel durch den Flur, als sich der Aufzug nach oben quälte.

Aber Lommies Kunstlederjacke mit Bandaufnähern hing heute noch im Schrank. P. hatte sich nie überwinden können sie wegzuwerfen. Genauer gesagt war ihm der Gedanke nie gekommen. Auch der Rucksack mit dem durchgestrichenen Hackenkreuz und weiteren Aufnähern („Satan, schütze mich vor den Christen!“) lag in einem Karton im Keller. Und P. wusste genau in welchem, verstaubt hin oder her.

Isabell war nicht bei ihm eingezogen, aber nur deshalb, weil er es nicht wollte. Sie würde seine Treffen mit den Jungs unterbinden und ihnen sagen, dass sie die Füße nicht auf den Tisch legen sollten! Bei dem Gedanken an solche Situationen erwachte Lommie wieder aus dem Schlaf, tippte P. von hinten auf die Schulter und schlug ihn brutal nieder.

Nein. Isabell, so wunderschön und so lieb sie auch sein mochte. Er wollte sie nicht im Haus haben.

Mit lautem Quietschen öffnete sich die Fahrstuhltür und offenbarte einen trapezförmigen Lichtschein auf dem Laminat im fünfzehnten Stockwerk. Irgendwo surrte ein Stromkasten und der Wind pfiff durch ein geöffnetes, oder kaputtes Fenster am Ende des Flurs. P. atmete tief ein und trat aus dem Fahrstuhl. Hinter ihm schloss sich die Tür und Dunkelheit umgab ihn.

 

Die Nacht war sternenklar und kühl. Der Wind zerrte an P.s Kleidung. Am Rand des Dachs gab es kein Gitter und keinen Zaun. Nur ein 15 Stockwerke tiefer Abgrund, der sich hinter der Kante auftat. P. hatte keine Höhenangst, aber je näher er auf die Kante zuging, desto mehr Ehrfurcht bekam er vor der Tiefe, den kleinen, runden Lichtflecken unter den Laternen auf der Straße und dem Zug, der in weiter Ferne über eine Brücke fuhr und wie eine brennende Raupe aussah, bis er in einem namenlosen Tunnel verschwand. Aber bis auf den Wind, der ein wenig Verkehrslärm von der Autobahn herüber trug, war es still.

Ein Schwarm dunkler Vögel zog über den schwarzen Himmel. P. blickte in die Tiefe, vorbei an 15 Fensterreihen auf den Betonboden.

Er schloss die Augen.

 

Neben ihm stand Lommie, der respektlos über die Kante blickte und schließlich P. ansah.

>Schiss?<, fragte er. Lommie hatte plötzlich Isabells Stimme. >Zieh deine Schuhe draussen aus, ich habe gerade gewischt.<

>Halt die Klappe.<, sagte P.. Dich gibt´s gar nicht.

>Sieh dich an. – Verraten und verkauft. Alles für den Arsch, Mann! Zwölf Jahre und was ist geblieben?!<

>Was haben mir die zwölf Jahre denn gebracht?<

>Und was haben dir die fünf Jahre gebracht, seit deine Überzeugung im Keller vergammelt? Was ist nur aus dir geworden? Dieses Bonzen-Flittchen schneidet dir die Eier ab und macht dich zum Sklaven, du Idiot.<

P. fühlte ein Kribbeln im Bauch. >Nenn´ sie nicht Flittchen!<

Lommie lachte laut. >Ich dachte schon, du sagst, „Nenn sie nicht Bonze!“!<

>Verpiss dich wieder in den Keller, Mann.<

>So einfach ist das nicht, P.! Was ist das überhaupt für ein Name?<

>Stimmt.<

Lommie sah ihn verdutzt an. >Was stimmt?<

>So einfach ist das nicht. Was glaubst du, warum ich hier bin?<

>Warum WIR hier sind!< Lommies langes, fettiges Haar wehte im Wind.

 

Hinter einigen Fenstern brannte Licht. Ein älteres Ehepaar, dass zusammen vor dem Fernseher saß, rauschte an ihm vorbei: Dann wieder der Boden, dann die Silhouette des Parks, der sich ein paar hundert Meter von hier erstreckte. Licht im Treppenhaus. Der achte, siebente, sechste Stock. Er verlor etwas aus seiner Tasche. Vielleicht seinen Hausschlüssel. Im zweiten Stock sah er einen Mann am Fenster stehen, der seinem Vater ähnlich sah und aus einem kleinen Loch im Kopf blutete. Aber er sah ihn nur im Augenwinkel. Vielleicht hatte er sich geirrt. Sicherlich. Als der Boden nur noch einen Meter entfernt war, dachte er „Bitte alle aussteigen.“ und prallte mit einem furchtbaren Geräusch auf den Betonboden.

 

Er öffnete die Augen, trat von dem Abgrund zurück und lächelte. „P. aus A., 31, tot aufgefunden.“, sagte er, als er den Fahrstuhl betrat und auf „E“ drückte.

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.01.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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