Dirk Huck

Ein Strauß voller Rosen

Über das berühmte "Rose of Tralee"-Festival in Irland

Wir sind im Irland Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie, Irin mit Namen Mary O'Connor, stammte aus ärmsten Verhältnissen. Ihr Vater war ein Schumacher, ihre Mutter eine Melkerin. Die Familie lebte im kleinen Ort Tralee in der Grafschaft Kerry im Westen Irlands. Doch Mary war auch wunderschön, mit langen schwarzen Haaren und sanften, strahlenden Augen.

Er, mit Namen William Mulchinock, war Sohn einer wohlhabenden englischen Familie, die im Ort Tralee reichlich Grundbesitz hatten. Während sich Williams Brüder nach dem Tod des Vaters um die Familien-Geschäfte kümmerten, widmete sich der eher träumerisch veranlagte William lieber dem Schreiben von Gedichten.

Die Mulchinocks wohnten auf einem prächtigen Anwesen. Sie hatten Diener, Kutscher, Gärtner und Farmarbeiter. Es ergab sich, dass Mary O'Connor als Kindermädchen im Hause der Mulchinocks arbeitete. Maria, Williams Schwester, schätzte es sehr, dass Mary intelligent war, ein freundliches Wesen hatte und sich so fürsorglich um die beiden Töchter Anne und Margaret kümmerte.

Der damaligen Etikette der Zwei-Klassen-Gesellschaft folgend, war der Kontakt zwischen den Herrschaften des Hauses und den Bediensteten auf das Nötigste beschränkt. Es dauerte daher einige Zeit, bis sich William und Mary zum ersten Mal zufällig begegneten. Doch als sie sich sahen, war es um die beiden geschehen. Es war Liebe auf den ersten Blick.

Fortan trafen sich die beiden häufiger und gingen gar zusammen zu Veranstaltungen im Ort. Williams Familie sah dies mit Unbehagen. Es schickte sich schlicht und einfach nicht für jemanden seines Standes, mit einem Dienstmädchen auszugehen. Zu groß war der gesellschaftliche Unterschied zwischen den beiden. Es durfte nicht sein.

Eines Abends, als William und Mary im fahlen Lichte des silbrig-glänzenden Mondes, vor dem nur der zarte Hauch eines Wölkchens vorüberzog, einen einsamen Spaziergang unternahmen, trug William Mary ein Lied vor, dass er speziell für sie geschrieben hatte. Darin heißt es:

Yet 'twas not her beauty alone that won me.
Oh no, 'twas the truth in her eyes ever dawning
That made me love Mary, the Rose of Tralee.

William fragte Mary, ob sie ihn heiraten würde. Doch Mary, wohlwissend um die unterschiedlichen gesellschaftlichen Stände der beiden, lehnte den Antrag traurigen Herzens ab. Für die beiden würde es keine gemeinsame Zukunft geben.

William war sehr geknickt. Es ergab sich ferner, dass er kurze Zeit später das Land eiligst verlassen musste. Er hatte an einer politischen Demon­stration teilgenommen, bei der es einen Todesfall gegeben hatte, für den man ihn verantwortlich machte. Schweren Herzens verabschiedete sich William von seiner Mary. Es war ungewiss, ob und wann sich die beiden wiedersehen würden.

William ging nach Indien, wo er als Kriegsberichterstatter arbeitete. Sechs Jahre später, im Jahre 1849 (als in Irland die große Hungersnot wütete), war es für William sicher genug, nach Tralee zurückzukehren. Die Sehnsucht nach seiner Mary hatte ihm keine Ruhe gelassen. Als er in Tralee eintraf, genehmigte er sich in einem Wirtshaus einen kleinen Drink, bevor er zum Haus von Marys Familie gehen würde. Während er an seinem Glas nippte und sich innerlich auf sein Wiedersehen mit Mary vorbereitete, zog draußen auf der Straße ein Trauerzug vorbei. Wer denn gestorben sei, fragte William den Wirt. Dieser antwortete, dass es eine junge Frau namens Mary O'Connor sei, die so lieblich und wunderschön gewesen war, dass man sie "the Rose of Tralee" nannte.

