Christiane Mielck-Retzdorff

Dämonen der Kindheit

 

 

Dämonen der Kindheit

 

Leon war aufgeregt. Er wußte, dass es heute passieren würde, und er freute sich darauf. Nein, er war eher neugierig, wie es sich anfühlen würde. Doch es schwanten auch Unsicherheit und eine diffuse Ahnung ihn ihm.

 

Erst vor wenigen Stunden hatte Anna ihn direkt gefragt und nach einigen hilflosen Ausweichmanövern, denen Anna souverän, aber auch liebevoll, begegnet war, hatte er die Peinlichkeit halb gequält, halb erleichtert ausgespukt:

„Ich habe noch nie ein Mädchen geküßt.“

 

Anna hatte nicht gelacht. Sie schwieg einen Moment und fragte dann:

„Möchtest du mich denn küssen?“

Die Antwort hätte ein überzeugtes Ja sein müssen, denn Anna war ein begehrenswertes und reizendes Mädchen, aber Leon war sich nicht sicher gewesen. Sein Zögern hatte sie jedoch als Schüchternheit gewertet und mitfühlend überzeugend dargelegt, dass das Küssen ganz einfach sei.

 

Nun war Leon mit seinem Auto auf dem Weg zu seiner Verabredung mit Anna, die von ihrem Zuhause aus weiter an einen kleinen Strand an der Elbe führen sollte. Er war sich bewußt, dass es mit 19 Jahren ungewöhnlich war, noch nie ein Mädchen geküßt zu haben. Anna, nur ein Jahr jünger als er, blickte da sicher auf größere Erfahrungen zurück. Sie würde ihm eine gute Lehrmeisterin sein. Doch irgendwie grauste es Leon vor diesem ersten Mal. Er tröstete sich halbherzig damit, dass es wohl allen Jungen so ging.

 

Leon mochte Anna sehr und war schon oft mit ihr ausgegangen. Sie teilen die gleichen Interessen für klassische Musik und Kunst, was in ihrem Bekanntenkreis sonst selten war. Etliche junge Männer hatten bestimmt schon Annas wegen Ausstellungen und Konzerte besucht und Begeisterung geheuchelt, um ihr Herz zu gewinnen. Aber spätestens nach den Veranstaltungen bewies ihre Schweigsamkeit ihr mangelndes Interesse.

 

Anna machte sich nichts aus oberflächlichen Vergnügungen. In Leon hatte sie einen Partner für intensive Gespräche und lange Spaziergänge gefunden. Doch trotz ihrer Intelligenz und Sensibilität war es ihr nie aufgefallen, wie wenig Leon von sich preisgab.

 

Natürlich hatte Anna schon Leons Familie kennengelernt, die ihr Einzelkind im Überfluß verhätschelte. Manchmal meinte Anna, in Gegenwart seiner Eltern ein beinahe diabolisches Blitzen in Leons Augen zu erkennen, doch er bestätigte ihr immer wieder, dass er seine fürsorglichen Eltern sehr liebte. Außerdem hatten sie gemeinsame Freunde aus der Schulzeit. Doch während Anna andere Menschen auch an ihren Gefühlen teilhaben ließ, blieb Leon  verschlossen, was seine tiefsten Gedanken anging. Annas Versuche dorthin vorzudringen, verfingen sich in allgemeinen Betrachtungen, so als wüßte Leon selber nicht, was sich in den Kammern seiner Seele befand. Sein Verstand baute sich wie ein Schutzschild vor seinen verborgenen Empfindungen auf und verbannte so auch die Dämonen seiner Albträume in das Unterbewußtsein.

 

Anna hatte sich hübsch, aber nicht aufreizend angezogen, und ging mit einem Lächeln, in dem sich auch eine gewisse Aufgeregtheit widerspiegelte, auf Leons Auto zu. So saßen sie zuerst auch stumm nebeneinander, während Leon seinen Wagen souverän durch den ersterbenden Feierabendverkehr lenkte.

„Wo fahren wir hin?“ fragte Anna.

 

„An den Platz an der Elbe, wo Du so gerne die Schiffe beobachtest“; antwortete Leon betont sachlich. „Ist das recht?“

„Natürlich“, sagte Anna fröhlich, „dort ist es auch sehr romantisch. Ich habe uns eine Flasche Sekt eingepackt und zwei Gläser. Hoffentlich bleibt sie bis dahin kühl.“

„Es ist ja nicht mehr weit“, beruhigte sie Leon, während sein Herz den Rhythmus zu verlieren schien und in seinem Kopf wirre Gedanken durcheinander schwirrten.

 

Anna hatte geradezu rührend an alles gedacht. Die leicht enthemmende Wirkung von Alkohol war ihr wohl bekannt und irgendwie würde es den ersten Kuß für beide einfacher machen.

„Wie absurd“, dachte Leon. „Zwei erwachsene Menschen zelebrieren einen Kuß, als wäre er ein außergewöhnliches Ereignis. Dabei küßten sich die Menschen doch andauernd.“

 

Leon lief ein Schauer über den Rücken. Etwas sagte ihm er müsse umkehren, diesen verdammten Kuß vergessen. Dann schalt er sich feige. Wie konnte er sich fürchten vor der zarten Berührung von Annas Lippen? Hatte er nicht schon manches Mal in ihrer Gegenwart ein zartes Begehren gefühlt? Warum wehrte er sich so dagegen? Er war doch ein ganz normaler Mann!

 

Sie hatten den Platz erreicht. Anna holte sogar eine Decke aus ihrem Rucksack, glättete sie auf dem Sand und ließ sich mit der Sektflasche und den Gläsern dort nieder. Die Elbe floß ruhig. Zwei Bugsierer geleiteten ein riesiges Containerschiff Richtung Hafen. Ein Vogel trällerte sein Abendlied unterbrochen von dem gelegentlichen Schrei der Möwen.

 

Leon setzte sich auch, öffnete die Flasche Sekt und goß ihnen ein. Anna rutschte ganz dicht an ihn heran und prostete Leon zu. Sie stießen ihre Gläser leise hörbar gegeneinander und Leon blickte Anna tief in die Augen. Beide tranken einen großen Schluck und sahen sich wieder an.

 

Anna stellte das Glas, ohne die Augen von Leon zu wenden, im Sand ab, wo es umfiel und der Sekt ein kleines Rinnsal bildete. Annas Gesicht bewegte sich ganz langsam auf Leon zu und ihre feuchten Lippen glänzten im Abendlicht. Leon schloß die Augen.

 

In diesem Augenblick erschienen vor seinem Geist lauter begehrliche Münder, die nach seinem Gesicht schnappten. Feuchte Küsse von rot bemalten Lippen bedeckten sein Gesicht. Pieksende Bärte bohrten sich in seine Wangen. Liebkosende Hände zerwühlten seine Haare. Spitze Finger zupften an seinen Ohrläppchen. Aus tausend Kehlen tönte es: „Ach ist der süß. Welch ein niedliches Kerlchen. Was für eine Zuckerschnute. Ein Knuddeljunge. Zum Küssen, der Kleine.“

 

All seine Tanten und Onkel knutschten an ihm herum, wie sehr er sich auch wehrte, strampelte, weinte und schrie. Sie konnten nicht genug von ihm bekommen. Immer weiter, immer weiter….Dann waren sie verschwunden.

 

Als Leon seine Augen öffnete, erstarrte er vor Entsetzen. Seine Hände klammerten sich um Annas Hals. Ihr lebloser Blick war zum Himmel gerichtet. In der Ferne ertönte eine Schiffssirene.

 

    

 

    

 

 

 

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