Klaus-D. Heid

Nachbarn

Malluschke lärmte wieder einmal im Treppenhaus herum.

Wie immer, wenn er sturzbetrunken nach Hause kam, verwechselte er das Treppengeländer mit irgendwelchen bösen Feinden, die er gnadenlos mit den Fäusten traktierte. Während er unbarmherzig auf das stählerne Geländer einschlug, fluchte er in einer Art und Weise, die jedem die Schamröte ins Gesicht trieb. In seinem Zustand kümmerte er sich nicht um die Kinder im Haus, die natürlich alle Malluschkes Tobsuchtsanfall mitbekamen.

Seit sieben Jahren ging das nun schon so. Immer das gleiche Spiel! Zuerst schlug er sich die Fäuste blutig, dann hämmerte er gegen seine Wohnungstür, bis ihm die arme Frau Malluschke die Tür öffnete – und anschließend setzte er an seiner Frau fort, was er mit dem Treppengeländer angefangen hatte. Seit sieben Jahren hörte ich nun schon Frau Malluschke schreien und betteln, er solle sie doch in Ruhe lassen. Sieben lange Jahre verfolgte ich die Leiden einer armen Frau durch die dünnen Wände meiner Wohnung und mehr als tausend mal habe ich mich gefragt, was diese Frau nur daran hindert, Malluschke zu verlassen.

Er hämmerte gegen seine Wohnungstür. Gleich würde Frau Malluschke ihm öffnen.

Warum tat sie das? Weshalb ließ sie ihn nicht einfach vor der Tür stehen, bis er sich ausgekotzt und ausgetobt hatte? Sollte er doch im Treppenhaus verenden! Was kümmerte es seine Frau noch? Sie wusste schließlich genau, was geschehen würde, sobald sie ihm öffnete.

Während Malluschke mit aller Macht versuchte, die Tür aufzubrechen, schrie er:

„Du blöde Kuh! Mach endlich auf! Ich kriege Dich schon noch...! Wenn Du nicht gleich aufmachst, schlage ich Dich windelweich...! Dreckstück von Frau... mach schon auf... Hörst Du nicht? Du sollst die Tür aufmachen! Ich bringe Dich um!“

Was ging wohl in diesem Moment in Frau Malluschkes Kopf vor. Sie musste eine Höllenangst haben! An Angst gewöhnt man sich nicht. Angst ist ein Gefühl, das beliebig lange gesteigert werden kann, bis es eines Tages...

Daran durfte ich nicht denken! Jemand wie Malluschke kannte keine Grenzen. Wenn er auf seine Frau einprügelte, war es ihm wahrscheinlich egal, ob sie hinterher tot oder lebendig war. In seinem Suff würde er nicht einmal registrieren, wenn sie mit gebrochenem Genick vor ihm lag. Die Spitzen seiner Stiefel ließen ihre Rippen brechen. Ihr Gesicht verwandelte sich in eine einzige blutige Masse. Unaufhörlich schlugen seine Fäuste gegen ihren Kopf. Unaufhörlich.

Die Tür wurde geöffnet. Wie immer!

Er hörte nicht auf, zu schreien.

„Jetzt bist Du dran, Schlampe...!“

Gleich begann Frau Malluschke, um Hilfe zu schreien. Sie würde solange schreien, bis er irgendwann von ihr abließ. So lange, bis er erschöpft in sein Bett fiel. Und seine Frau? Was würde sie tun? Ihre Sachen packen und dieses Stück Dreck verlassen? Ihn anzeigen? Würde sie ihn wegen Körperverletzung anzeigen?

Natürlich nicht. Morgen begann alles von vorne. Ein Wunder, dass Frau Malluschke noch einen einzigen heilen Knochen im Körper hatte. Seit Monaten traute sie sich nur noch aus dem Haus, wenn es bereits dunkel war. Sie trug immer ein Kopftuch, hatte die Haare so frisiert, dass sie ihr weit in die Stirn hingen und blickte niemals einem von uns Nachbarn direkt in die Augen. Ihr Blick blieb immer gesenkt.

Dieses Mal dauerte es fast eine volle Stunde!

Wie tat mir diese Frau leid! Was musste sie alles ertragen! Warum nahm sie nicht einfach ein Küchenmesser und rammte es diesem Schweinehund in den Bauch?

Ihr Schreie wurden leiser.

Malluschke musste von ihr abgelassen haben. Jetzt lag er vielleicht in seiner Kotze, die seine Frau auch noch beseitigen würde. Jetzt war der richtige Augenblick, Frau Malluschke! Bringen Sie dieses Schwein um! Er hat es nicht verdient, zu leben. Niemand verdient es, zu leben, der seine Frau misshandelt! Tun Sie es! Ich werde auch der Polizei genau berichten, was sich seit Jahren in Ihrer Wohnung abspielt. Ich verspreche Ihnen, dass ich meine Aussage machen würde, Frau Malluschke.

Keine Schreie mehr. Es war nun still in der Wohnung nebenan.

Ich konnte Malluschke schnarchen hören. Er lebte also noch. Er würde auch morgen noch leben. Gegen Mittag machte Malluschke immer seinen Gang in die Kneipe nebenan. Erst, wenn er kaum noch gehen konnte, kam er zurück.

Arme Frau Malluschke. Morgen alles von vorne. Wieder Prügel, Schläge und Schreie. Seit sieben Jahren immer das selbe Drama.

Was sagen Sie da?

Ich? Was habe ich damit zu tun?

Ich bin hier nur der Nachbar. Ich kann mich doch nicht einmischen, wenn sich ein Ehepaar streitet? Und die anderen Mieter im Haus? Warum tun die nichts? Warum gerade ich? Soll ich vielleicht meinen Nachbarn anzeigen? Mir tut er ja nichts! Wenn er mich angreifen würde, wäre das etwas anderes! Dann...

Tut er aber nicht! Es ist eine rein persönliche Sache zwischen Herrn und Frau Malluschke. Wäre ja noch schöner, wenn ich mich in jeden Streit einmischte, den ich hier mitbekam!

Meine Schuld?

Mitschuld?

Sind Sie wahnsinnig geworden? Wie bitte? Warum ich mir seit sieben Jahren wie ein Spanner die Qualen einer Frau reinziehe? Ich bin also ein perverser Feigling, der sich an dem, was er hört, aufgeilt?

Ihnen hat wohl noch nie jemand die Fresse poliert, was? Noch so ein Spruch und ich schlage Ihnen den Schädel ein! In diesem Haus herrscht noch immer eine gewisse Ordnung, an die ich mich halte! Hier kann nicht jeder jeden anzeigen, wenn es ihm in den Sinn kommt!

Sein Sie doch mal ruhig! Hören Sie das nicht? Was ist das denn? Polizei? In diesem Haus? Tatsächlich! Die kommen in unser Haus! Wegen Malluschke? Hab ich’s nicht immer gesagt? Der bringt uns allen nur Ärger, dieser Idiot!

Ich will mal mit dem Ohr an der Wand lauschen. Manchmal kann man so jedes Wort verstehen. Wenn ich Glück habe, erfahre ich, was er mit seiner Frau angestellt hat. Ist doch spannend, oder? Möchten Sie auch mal lauschen? Nein? Auch gut.

Hoffentlich klingeln die jetzt nicht bei mir. Ich habe jedenfalls nie etwas mitbekommen...

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