* * * * * * *
Hundert Jahre später, im Jahre 1959, setzten sich die Bewohner des Ortes Tralee zusammen, um zu beraten, wie man dem trostlosen und von Auswanderung geprägten Ort etwas mehr Leben einhauchen könne. Man griff die alte Geschichte um William und Mary auf (die beiden haben tatsächlich gelebt) und entwickelte das Konzept eines jährlichen Festivals, auf dem die "Rose of Tralee" gekrönt wurde. Dabei sollte es sich jedoch nicht um einen Schönheitswettbewerb im bekannten Sinne handeln, bei dem junge Damen mit wenig Bekleidung über einen Laufsteg wandern, ihren Wunsch nach Sicherung des Weltfriedens ins Mikrofon hauchen dürfen, und von überwiegend älteren Männern bewertet werden. Nein, die Rose aller Rosen sollte aufgrund ihrer Persönlichkeit, ihrer Ausstrahlung und ihrer Art und Weise im Umgang mit anderen ermittelt werden.
 
Das Konzept erwies sich als äußerst erfolgreich und verhalf dem kleinen Ort Tralee tatsächlich zu internationaler Berühmtheit. Alljährlich im August strömen aus allen Himmelsrichtungen die anmutigsten und lieblichsten Damen irischer Abstammung nach Tralee, um die Rose aller Rosen zu krönen. Heute ist das zehn Tage dauernde Spektakel ein nationales Ereignis, dessen Abschlusszeremonie etwa eine Million Zuschauer im Fernsehen und Internet verfolgen. Im Jahr 2009 jährte sich das Spektakel gar zum fünfzigsten Mal. Grund und Gelegenheit genug für mich, mir diese irische Institution im Fernsehen mal genauer anzusehen.
 
Die Auswahl der "Rose of Tralee" ist keine leichte Angelegenheit. Während der Tage des Festivals haben die Juroren Gelegenheit, sich mit jeder der Anwärterinnen zu treffen und Gespräche zu führen. Dabei geht es darum, wie sich die Damen präsentieren und von ihrer Umgebung wahrgenommen werden, welche Qualifikationen sie haben und welche bisherigen Errungenschaften sie vorzuweisen haben, die sie von der Norm abheben. Der Faktor körperliche Schönheit steht dabei nicht so sehr im Vordergrund, obwohl natürlich ein hübsches Gesicht mit einem strahlenden Lächeln für eine generell angenehme Erscheinung sorgen. Zu guter Letzt geht es auch um den "X"-Faktor, das gewisse Etwas, das eine Rose mitbringen muss. Die gekrönte Rose of Tralee wird nämlich ein Jahr lang als Botschafterin der irischen Kultur auf Weltreise gehen und die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Verpflichtungen wahrnehmen.

Den Höhepunkt erreicht das Festival mit der Finalrunde, in der sich jede Anwärterin ein letztes Mal den Juroren und erstmalig dem Millionenpublikum vor den Fernsehern präsentiert. Um jeder der zweiundreißig Rosen genügend Zeit einräumen zu können, findet die Abschlussveranstaltung an zwei Abenden statt, von denen der nationale TV-Sender RTE live und zur besten Sendezeit aus dem Dome in Tralee berichtet. Am Ende der Finalrunde geben die Juroren dann ihre Entscheidung bekannt.

Im Abendkleid kamen die Anwärterinnen auf die Bühne, um mit dem Moderator einen kleinen Plausch zu halten. So erfuhr man ein wenig über sie und konnte sich selbst ein Bild von ihnen machen. Es ist zwar keine Pflicht, aber es wird gerne gesehen, wenn die Damen auch eine kleine musikalische, künstlerische oder sonst wie interessante Darbietung geben. Und das sorgte für reichlich Unterhaltung.

Die "Rose of Texas“ zum Beispiel gab eine Riverdance-Einlage in Cowboy-Stiefeln, die "Rose of Sydney" sang das bekannte Lied "On Raglan Road“ und die "Rose of Dubai" sang "Song for Ireland" (was Vater und Mutter im Publikum zu Tränen rührte). Andere Rosen spielten zum Beispiel auf einer Tin-Whistle eine irische Melodie oder führten irischen Tanz vor. Die "Rose of Kilkenny" führte ein wissenschaftliches Experiment vor, bei dem der Moderator assistieren durfte. Und die "Rose of Toronto" brachte gar eine vier Meter lange Boa Constrictor mit auf die Bühne (und ich dachte immer, in Irland gibt es keine Schlangen), die sie auch noch dem armen Moderator um den Hals legte. "She is ... tightening up a bit...“ sagte er sichtlich nervös, als sich das Tier immer enger um ihn schlängelte.

Beim Smalltalk plauderten die Rosen aus ihrem Leben, erzählten von ihren beruflichen Ambitionen oder ihrem familiären Hintergrund, oder gaben einfach eine nette Geschichte zum Besten. Die "Rose of Waterford" zum Beispiel erzählte, dass sie sich erst vor Kurzem den Zeh gebrochen hatte. Zur Behandlung hatte sie einen irischen Landarzt aufgesucht. Dort hatte sie eine Nummer ziehen und warten müssen. Die Nummer vor ihr war ein Pferd gewesen, die Nummer nach ihr war eine Kuh gewesen...

Teilnehmen dürfen übrigens alle Damen, die nachweislich irischer Abstammung sind. Sie müssen aber nicht unbedingt in Irland leben. So gab es einige Rosen, deren Familie zum Beispiel vor langer Zeit nach Australien ausgewandert war, oder die Nachfahren irischer Einwanderer in Amerika sind. Andere leben derzeit zum Beispiel aus beruflichen Gründen in Dubai. Auch gab es eine "Rose of Germany“, die Tochter einer Irin und eines Deutschen. Sieh an.

Am Ende der Sendung gab es den spannenden Moment, als endlich verkündet wurde, welche denn nun "the Rose of all the Roses“ war. Siegerin wurde die "Rose of London“. Sie war sichtlich überrascht und völlig sprachlos. Und während sie unter großem Applaus (und feurigem Blick und erzwungenem Lächeln ihrer Mitstreiterinnen) und brav ins Publikum zurückwinkend aus der Halle schritt, vielleicht ahnend, was in den nächsten zwölf Monaten auf sie zukommen würde, wurde jenes Lied gesungen, das dem Festival seinen Namen gab: "The Rose of Tralee“, geschrieben von William Pembroke Mulchinock.
The pale moon was rising above the green mountains,
The sun was declining beneath the blue sea,
When I strayed with my love by the pure crystal fountain,
That stands in the beautiful Vale of Tralee.

She was lovely and fair as the rose of the summer,
Yet 'twas not her beauty alone that won me.
Oh no, 'twas the truth in her eyes ever dawning
That made me love Mary, the Rose of Tralee.

The cool shades of evening their mantle were spreading,
And Mary all smiling was listening to me.
The moon through the valley her pale rays was shedding,
When I won the heart of the Rose of Tralee.

She was lovely and fair as the rose of the summer,
Yet 'twas not her beauty alone that won me.
Oh no, 'twas the truth in her eyes ever dawning
That made me love Mary, the Rose of Tralee.

In the far fields of India 'mid war's dreadful thunders,
Her voice was solace and comfort to me.
But the chill hand of death has now rent us asunder,
I'm lonely tonight for the Rose of Tralee.

She was lovely and fair as the rose of the summer,
Yet 'twas not her beauty alone that won me.
Oh no, 'twas the truth in her eyes ever dawning
That made me love Mary, the Rose of Tralee.

Nachtrag: Die dritte Strophe hat William nachträglich hinzugefügt, nachdem er aus Indien zurückgekehrt war und vom Tod Marys erfahren hatte. William starb 1864 im Alter von nur 44 Jahren. Er ist auf dem Clogherbrien Friedhof in Tralee beerdigt, im Grab neben dem von Mary O'Connor.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.02.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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